120
Christopher schloss die Augen. Er hörte nichts anderes als sein Schluchzen. »Wach auf, Mom. Bitte wach auf.«
Er drückte sich an sie und betete, dass sein Fieber warm genug war, um sie zu heilen. Wie durch einen Schleier nahm Christopher wahr, dass die Briefkastenleute weiter vorrückten. Einer nach dem anderen luden sie ihre Waffen.
»Bitte bleib«, wimmerte er. »Bitte bleib bei mir.«
Plötzlich zerrten ihn die Leute von ihr weg und drückten ihn an den Baum. Das waren keine Menschen mehr. Das war ein großer, zorniger Schwarm. Wütende Finger legten sich um Abzüge. Doch die Waffen zielten nicht auf Christopher. Sie zielten auf seine Mutter.
Christopher riss die Hand hoch. »LASST MEINE MUTTER IN RUHE!« Seine Stimme dröhnte über die Lichtung.
Die Briefkastenleute standen starr vor Schreck. Die schießwütigen Finger zögerten.
Auf einmal spürte Christopher ein leises Prickeln an den Haaren wie von einem statisch aufgeladenen Ballon. Entsetzt beobachtete er, wie Mrs. Henderson ruhig nach vorne trat.
»Was meinst du damit, Christopher?« Sie klang wie die Puppe eines Bauchredners.
Und es war nicht ihre Stimme.
Es war die Stimme des netten Mannes.
Als Nächstes ließ er Jenny Hertzog sprechen. »Verstehst du denn nicht? Es wird nie mehr aufhören.«
»Das ist die eWigkeit«, fuhr Brady Collins fort. »Sie tun alles, was ich will.«
Brady lief zu Christophers Mutter und ließ den Hahn seines Revolvers zurückschnappen. Doch bevor er abdrücken konnte, erstarrte er plötzlich.
Der ganze Mob skandierte nun gleichzeitig, die Fäden um die Lippen weit gedehnt. Jede Stimme gehörte dem netten Mann. Die Stadt war sein Megafon. Eintausend Lautsprecher. »So werden sie eWig weitermachen. Ich werde deine Mutter immer wieder töten lassen, und der Welt werden nie die Patronen ausgehen.«
Christopher spürte, wie sein Fieber stieg. Endlich verstand er, was es war. Was da unter seine Haut brodelte, war die Hölle. Dann bemerkte er Special Ed, der zusammen mit Mike und Matt durch die Menge kam.
Die drei sprachen wie aus einem Mund. »Deine Freunde sind in meiner Hand. Dein Baumhaus gehört mir. Schau selbst, was ich damit machen kann.«
Special Ed trat zum Sheriff und half ihm auf die Beine.
Die Augen des Sheriffs waren geschlossen, und er versuchte verzweifelt, sie aufzureißen, als er das Gesicht in Christophers Richtung wandte. »Bitte lass mich nicht mehr schlafen, Christopher. Immer wenn ich einschlafe, wartet sie auf mich, und ich kann sie nicht retten. Ich komme jedes Mal zu spät. Bitte, es muss aufhören. Ich ertrage es nicht, wenn sie wieder Daddy sagt.«
Der Sheriff wehrte sich, doch sein Körper war stärker. Gegen seinen Willen kletterte er hinauf zum Baumhaus. Zerklüftet wie ein schiefes Lächeln, tauchten kleine Kanthölzer im Stamm auf.
»Nein! Ich will nicht!«, brüllte der Sheriff.
Christopher konnte ihm nicht helfen, er kam nicht gegen die Menge an. »Nein! Aufhören!«
Die Gliedmaßen des Sheriffs bewegten sich wie die einer Marionette. Er gelangte ans Ende der Leiter und öffnete die Tür zum Baumhaus. »Bitte! Sie soll nicht wieder sterben!«
»Lasst ihn! Wachen Sie auf, Sheriff!«, rief Christopher.
Doch der Sheriff war völlig in sich versunken. Das Baumhaus leuchtete. Der Sheriff stieg hinein und schloss die Tür. Unmittelbar darauf hörte man seine Schreie.
