128
Der Sheriff spürte, wie ihm das Blut durch die Schläfen rauschte. Das Mädchen mit den lackierten Nägeln lag tot vor ihm in ihrem Bett. Eilig wandte er sich zur Tür, um einen Arzt zu holen, wie er es schon hundert Mal getan hatte. Ein Hamster auf einem Rad, der einer Vergangenheit davonlaufen wollte, die immer direkt vor ihm lag. Er war nie auf die Idee gekommen, dass er gar nicht laufen musste.
Bis jetzt.
»Du bist jetzt frei.«
Er wusste nicht, wo die Stimme herkam. Doch da war sie in seinem Kopf wie ein Keim in der Erde. Der Sheriff blieb stehen. Er drehte sich um, ging zurück zum Krankenhausbett und schaute sie an. Das Herz im Hals. Er kniete sich hin. Ein bärenhafter Mann, der sich auf einmal ganz klein fühlte. Der Sheriff schloss die Augen und drückte das Kind an sich wie ein Vater. Hinter seinen Lidern tanzten Lichter.
Als der Sheriff die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf das Mädchen mit den lackierten Nägeln. Nur war sie kein kleines Mädchen mehr. Sie war eine erwachsene Frau. Um die dreißig vielleicht. Mit leuchtenden Augen und einem warmen Lächeln. Sie trug einen weißen Krankenhauskittel. Und sie hielt ein Baby in den Armen. Das kleine Kind schlief.
»Wo sind wir hier?«, fragte der Sheriff.
»Im Mercy Hospital«, antwortete sie. »Du bist Großvater.«
»Wirklich?«
Sie setzte ein geduldiges Lächeln auf. In ihren blauen Augen funkelte es. Kleine Lichtflecke in ihrem eigenen Universum. »Weißt du nicht mehr? Du hast mir die Milch gebracht und die Geschichte zu Ende vorgelesen. Hast mich mit nach Hause genommen zu meinem ersten richtigen Weihnachten. Bist mit mir weggezogen aus der Stadt, damit ich in Sicherheit bin. Ich bin in dem kleinen Haus in Mill Grove aufgewachsen und auf eine echte Schule gegangen. Ich habe bei den Schulaufführungen mitgespielt. Nach der Highschool habe ich an der Pittsburgh University studiert. Bei meinen Abschlussfeiern hast du jedes Mal geweint. Du hast mich zum Altar geführt. Und bei meiner Hochzeit haben wir miteinander getanzt. Erinnerst du dich nicht?«
Sie hakte sich bei ihm ein. Ihr Arm war warm und weich. Wie der eines Engels.
»Doch«, sagte er. »Jetzt erinnere ich mich wieder.«
»Dann weißt du auch, wie ich dir erzählt habe, dass du bald Großvater wirst. Und dass es ein Junge wird. Und dass mein Mann und ich beschlossen haben, ihn Bobby zu nennen … nach dem Mann, der mir das Leben gerettet hat.«
Der Sheriff betrachtete seinen friedlich schlafenden Enkel. Die Erinnerungen eines ganzen Lebens durchströmten ihn. Das ganze Leben, das ihr nicht entgangen war. Von dem sie jeden Tag ausgekostet hatte. Ewig. Der Sheriff schaute seine Tochter an.
Lächelnd legte sie die Hand auf seine. Langsam strich sie über die Stelle, wo er sich bis zum Knochen aufgekratzt hatte. Im Nu war das Jucken verschwunden. Die Haut war verheilt.
»Gott ist kein Mörder, Daddy.«
Der Sheriff nickte und spürte die Tränen auf seinem Gesicht. Er hatte nicht gemerkt, dass er weinte. »Kann ich hier bei dir bleiben?«
»Noch nicht, Daddy. Du musst erst noch dein Leben führen, bevor du in deinen Himmel kommst.«
Schluchzend hielt der Sheriff ihre Hand.
»Wir brauchen deine Hilfe, Daddy. Wir sind im Krieg. Und diesmal müssen die Guten gewinnen. Du musst jetzt aufwachen. Und ihr helfen. Sie ist gleich neben dir. Du musst die Augen aufmachen.«
»Die sind doch offen.«
»Nein, Daddy. Ich bin hinter deinen Lidern. Du musst deine Augen aufschlagen.«
Langsam griff der Sheriff nach oben und fühlte den Reißverschluss an seinen Lidern. Den Faden, mit dem sein Mund zugenäht war. Und die Schnur in seiner Hand.
»Lass die Schnur fallen. Sie steht gleich neben dir. Rette sie.«
Lächelnd nickte der Sheriff seiner Adoptivtochter zu. Er ließ die Schnur fallen und zog den Faden aus dem Reißverschluss an seinen Augen.
»Du bist jetzt frei.«
Der Sheriff schlug die Augen auf. Seine echten Augen. Er war im Wald. Tausende von Briefkastenleuten reihten sich nach beiden Seiten bis zum Horizont. Alle stöhnten und zuckten. Auf der Suche nach einem Weg in die Freiheit. Er wandte sich nach rechts und rechnete damit, Kate Reese zu sehen.
Stattdessen entdeckte er ein kleines Mädchen mit versiegelten Augen und Lippen. Er kniete sich nieder und nahm ihr sanft die Schnur aus der Hand. Er entfernte die Nähte an ihrem Mund und den Reißverschluss an ihren Augen. »Ich bin Polizist, Liebes. Ich helfe dir.«
Das kleine Mädchen öffnete die Augen und fiel ihm weinend in die Arme. Der Sheriff drückte sie an sich. Dieses kleine Mädchen hätte er überall erkannt.
Sie hieß Emily Bertovich.
Sie klammerte sich an ihm fest, und die Wärme ihrer Hände durchströmte ihn. In Sekundenbruchteilen entfalteten sich die Bilder vor ihm. Der Mann, der sie aus der Einfahrt holte. Ihre Angst. Der Schmerz. Der Ort, wo ihre Leiche vergraben war. Und nun endlich der Frieden.
»Kannst du das alles meinen Eltern sagen?«, fragte sie.
Der Sheriff nickte, die Augen tränennass. »Ja, Emily. Du bist jetzt frei.«