122
Daddy.
Der Sheriff öffnete die Tür.
Er schaute in den Korridor eines alten Mietshauses. Kurz wunderte er sich. Er war sich sicher, dass er die Tür zum Baumhaus aufgemacht hatte. Und jetzt stand er auf einmal in diesem heruntergekommenen Gebäude. Mit einem schweren Knacken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Ping.
Am Ende des Gangs öffnete sich der Aufzug, und ein junges Paar trat heraus. Der Junge ungefähr sechzehn, das Mädchen siebzehn. Er schwarz. Sie weiß. Sie hatte ein Kind im Arm.
Das Baby weinte.
»Daddy!«
Der Sheriff stockte kurz, weil er das Gefühl hatte, schon einmal hier gewesen zu sein. Als wäre das alles schon einmal passiert. Schnell schüttelte er das Gefühl ab.
Er musste seine Arbeit erledigen.
»Entschuldigen Sie. Bei uns ist eine Meldung über einen verdächtigen Geruch aus Apartment 217 eingegangen. Wissen Sie, wer dort …«
Die beiden wandten den Blick ab und verschwanden ohne ein Wort in ihre Wohnung. Der Sheriff hörte, wie sie ihre Tür verriegelten. Knack. Knack. Knack. Leute, die nicht mit der Polizei reden wollten, waren für ihn nichts Neues, aber drei Schlösser hatte er seit seinem Umzug nicht mehr gehört. Ihn streifte ein mulmiges Gefühl.
Er ging zum Aufzug. Es war ein alter Fahrstuhl mit einer vergoldeten Anzeige. Wie die obere Hälfte einer Uhr.
Bloß dass der Pfeil darauf nach unten zeigte.
Anscheinend kaputt.
Der Sheriff drückte auf den Schalter und beobachtete, wie der Zeiger in der falschen Richtung durch den Halbkreis schwenkte.
Ping.
Die Tür öffnete sich. Aus dem Aufzug trat ein Paar in mittleren Jahren. Der Mann schwarz. Die Frau weiß. Sie hatten ihre Tochter dabei, die ein schönes weißes Kleid für die Kirche trug. Die Kleine weinte, weil sie etwas darauf verschüttet hatte. Es sah aus wie Traubensaft. Oder Blut.
»Daddy!«, rief sie.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Sheriff. »Bei uns ist eine Meldung über einen verdächtigen Geruch aus Apartment 217 eingegangen. Wissen Sie, wer dort wohnt?«
»Nein. Aber Sie wissen eS.« Die Mutter lächelte. Sie hatte keine Zähne.
Der Mann schob Frau und Tochter mit sanfter Hand in ihre Wohnung und verriegelte schnell die Tür. Knack. Knack. Knack.
Der Sheriff stellte sich in den Aufzug und drückte auf den Schalter zum einundzwanzigsten Stock. Die Tür schloss sich, und die Fahrstuhlmusik setzte ein. Blue Moon. Die Klänge lenkten ihn ein wenig von dem Geruch nach Urin und Fäkalien ab. Der Sheriff kannte Gestank nach Pisse und Scheiße in Wohnhäusern, doch das hier roch irgendwie eher nach Windeln. Von einem weinenden Baby.
Der Aufzug öffnete sich im einundzwanzigsten Stock.
Der Sheriff trat hinaus in den schummerigen Korridor. Flackerndes Licht. Abgewetzter Teppichboden. Apartment 217 lag ganz am Ende des langen Gangs.
Die Tür war angelehnt.
Der Sheriff beschleunigte seinen Schritt. Hinter allen Wohnungstüren kratzte es leise. Er lauschte nach den vertrauten Geräuschen von Hunden oder Katzen, doch er hörte nur dieses Kratzen. Und Atmen.
Dann stand er vor Apartment 217.
Er spähte hinein, alles war dunkel.
