115
Christophers Mutter blickte auf, als eine zornige Bö die Wolken über der Stadt verteilte. Die Bäume beugten sich im Wind. Äste stürzten herab wie abgetrennte Gliedmaßen und blockierten die Straße. Sie riss das Steuer herum und fuhr scharf nach links durch einen Vorgarten. In den Bäumen hinter ihr verknäuelten sich Autos und behinderten den Konvoi der Verfolger. Sie überlegte fieberhaft. Sie musste zum Highway. Sie schaltete das Radio ein und suchte verzweifelt nach Verkehrsmeldungen.
»… einen starken Sturm in der Region um Pittsburgh …«
»… Bad Cat 3D
als Video, und man hat ratzkatz
das Passende für den Gabentisch …«
»… blue moon, I saw you standing alone …«
»… den Flüchtlingskrieg im Nahen Osten …«
»… Verkehrsnachrichten alle fünfzehn Minuten …«
»… Stau im Fort Pitt Tunnel. Ausgezeichnete Arbeit. Wir dürfen sie nicht entkommen lassen. Sie wollen zur Route 19. Also, Augen auf in der Nähe der Highschool, damit …«
Christophers Mutter wendete sofort und ließ die Highschool hinter sich. Irgendeine Strecke musste es doch geben. Sie musste sie finden.
»Sie sind umgekehrt«, meldete der Radiosprecher. »Sie fahren nicht mehr Richtung Highschool.«
Durch die Windschutzscheibe sah Christophers Mutter die Karawane der Verfolger auf den Chevy zurasen. Sie konnte ihnen nicht ausweichen.
»Mach die Scheinwerfer aus, Mom«, flüsterte Christopher matt.
»Was?«
»Keine Sorge. Ich sag dir, wo du hinmusst.«
Ohne lange zu fackeln, schaltete Christophers Mutter die Scheinwerfer ab.
Die Stimme des Radiosprechers knisterte. »Wir haben sie verloren. Vielleicht hören sie mit. Wechseln wir zum anderen Sender.« Das Radio verstummte.
Christopher schloss die Augen und beschrieb, was er sah. Christophers Mutter konnte es fast mit Händen greifen. Ein riesiges Labyrinth von Straßen voller Autos, die nach ihnen suchten wie die Gespenster in Pac-Man. Jerry, der sich das Blut von seinen Schürfwunden wischte. Und in ein Verfolgerfahrzeug einstieg. Wild entschlossen, sie zu finden. Und vor den Augen des Sheriffs zu erschießen.
»Jetzt links.« Christopher hustete Blut in seine Hand.
Christophers Mutter bog nach links. Dann scharf nach rechts. Was er auch verlangte, sie folgte blind seinen Anweisungen. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Meute aus dem Krankenhaus fiel allmählich zurück. Es funktionierte. Sie konnten es schaffen. Sie wandte sich wieder der Windschutzscheibe zu. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an den blauen Mondschein. Sie trat das Gaspedal durch, als sie in den Vorgärten und Einfahrten lauernde Hirsche bemerkte. Hinter Büschen und Bäumen. Bereit für ihren Einsatz.
Da sprang einer vor das Auto.
Sie stieg auf die Bremse, und der Pick-up geriet auf dem Schnee ins Schleudern. Christophers Mutter lenkte dagegen, bis der Wagen wieder stabil war. Dann jagte sie weiter Richtung Route 19. Wenig später sah sie die Auffahrt. Sie hatten noch eine Chance.
»Geradeaus, Mom. Schneller.«
Die Hirsche stampften durch die Gärten vor ihnen. Christophers Mutter drückte aufs Gas, um noch vor ihnen zur Auffahrt zu gelangen. Das Tempo stieg. Der Wind heulte. Auf einmal tauchten ringsherum auf der Straße Autos auf, die alle auf diese eine Kreuzung zuhielten.
Christophers Mutter stellte sich so heftig auf das Pedal, dass sie fürchtete, ihr Fuß könnte durch den Boden brechen. In voller Fahrt schossen sie auf die Auffahrt zu. Doch die Autos waren schneller und stießen in einer Explosion von Glas, Metall und Körperteilen zusammen.
Christophers Mutter bremste.
Die Fluchtroute war blockiert.
»Wohin jetzt, Christopher?«
Christopher schwieg.
»Wir müssen zum Highway. Wie fahren wir?«
»Der Highway ist weg«, sagte er.
Eine niederschmetternde Nachricht. Ohne den Highway war die Stadt praktisch eine Insel. Sie saßen in Mill Grove fest. Kates Gedanken rasten. Vielleicht kamen sie irgendwie über Landstraßen raus. Sie mussten es doch bloß zu einem Nachbarort schaffen. In Peters Township oder Canonsburg war es bestimmt besser.
icH werde ihn nie weglassen, kate.
Ohne auf die Stimme zu achten, fuhr sie weiter. Starker Schneefall machte die Straßen glatt wie Glas. Wo sie es auch versuchte, überall wartete ein unüberwindliches Hindernis. Ein verlassenes Auto. Ein umgestürzter Baum. Zu Parkplätzen umfunktionierte Straßen. Immer wieder gelangte sie auf die altbekannten Routen.
Sie fuhren zurück zu ihrem Viertel.
Zurück zum Missionswald.
icH werde ihn töten, kate.
»Wohin, Christopher?«
»Wir können nirgends mehr hin«, antwortete er schwach.
»Aber es muss was geben!«
Christopher berührte ihr Bein mit einer Hand, die glühte, als hätte er zweiundvierzig Grad Fieber. »Er wird mich nie weglassen, Mom.«
Die Hirsche galoppierten neben ihnen her wie Pferde mit unsichtbaren Reitern. Dutzende von ihnen sprengten durch die Gärten. Es waren zu viele.
Christophers Mutter wollte sich nicht mit dem Unvermeidlichen abfinden. Doch über kurz oder lang würden die Hirsche den Wagen überholen.
icH werde deinen sohn töten, katE.
Christophers Mutter bretterte zur Kreuzung. Vor ihnen brandete eine Stampede von Hirschen heran. Dutzende weitere attackierten sie von hinten.
Es gab keinen Ausweg. Es war vorbei.
Sie konnten nicht überleben.