Und dann wurde es still.
Nach einer Weile ergriff der nette Mann das Wort. Seine Stimme sirrte so scharf in Christophers Kopf, dass er es in den Zähnen spürte.
und wer isT jetzt dran?
Christopher beobachtete mehrere Einheimische, die auf seine Mutter zustapften. Wie Sargträger hoben sie sie hoch und beförderten sie zum Baum.
»NEIN!« Christopher kämpfte sich durch die Menge zu seiner Mutter vor.
Mr. und Mrs. Collins packten ihn an den Händen und zischten: »weißt du, was deine mutter beim aufwacheN sehen wird?«
»NEIN! DAS DARFST DU NICHT! BITTE!« Christopher riss sich los und rannte zu seiner Mutter.
Plötzlich warf sich Jerry auf ihn und rang ihn zu Boden. »sie wird zusammen mit jerry aufwachen. und ratE mal, was dann passiert.«
Christopher wehrte sich mit Händen und Füßen. Beißend und kratzend. Sein Fieber stieg.
»sie wird bemerken, dass jemand in der badewanne sitzT und sie beobachtet. dein vater. und er wird sich mit einem messer aus der wanne erheben.«
»DAS DARFST DU NICHT. NICHT MEINE MOM. BITTE!«
»aber er wird nicht sie
damit umbringen. er wirD dich
umbringen.«
Mehrere Briefkastenleute zerrten seine Mutter an den Haaren die Leiter hinauf. Sie baumelte am Stamm herab wie eine Taschenuhr.
»sie wird erleben, wie du stIrbst, und am nächsten morgen zusammen mit jerry aufwachen. sie wird bemerken, dass jemand in der badewanne sitzt und sie beobachtet. dein vater. er wird sich mit einem messer aus der wanne erHeben. aber er wird nicht sie
damit umbringen. er wirD dich
umbringen. sie wird erleben, wie du stIrbst, und am nächsten morgen …«
»NEIN!« Christopher lief zum Baum und umklammerte die Beine seiner Mutter. Versuchte, sie herunterzuziehen. Christopher sank auf die Knie. Er trieb in einem Meer der Schmerzen. Er konnte sie nicht halten.
Mike und Matt traten auf ihn zu. Liebevoll legten sie ihm die Hände auf die Schultern und öffneten im Gleichtakt mühsam die Münder. »christopheR. icH wilL dicH nichT mehR jageN. seiT zweitausenD jahreN wartE icH darauF, auS dieseM gefängniS herauszukommeN. entwedeR dU bringsT miR deN schlüsseL unD tötesT diE zischendE ladY, odeR icH behaltE deinE mutteR füR immeR alS meiN schoßhündcheN hieR. dU mussT dicH entscheideN. aM weihnachtstaG stirbT jemanD. entwedeR diE zischendE ladY odeR deinE mutteR. dU hasT diE …
wahL.«
Mr. und Mrs. Collins öffneten die Baumhaustür und trafen Anstalten, sie hineinzuwerfen.
»Okay! Aufhören! Ich mach es! Lasst sie los!«, schluchzte Christopher.
Nach kurzem Schweigen drang ein Wispern aus tausend Kehlen. »dankE, christopheR.«
Sanft ließen die Stadtbewohner Christophers Mutter zu Boden gleiten. Christopher schaute sie an. Sie wirkte so friedlich, wie sie da neben dem Baum lag. Nach allem, was sie durchgemacht hatte. Nach allem, was ihr das Leben angetan hatte.
Er kniete sich zu ihr und streichelte ihr die Stirn, wie sie es immer bei ihm gemacht hatte, wenn er krank war. Er nahm ihre Hand. Wenn es noch einen Puls gab, konnte er ihn nicht spüren.
»Mom, ich muss jetzt gehen«, sagte er leise.
