125
Christopher stand mitten in der Sackgasse, den Schlüssel in der Tasche, und schaute den netten Mann an.
Er war so besonnen. So sanft. So geduldig und höflich. Keine erschreckende Fratze. Nur sein beruhigendes Lächeln mit den vollkommen weißen, vollkommen geraden Reihen von Babyzähnen. »Du musst bloß die zischende Lady töten, dann verspreche ich dir, dass alles gut wird.«
Christophers Blick folgte der Straße. Der Mann in der Pfadfinderinnenkluft wirkte glücklich und unschuldig.
»Ich will niemandem wehtun, Christopher«, fuhr der nette Mann fort. »Ich will nur meine Freiheit. Das ist alles.«
Der Mann in der Pfadfinderinnenkluft zerrte sich in die Büsche.
»Ich will aus diesem Gefängnis heraus, damit ich Gutes tun kann. Siehst du den Mann in den Büschen? Weißt du, was er mit einem kleinen Mädchen gemacht hat?«
»Aufhören!«, schrie der Mann in der Pfadfinderinnenkluft.
»Es war schrecklich. Und das weiß er jetzt. Ich möchte, dass die Bösen aufhören, den Guten zu schaden. Mehr will ich nicht.«
Die Briefkastenleute zogen stöhnend an ihren Nähten. Auf der Straße war es so laut. Aus dem Wald konnte Christopher nichts hören, trotzdem wusste er, dass die Einheimischen dort waren. Er konnte Mrs. Henderson auf der realen Seite spüren.
Sie weinte Tränen der Freude, als sie ihren Mann in der Küche bemerkte. Er war zu Hause! Ihr Mann war endlich nach Hause gekommen! Sie lief durch den Raum, um ihn in die Arme zu schließen. Und dann griff sie unwillkürlich nach einem Messer und stach ihn nieder. »NEIN! Er soll nicht mehr sterben! Er ist doch endlich zu Hause!«
Christopher blickte auf. Auf der Straße wurde es still, und die Augen des netten Mannes verwandelten sich in ein wunderschönes Grün. Er roch nach Pfeifentabak. Das war der Mann aus Christophers Erinnerung. Der Mann, der seiner Mutter ein Haus besorgt hatte.
»Was ist mit den Leuten aus der Stadt?«, fragte Christopher.
»Du willst die Menschen retten, die dir und deiner Mutter wehgetan haben?«
»Ja, Sir.«
»Einen wie dich wird es nie wieder geben.« Der nette Mann lächelte. Dann nickte er dem kleinen Jungen zu. »Sobald du mich befreit hast, kannst du auch sie befreien.«
Christopher schaute dem netten Mann in die gramerfüllten, weisen Augen. »Kann ich dir vertrauen?«
»Du musst mir nicht vertrauen. Du bist allmächtig. Allwissend. Du bist Gott hier. Du kannst jeden retten, wenn du willst. Doch damit die anderen weiterleben, muss jemand sterben. Entweder die zischende Lady oder deine Mutter. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Tut mir leid.« Sein Gesicht blieb reglos und ernst, nachdem er verstummt war.
Trotzdem erahnte Christopher die Gedanken, die Verstecken spielten. Der nette Mann würde nicht zulassen, dass Christopher sich umbrachte, so wie David. Christopher stand vor der Wahl.
Die zischende Lady oder seine Mutter.
Christopher wandte sich der zischenden Lady zu, die als gefesseltes Bündel in seinem Garten knapp vor der Straße lag. Sie keuchte wie ein angefahrener Hirsch.
»Es tut mir leid.« Christopher setzte sich in Bewegung.
Sie schrie in ihren Banden. Verängstigt. Zusammengekrümmt vor Schmerz. »NEIN! NICHT! AUFHÖREN!«
Christopher trat auf den Rasen und packte die zischende Lady.
»DU BIST NICHT AUF DER STRASSE!«, rief sie.
Christopher spürte das Schicksal der Welt, als er sie festhielt. Sie sträubte sich, und er fühlte ihre Qualen. Die Qualen der ganzen Welt. Die vielen Versuche der zischenden Lady, ihn zu verjagen. Sie war schon seit Ewigkeiten hier. Sie war erschöpft. Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Christopher zog sie zur Straße.
»NEIN! NEIN!«
Die Straße erwachte wie eine heiße Bratpfanne. Der Mann in der Pfadfinderinnenkluft zerrte sich in rasendem Tempo in die Büsche. Die Knutschenden küssten sich immer fester, bis sie anfingen, einander zu fressen. Die Frösche kamen nicht aus dem Topf heraus. Der Asphalt war heiß wie einhundert Milliarden Sonnen. Wie einhundert Milliarden Söhne. Brennend.
»DU DARFST IHM NICHT HELFEN!«, flehte sie.
Christopher bemerkte eine Spiegelung in ihrem Auge. Verzweifelt suchend rannte sie durch den Wald. Bis sie David Olson verscharrt in der Erde entdeckte. Mit bloßen Händen grub sie ihn aus und hielt ihn in den Armen. David hatte Todesangst. Sie beschützte ihn. Gab ihm zu essen. Zeigte ihm, wo er sich verstecken konnte. Wo er schlafen, wo er sich waschen konnte. Seit fünfzig Jahren waren sie zusammen. Sie war seine Hüterin. Auf dieser Seite war David ihr Sohn.
