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Im Rückspiegel sah Christophers Mutter, wie Mary Katherines Auto sich mehrfach überschlug und schließlich liegen blieb. Das Mädchen hatte sie vor den Hirschen gerettet.
Sie hatten noch eine Chance.
Sie drückte aufs Gas. In der Ferne ragte der Missionswald auf. Türen öffneten sich, und Dutzende von Briefkastenleuten strömten aus den Häusern auf die Straße. Kreischend.
»giiib iihhhhhm uuummmhh …«
Wieder schielte sie in den Rückspiegel. Die Briefkastenleute erklommen den Hügel. Sie kamen von überall. Verstopften sämtliche Straßen wie die Arterien eines Menschen vor einem tödlichen Herzschlag. Keine Straße war mehr frei.
Bis auf eine.
Der Monterey Drive.
Ihr fiel ein, wie sie im September mit der Immobilienmaklerin hier eingebogen war. Zum ersten Mal ein eigenes Haus. Endlich ein sicheres Zuhause für ihren kleinen Sohn mit einer ausgezeichneten Schule und guten Freunden. Ihr Blick glitt zu Christopher. Er war bleich wie ein Gespenst. Das Blut strömte ihm aus der Nase.
»Ich lasse nicht zu, dass sie dich kriegen«, beteuerte sie.
Sie richtete den Blick nach vorn auf den Missionswald. Wie ein riesiges Krebsgeschwür zogen die Wolken über den Himmel. Als wollte der Nebel sich die Erde zurückholen und sie im Hochwasser ertränken. Die ganze Welt wurde von ihrem Schatten verdrängt. Trotzdem galt Kates einzige Sorge ihrem Sohn. Für ihn war sie bereit, sich zu opfern, zu sterben und zu töten. Hauptsache, er blieb am Leben.
Sie gelangten zur Sackgasse. Sie stoppte den Wagen und nahm ihren kranken kleinen Sohn hoch wie eine Stoffpuppe.
Zu Fuß können wir entkommen.
Wir haben noch eine Chance.
Christophers Mutter hob ihn aus dem Wagen. Ambrose sprang von der Ladefläche und half dem Sheriff auf die Beine. Der Sheriff zuckte, als die Verletzung in seiner Seite sich wieder öffnete. Zu viert standen sie in der Sackgasse, und die Wolken rollten auf sie zu wie ein Schlachtschiff. So einen dichten Nebel hatte sie noch nie erlebt. In der Ferne tauchten Autos auf, deren Scheinwerfer auf die Straße strahlten wie geisterhafte Laternen. Garagentore öffneten sich. Am Horizont erschienen Briefkastenleute. Ihre stöhnenden Schreie wanderten durch die Straße wie Flüsterpost. Sie näherten sich in rasender Eile.
Sie waren umzingelt. In der Falle.
Nur der Weg in den Missionswald war noch frei.
Schnell flohen sie aus der Sackgasse. Über das Feld. Der wabernde Wolkendunst schimmerte im blauen Mondschein. Völlig undurchdringlich. Christophers Mutter hörte lauter werdende Stimmen. Menschen, die von allen Seiten in den Wald strömten.
»Wohin, Christopher?«
Ihr Sohn schlang die Arme fester um sie. Voller Angst. »Die Familie Collins hat ihr Auto beim Baugelände abgestellt. Mr. Henderson ist von Norden mit dem Arzt und Schwester Tammy in den Wald gegangen. Jerry ist gerade aus dem Auto ausgestiegen, das ihn mitgenommen hat. Jerry ist mit seinem Revolver in den Wald gerannt, Mom.«
Mit ihrem Sohn auf dem Arm hastete Christophers Mutter weiter. Ambrose und den Sheriff neben sich. In atemberaubendem Tempo jagten die Bäume vorbei. Sie sah nicht, wohin sie liefen. Doch sie wusste, dass Christopher es sah. All die Augen um sie herum. Hirsche. Waldgeschöpfe. Vögel. Der nette Mann hatte seine Augen überall.
Wenn sie entkommen wollten, brauchten sie ein Wunder.