Und da setzte das Fieber ein. Stärker als je zuvor. Die Nackenhaare standen ihm zu Berge. Sein Bauch wurde warm und knisterte vor Elektrizität. Überall an seinem Körper entbrannte das wispernde Kratzen. Für seine Mutter allerdings begann es nicht im Kopf oder in den Händen.
Es begann im Herzen.
Er schloss die Augen und drückte sie an sich. Das wispernde Kratzen zog durch ihn wie die Wolken am Himmel. Er roch das Wick VapoRub, das sie ihm auf die Brust rieb, wenn er erkältet war. Das Bier, das über die Eiswürfel strömte wie Mary Katherines Altarwein und das Blut aus seiner Nase.
Es gab keinen Unterschied mehr.
Christopher fühlte sich, als hätte er kein Blut mehr in sich, doch er wollte nicht loslassen. Und wenn es noch so wehtat. Alles, was noch in ihm war, sollte sie bekommen. Durch das wispernde Kratzen spürte Christopher die Kugel in ihrem Körper. Alle Hoffnungen und Ängste, die zu diesen Schüssen geführt hatten. Alle gebrochenen Versprechen und zerrütteten Existenzen.
Sein Fieber stieg. Christophers Kopf kreischte. Sein Schädel drohte in zwei Hälften zu zerspringen. Jetzt wusste er alles. Alles, was seine Mutter durchgemacht hatte. Alles, was sie je für ihn getan hatte. Er betrachtete ihr Leben, und da verstand er endlich das Gefühl, das ihn erfüllte.
Dieses Gefühl war kein Schmerz.
Es war Macht.
Er war allwissend. Er war allmächtig. Er war so nahe an Gott, wie es ein Sterblicher sein konnte. Er heilte ihre Rippen. Jeden Hohlraum. Jede Falte. Alle Schmerzen und Qualen liefen durch ihn hindurch und verschwanden in die Wolken.
Christophers Mutter schlug die Augen auf. Sie lebte. »Christopher«, flüsterte sie. »Was ist passiert?«
»Nichts, Mom. Alles ist gut.«
Er berührte sie weiter an der Brust. Stärkte ihre Lebenskraft. Sah all ihre Erinnerungen. Nicht nur als Tatsachen, sondern als Erlebnisse. Tränen. Wut. Selbsthass. Verborgene Narben.
»Mom, ich kann dir alle Schmerzen nehmen. Möchtest du das?«
»Was?«, fragte sie leise.
»Du musst nicht mehr leiden. Darf ich das für dich tun?«
»Ja, Schatz. Wie du willst.«
Er legte ihr die Hand zwischen Brust und Schlüsselbein. Zunächst passierte nichts.
Dann fing es an.
Sie schaute zu ihrem Sohn auf, dem ein roter Schwall aus der Nase strömte. »Was ist denn, Schatz? Hast du Nasenbluten?«
»Das wird schon wieder, Mom. Jetzt schau einfach zu.«
Instinktiv griff sie nach oben und wischte ihm das Blut vom Gesicht.
Lächelnd nahm er ihre Hand. Seine Wärme breitete sich überall auf ihrer Haut aus, dann zog ihr Leben an ihren Augen vorbei. Wie sie ihre Tränen verborgen hatte, damit ihr Sohn keine Angst bekam. Wie sie gelächelt hatte, damit er sich geborgen fühlte, und dann im Nebenzimmer die einunddreißig Dollar zählte, die sie noch übrig hatten. Alle Schläge, die sie für ihn eingesteckt hatte. Alles, worauf sie für ihn verzichtet hatte. Wie sie ihn ins Bett gebracht hatte und jeden Morgen eisern aufgestanden war, weil sie Christopher nicht im Stich lassen wollte, wie sie im Stich gelassen worden war. Jeden Augenblick, den sie mit ihrem Sohn verbracht hatte, durchlebte sie noch einmal.
Aber nicht aus ihrer Warte.
Sondern aus seiner.