»Wer bist du?«, fragte Christopher.
»DU BIST NICHT AUF DER STRASSE!«
»Bitte sag mir, wer du bist.«
»DU DARFST IHM NICHT HELFEN!« Ihre Worte waren kaum mehr verständlich.
Christopher zog sie zum äußersten Rand des Rasens. Die Straße war nur noch wenige Zentimeter entfernt. »Du musst es mir verraten!«
Sanft fasste sie nach seiner Hand. Sie fand keine Worte mehr. Die Folter hatte sie ihr ausgetrieben. Trotzdem empfand er etwas. Er wandte sich um und sah sein Viertel mit ihren Augen. Nicht wie es heute war. Wie es vor zweitausend Jahren gewesen war, als hier noch niemand lebte. Keine Häuser. Nichts als Ruhe und funkelnde Sterne an einem klaren, unverschleierten Himmel. Die Wolken rein. Dann wurde die Welt in einem Wimpernschlag erwachsen, und die Menschen verbreiteten sich über die Kontinente wie Baumwurzeln.
Gott hatte einen Sohn, der auf der Erde diente.
Die zischende Lady schaute ihn an. In ihren Augen blitzte ein Schein der Erkenntnis.
Aber Er hatte auch eine Tochter.
Christopher hielt ihre Hand und spürte das Fließen der Wahrheit durch seine Haut wie Elektrizität.
Und sie kam ebenfalls hierher, um zu dienen.
Christopher nahm ihren Schmerz wahr. Mit letzter Kraft. Die Wärme verließ seinen Körper.
Geschrumpft und leer stand er auf und wandte sich dem netten Mann zu. »Nein.«
Der nette Mann musterte ihn gelassen. »Was HaSt du gesagt?«
Christopher schwieg.
Der nette Mann trat auf ihn zu. »Das Baumhaus hat dich zu Gott gemacht. Diese Macht habe icH dir verliehen, um sIe zu töten. Und jetzt willst du dich weigern?«
Er lächelte freundlich, doch seine Babyzähne ähnelten auf einmal Giftzähnen. »Das würde ich dir nicht raten, Christopher. Ich kann auch andere Saiten aufziehen.« Er nahm Christopher in eine warme, väterliche Umarmung.
»Nein!«, wimmerte die zischende Lady hilflos.
Lächelnd musterte er Christopher wie einen sezierten Frosch. »Du glaubst, diesen Ort zu kennen, mein Sohn. Aber du irrst dich. Weißt du, wie die Fantasiewelt ohnE meinen Schutz aussieht?« Wie Risse in ausgedörrter Erde zogen die Falten des netten Mannes von den Augen über sein ganzes Gesicht, als der Zorn durch seine Adern brandete. »sO siehT eS hieR iN wahrheiT auS!«
Entsetzt beobachtete Christopher das Auflodern mordlustiger, blutrünstiger Seelen in den Wolken. Die Wolken verzerrten sich zu den Gesichtern der Verdammten. Die Leute dort riefen nicht: »Aufhören!« Sie riefen: »Mehr! Ich will mehr!«
»icH werdE dicH beI deN wirklicH böseN leuteN herumreicheN unD ihneN sageN, dasS dU eiN geschenK deS himmelS bisT. icH werdE ihneN befehleN, dicH zU folterN, biS dicH nichT einmaL mehR gotT erkennT. unD deinE mutteR darF ihneN dabeI zuschaueN.« Mit grausam geschürzten Lippen starrte der nette Mann Christopher an.
Der kleine Junge nahm das verschiedenfarbige Glühen in seinen Augen wahr. Geschmolzene Berge. Kriege, die sich immer mehr ausbreiteten und endlos tobten, ohne dass jemand starb. Die Menschen würden sich gegenseitig niedermetzeln und trotzdem nicht verhindern können, dass sich immer mehr von ihnen auf der Erde drängten wie Vieh in einem Zug. Die Tür verriegelt. Das brennende Fieber unter der Haut. Ewig.
»icH habE diR diE machT gotteS verlieheN, uM siE zU töteN. setzE siE eiN unD holE micH hieR rauS!«
»Ich kann die zischende Lady nicht töten, Sir. Ich habe die Macht nicht mehr.«
»waS?! waS hasT dU damiT gemachT?«
»Ich habe sie verschenkt, damit du sie nicht benutzen kannst«, erwiderte Christopher trotzig.
»wO isT siE?!?!?! wO hasT dU siE versteckT?«
»Ich hab sie nicht versteckt. Ich habe sie jemandem gegeben, der dadurch stärker geworden ist als du.«
Der nette Mann lachte. »stärkeR alS icH? weR solL daS seiN? gotT?«
»Nein, Sir. Gottes Mutter.«
Der nette Mann stockte, weil er hinter sich eine Gegenwart spürte. Er drehte sich um und sah sie.
Christophers Mutter.
In ihren Augen leuchtete das Licht von einhundert Milliarden Sternen. Ihre Stimme dröhnte wie Donner.
»LASS MEINEN SOHN IN RUHE!«