»Hallo. Hier ist der Sheriff. Bei uns ist eine Meldung über einen seltsamen Geruch eingegangen.«
Stille. Als der Sheriff die Tür öffnete, überfiel ihn ein Gestank, der den Geruch im Aufzug wie ein mildes Lüftchen erscheinen ließ. Süßer Rauch und Verwesung, vermischt mit verdorbener Milch. Würgend bedeckte der Sheriff sein Gesicht. Seine Augen tränten so stark, dass er wie durch einen Nebel blickte. War er nicht gerade noch in einem Nebel gewesen? Irgendwie kam es ihm so vor. Er konnte sich nicht erinnern.
Er knipste das Licht an.
Spähte in die kalte Küche. Auf dem Tisch ein Milchkarton. Mehrere Kakerlaken huschten davon. Eine Packung Cheerios und eine Schüssel.
Da bemerkte er die Frau.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten in einer Schüssel Frühstücksflocken. Die Leiche war aufgebläht und bereits in Verwesung übergegangen. In ihrem Arm steckte eine Nadel. Der Gürtel hing noch lose um ihre Schulter. Anscheinend war sie schon vor Tagen gestorben, ohne dass es jemandem aufgefallen war.
Außer dem Hund der Familie.
Der Sheriff stürzte auf die Tote zu und stieß den bis auf die Knochen abgemagerten Hund weg von ihren Beinen, die er in seiner Not angenagt hatte. Dann hob der Sheriff sie aus der Schüssel hoch und stellte mit einem Griff an den Hals fest, dass sie tatsächlich tot war.
Aus dem Schlafzimmer drang ein Geräusch. Quietsch. Quietsch. Quietsch.
Der Sheriff wandte sich um. Er hatte Gänsehaut am ganzen Körper. »Hallo?«
Der Sheriff ging zum Schlafzimmer.
Quietsch. Quietsch. Quietsch.
»Hallo?«
Langsam öffnete er die Tür. Er spähte ins Zimmer, und da sah er sie. Hände und Füße einzeln mit Krawatten an ein rostiges Bettgestell gebunden. Verwahrlost und völlig ausgehungert. Keine fünfundzwanzig Kilo schwer. Sie hatte so sehr an den Fesseln gezerrt, dass ihre Hand- und Fußgelenke mit Blut verkrustet waren. Nur Hände und Füße selbst waren noch sauber.
Das Mädchen mit den lackierten Nägeln.
Zuerst glaubte er an eine Entführung, doch ein altes Foto ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Tochter der toten Fixerin in der Küche war. Der Sheriff konnte sich leicht zusammenreimen, dass sie an Perverse verkauft worden war, um die Nadel im Arm ihrer Mutter zu bezahlen.
Sofort lief der Sheriff zu der Kleinen. Ihr Puls war schwach. Aber sie lebte noch! Er konnte sie retten! War er nicht schon mal hier gewesen? Er griff nach seinem Funkgerät. Er hatte keins dabei. Schaute sich nach einem Telefon um. Nichts. Keine Möglichkeit, den Notruf zu verständigen. Mit fliegenden Fingern band er ihre Hände los und bückte sich nach den Füßen. Plötzlich spürte er ihre kleine Hand auf dem Arm.
»Daddy?«, flüsterte sie.
Der Sheriff blickte auf und bemerkte im Fenster des Mercy Hospital den kleinen Charlie-Brown-Christbaum. Da stimmte etwas nicht. Sie waren doch in ihrem Zimmer. Oder waren sie hier im Krankenhaus? Wo waren sie?
»Daddy?«
»Nein, Liebes. Ich bin Polizeibeamter. Ich hab dich gefunden.«
»Das glaub ich nicht. Ich hab immer gewusst, dass du mich retten wirst, Daddy.«
Er band ihre Füße los und hob sie auf. Wie eine Stoffpuppe hing sie in seinen Armen. Er legte sie ins Krankenhausbett und deckte sie zu. Sie roch so warm und rein.
