118
Ambrose spähte durch die Strahlenkränze in seinen Augen. Vor ihm lag der gefrorene Pfad. Mit schweren Tritten polterte er über den Schnee. Etwas trieb ihn weiter. Schneller. Der Geruch nach Baseballhandschuhen. Die Stimme in seinem Kopf.
Mein Bruder ist vor fünfzig Jahren in diesen Wald gelaufen.
Ich kann meinen Bruder noch immer retten.
Der Nebel war wie von einer anderen Welt. Seine Sicht reichte keinen halben Meter weit. Doch der alte Soldat wusste, dass diese Tarnung in beide Richtungen wirkte. Wenn er sie nicht sehen konnte, konnten sie ihn auch nicht sehen. Nach einer Weile erahnte er vor sich die Silhouette eines laufenden Kindes.
Er wandte sich um. »Sheriff, sehen Sie das auch?«
Der Sheriff war verschwunden.
»Sheriff?« Ambrose bremste ab. Er hörte nur sein pochendes Herz. So genau er die Strahlenkränze in seinen Augen auch absuchte, er konnte nichts anderes als Nebel erkennen.
»Mrs. Reese? Christopher?«
Es blieb totenstill. Keine Spur von Mrs. Reese und ihrem kleinen Jungen. Irgendwie war Ambrose zu weit gerannt. Zu schnell. Er hatte sie verloren. Er war ganz allein. Plötzlich spürte er den Wind im Nacken.
»ammmmbrrrooose«, wisperte der Wind. »iiiich biiiin’s, daaaaavvvviiiid.«
»David?«
»jaaaaHaaaa.«
»Wo bist du?«
»hhhhiiiiieeeErrrrrr.«
Ambrose spürte einen eisigen Hauch auf der Haut. Der Wolkendampf tanzte wie der Rauch aus der alten Pfeife seines Vaters auf dem Pfad.
»hhhiiiillllffff miiirrr, ammmmbrrrooose«, flehte der Dunst.
Ambrose folgte der Stimme. Ringsumher nur Nebel. Und von irgendwoher ein Wispern. Da war jemand. Ganz bestimmt, er spürte es. Das leise Wispern an den Härchen in seinem Nacken.
Er hörte einen Schritt.
»sssssieeee kommmmennnnn, ammmmbrrrooose«, keuchte der Wind durch die Äste.
Wieder ein Schritt.
Ambrose ging schneller. Er schob sich durch den Nebel, und der Wind um ihn herum wurde lauter. Es klang, als atmete der Wald tief aus einer Lunge voller Farbe.
Noch ein Schritt.
Jemand kam direkt auf ihn zu.
Dann auf einmal verschwanden die Äste. Über ihm waren keine Bäume mehr. Nur noch der blaue Mond, der wie eine Laterne auf den Nebel in einer großen Lichtung leuchtete. Ambrose erahnte eine Bewegung. Die Umrisse einer Gestalt. Ein Hirsch vielleicht. Oder einer von diesen Leuten. Mit zusammengekniffenen Lidern spähte er durch die Strahlenkränze und verstand schließlich.
Ein kleiner Junge sauste an ihm vorbei.
»David!«, rief er.
Doch der Junge blieb nicht stehen. Es war nicht David.
Ein anderer Junge kam angerannt, der den ersten schreiend verfolgte. »Es gehört uns! Wir haben es gebaut!«
Die beiden sprinteten über die Lichtung. Vorbei an einem riesigen Schatten im Nebel. Er näherte sich ihm behutsam, dann begriff er, was er da vor sich hatte.
Es war ein Baum.
Sein Instinkt warnte ihn vor diesem Baum. Forderte ihn auf kehrtzumachen. Trotzdem marschierten seine Füße weiter. Auf die Stimme zu.
»iiiichhh biiiinnnn hiiiieeerrrr oooobeeeen«, heulte der Wind.
Er wusste, dass er vielleicht in einen Hinterhalt lief. Dass das wahrscheinlich nicht Davids Stimme war. Trotzdem zwang ihn etwas zum nächsten Schritt. Die Hoffnung, die ihm Christopher gemacht hatte.
Ich kann meinen Bruder noch immer retten.
Der Wind peitschte durch die Äste. Ambrose bemerkte die unscharfen Konturen einer Strickleiter, die anscheinend hinauf zu einem Baumhaus führte.
»hiiiilllllfffffeeee! hiiiilllllfffffeeee!«, wisperte die Stimme von oben.
Ambrose kletterte hinauf. Den Blick auf die Falltür gerichtet. Über ihm schimmerte ein Licht. Hinter dieser Tür konnte David sein. Irgendwo in diesem Baumhaus. Dann würde Ambrose endlich erfahren, was seinem kleinen Bruder damals zugestoßen war.
»hiiiilllllfff miiiiir, ammmmbrossssse!«, rief leise die Stimme.
Ambrose kam zum Baumhaus und kletterte durch die Falltür hinein. Unter ihm zog jemand an der Strickleiter. Kletterte kichernd herauf. Ambrose knallte die Falltür zu. Im Baumhaus war es stockfinster. Er konnte nichts sehen. Mit den Händen tastete er über die Wände, in der Hoffnung, auf eine Taschenlampe zu stoßen.
Plötzlich hörte er im Raum ein Atmen.
»ambbbbbrossse …«, wisperte eine Stimme aus dem Dunkel.
»David?«
Die Stimme blieb stumm.
Mit bebender Hand strich Ambrose an der Wand entlang. Schließlich entdeckte er etwas. Eine Erhebung aus Plastik. Es war ein Lichtschalter. Die Nackenhaare standen ihm zu Berge. Das konnte doch nicht sein. Wie kam ein Lichtschalter in ein Baumhaus?
»ambbbbbrossssse … wiiiiilllst duuuuuh essss wiiissssennn???«
Ambrose wandte suchend den Kopf in der Dunkelheit.
Der Wind hörte auf zu heulen. Und begann zu zischen. »wiiiiilllst duuuuuh seeeeeheeennn, woooo errrr iiissssst?«
Ambrose hatte plötzlich einen Kloß im Hals und schluckte schwer.
»duuuuu mussssst nuuurrr dassss lichchcht einschschaaaallltennn.«
Ambrose spannte sich an, das Gesicht heiß vor Grauen.
»schschaaaallt dasss lichchcht einnn, ammbbbbbrossssSe.«
Ambrose machte Licht. Er war nicht mehr im Baumhaus.