Anfangs begriff sie nicht, doch als sie das Gefühl erkannte, liefen ihr die Tränen aus den Augen. Sie spürte endlich, wie es war, an erster Stelle zu kommen. Wie es war, von einem großen Menschen bedingungslos geliebt zu werden, der sie schützen und alles ins Lot bringen konnte. Sie war ihre eigene Mutter. Sie war geborgen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so ein Glück empfunden. Und es war mehr als Glück. Mehr als Geborgenheit. Es war das, was sie nicht mehr empfand.
Das Leid.
Es war verschwunden. Die Schuldgefühle. Die Angst. Das schlechte Gewissen wegen seiner Legasthenie. Wegen ihrer Armut. Wegen ihrer Lage. Alles wie weggeblasen. Kein Scheitern mehr. Sie sah sich nur noch durch seine Augen. Als Heldin. Allmächtig. Allwissend. Der wunderbarste Mensch aller Zeiten.
Ihr Sohn lächelte sie an, wie er es an ihren gemeinsamen Filmfreitagen getan hatte. Oder wenn er einen alten Streifen gut fand, den sie mochte. Wenn er ihr ein Buch schenkte. Wenn er ihr ein Bier on the rocks machte. Sie spürte ihr eigenes Lächeln. Ihre Umarmungen. Ihre Küche. Ihre Schönheit. Vor ihr erstreckte sich eine Ewigkeit von Augenblicken, als sie hinauf in das Licht von einhundert Milliarden Sternen schauten.
»Mom, das bist du.« Christopher schloss die Augen und gab seiner Mutter alles an Liebe zurück, was sie ihm je geschenkt hatte.
Sie war im Himmel.
Christophers Nasenbluten hörte auf. Er legte ihr eine warme Hand auf die Stirn, und sie rollte sich zusammen wie ein kleines Mädchen.
»Schlaf jetzt, Mom. Das ist alles bloß ein schlechter Traum. Morgen früh ist die Welt wieder in Ordnung.«
»Gute Nacht, Schatz.«
»Gute Nacht.« Christopher beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. »Ich werde niemals zulassen, dass dir jemand wehtut.«
Dann stand er auf. Christopher hatte all ihre Schmerzen in sich aufgenommen. Seine Gelenke schwollen an. Seine Knie knirschten. Seine Arme fühlten sich dünn an und schwach. Er wandte sich der Lichtung zu. Die Stadtbewohner starrten ihn mit ihren toten Reißverschlussaugen an. Der nette Mann hatte sie alle in seiner Gewalt. Nur seine Mutter nicht. Niemand war mehr übrig. Christopher war ganz allein.
Am ganzen Körper zerschunden, hinkte er zum Baum.
Die Briefkastenleute teilten sich vor ihm wie das Rote Meer. Hunderte von siedenden Fröschen, die nicht verstanden, weshalb sie sich auf einmal so schlecht fühlten. Christopher wusste, dass er seinem Tod entgegenging, doch er hatte keine andere Wahl. Er musste es tun. Für seine Mutter. Für alle. Er kam zum Fuß des Baums und kletterte die babyzahnartigen Kantholzstufen hinauf.
Christopher erreichte das Baumhaus.
Er öffnete die Tür und schaute hinein. Ein kleiner Raum, kalt und leer. Bloß der Sheriff und Ambrose lagen zuckend auf dem Boden und lallten in ohnmächtigem Grauen. Der Geruch war völlig verkehrt. Das Licht war zu hell. Etwas hatte sich verändert. Der nette Mann beherrschte jetzt die Pforte. Christopher hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, wenn er die Tür schloss. Er wusste nur, dass der nette Mann die zischende Lady nicht ohne ihn töten konnte.
Und dass Christopher der Einzige war, der das Vordringen der Hölle auf die Erde noch verhindern konnte.
Christopher schlüpfte in das Baumhaus und hielt den Schlüssel der zischenden Frau in seiner Tasche fest wie einen Glücksbringer. Noch einmal drehte er sich zu seiner Mutter um, die friedlich schlafend auf dem Boden lag. Das einzige Licht in der Welt.
»Ich liebe dich, Mom.«
Dann zog Christopher die Tür zu und betrat die Hölle.