»Liest du mir eine Geschichte vor? Mir hat noch nie jemand was vorgelesen.«
Der Sheriff griff nach einer abgewetzten Ausgabe von »Rotkäppchen«, die jemand anscheinend vergessen hatte. Als er zu lesen begann, blickte das Mädchen hinauf zum stumm laufenden Fernseher. Sie fragte ihn, warum das Bild so klar war. Sie war nie aus ihrer Wohnung herausgekommen. Sie war nie zur Schule gegangen. Sie hatte nie gelernt, ihren Namen zu schreiben.
Das Morphin sickerte in ihren Arm.
Tropf. Tropf. Tropf.
Er kam zur letzten Seite der Geschichte. Was hast du für ein entsetzlich großes Maul.
»Daddy, kannst du mir ein bisschen Milch bringen?«
»Nein, Liebes«, antwortete er.
»Warum nicht?«
»Weil du dann stirbst.«
»Diesmal nicht, das verspreche ich.«
»Aber du musst das Ende der Geschichte hören. Du musst hören, dass der Wolf nicht gewinnt.«
»Bitte bring mir Milch, Daddy.«
Der Sheriff schaute in ihre großen Augen. Das Morphin fiel wie Regen auf einen spiegelglatten Teich.
Tropf. Tropf. Tropf.
Der Sheriff reichte ihr das Buch und ging hinaus in den Korridor. Schnell fand er eine Schwester und bat um einen Karton Milch. Während er wartete, fasste er einen Entschluss. Er war der erste erwachsene Mann, den die Kleine kennengelernt hatte, der sie nicht missbrauchte. Deswegen hielt sie ihn für ihren Daddy. Und warum sollte er nicht in diese Rolle schlüpfen? Er war kein Weltverbesserer, aber diesmal konnte er ein Unrecht geraderücken. Er konnte sie rechtzeitig zu Weihnachten nach Hause holen. Geschenke für sie besorgen. Sie adoptieren. Auch wenn sie viel durchgemacht hatte, sie war immer noch unschuldig. Das liebste kleine Mädchen, das ihm je begegnet war.
»Hier ist die Milch, Sir«, sagte die Schwester.
Der Sheriff schaute auf den Milchkarton. Auf Emily Bertovichs lächelndes Bild aus der zweiten Klasse.
Dann ging er zurück ins Zimmer. »Also, Liebes. Jetzt lesen wir noch die Geschichte fertig. Liebes?«
Das kleine Mädchen lag leblos auf dem Bett.
»NEIN!« Er stürzte ans Bett und nahm sie in die Arme. Er schrie nach der Schwester, doch niemand kam. »BITTE!« Er begann zu schluchzen.
Plötzlich fiel es dem Sheriff wie Schuppen von den Augen. Er war nicht zum ersten Mal hier. Das alles hatte er schon erlebt. In dieser Nacht war sie bereits fünfzig Mal vor seinen Augen gestorben.
»AUFHÖREN!«
Der Sheriff rannte zur Tür. Er wusste, was ihn als Nächstes erwartete. Wenn er hinaus in den Korridor lief, um einen Arzt zu rufen, der dem Mädchen helfen konnte, würde er das Mietshaus betreten. Das hatte er jetzt schon fünfzig Mal getan. Doch diesmal nahm er sich vor, sich daran zu erinnern. Christopher war in höchster Gefahr. Genau wie seine Mutter. Und Ambrose. Er musste ihnen helfen. Er musste schneller zu dem kleinen Mädchen gelangen. Diesmal musste er sie retten. Verschwinden von hier. Er konnte es nicht ertragen, sie noch einmal sterben zu sehen.
aber gotT ist ein mörder
Daddy
Der Sheriff öffnete die Tür.
Er schaute in den Korridor eines alten Mietshauses. Kurz wunderte er sich. Er war sich sicher, dass er die Tür zum Baumhaus aufgemacht hatte. Und jetzt stand er auf einmal in diesem heruntergekommenen Gebäude. Mit einem schweren Knacken fiel die Tür hinter ihm in Schloss.
Der Sheriff wandte sich um, weil er das Haus verlassen wollte, doch die Tür war verschlossen.
Ping.