Epilog
Der nettE manN spähte aus dem eiskalten Garten durch das Küchenfenster. In diesem Moment empfand eR so viel Hass, dass eR es nicht für unmöglich hielt, die Tür einzutreten und beide umzubringen. eR stürzte los und rammte die Tür.
»lassT micH reiN! lassT micH reiN!«
Stille. Immer wieder warf er sich gegen die Tür, bis seinE Hände blutig und zerschunden waren. Doch niemand hörte ihN. eR war der Baum mitten im Wald. eR konnte nur zuschauen, wie die Sternschnuppen über den Himmel zogen. Jeder Stern eine Sonne. Jede Sonne eine Seele. Ein Moment, dann waren alle Sterne verschwunden. Alles Licht erlosch.
Und eR war allein.
Auf einmal packte den netteN manN ein tiefes Grauen.
eR erkannte, dass eR das schon hundert Milliarden Mal erlebt hatte.
Die Gesichter änderten sich, doch das Ende blieb immer gleich. Gott hatte ihN allein gelassen. eR musste einen Ausweg aus dieser Falle finden. Das unermessliche Universum vor Augen, sah er nichts anderes als eine zwei mal zwei Meter kleine Zelle. eR ließ den Blick über ihrE weißen Wände gleiten, ohne zu erkennen, dass eR als Einziger eine Schnur hielt. eR wäre niemals auf die Idee gekommen, nach dem Reißverschluss über seineN Augen zu tasten. eR würde nie die Naht an seineM Mund spüren.
»Du bist jetzt frei«, sagte eine Stimme.
Doch eR hörte sie nicht. eR konnte nur in seineM einsamen Kerker sitzen. Die Stadt beobachten. Ausschau halten nach dem nächsten Kind.
eR schritt durch die Lichtung.
Noch immer erwachten die Frösche aus ihrer Apathie. Benommen starrten sie auf seiN brennendes Baumhaus. Rauch stieg auf und verschwand in den …
Wolken.
eR wusste, dass manche dieses Erlebnis als Albtraum abtun würden. Andere würden sich zum Vergessen zwingen. Doch eR würde immer bleiben. In ihren Ohren. In ihren Träumen.
»mrS. hendersoN … psst … mrS. hendersoN …«
seiN Wispern war so nah am Ohr der alten Dame, dass sie seineN Atem für einen Lufthauch hielt. Sie kratzte sich, ohne ihN zu hören. Sie war zu sehr auf ihren Mann konzentriert, der den Baum betrachtete und die Hand seiner Frau hielt. Nach dem Ende dieses Albtraums wollte er sie nur noch zu einem Wochenendausflug entführen. Zum Glück hatte sie schon einen Koffer gepackt.
»Jenny, meiN schatZ. scotT isT immeR nocH dA. ertränkeN wiR ihN iM hochwasseR.«
Jenny hörte ihN nicht. Sie lag sicher in den Armen ihres Vaters, weit weg von ihrem Stiefbruder. Sie nahm sich vor, Scott bei der Polizei anzuzeigen, weil sie Gerechtigkeit verdient hatte und nicht mehr schweigen wollte. Sie wusste nicht, dass Scott später am Abend alles dem Sheriff gestehen würde. Nur so konnte er verhindern, dass er immer wieder in diesem Bach ertrank. Im Hochwasser.
»bradY … brinG dieseN jungeN uM … höR auF grandmA.«
Brady Collins war so in ein Gespräch mit seiner echten Großmutter vertieft, dass er die Stimme nicht beachtete. Lynn Wilkinson entschuldigte sich bei ihrer Tochter dafür, dass sie nicht gegen ihren verstorbenen Mann eingeschritten war, und Mrs. Collins versprach ihrem Sohn, ihn nie wieder in die Hundehütte zu schicken.
»eddiE … pssT … eddiE … höR auF grandmA …«
Special Ed rieb sich kurz übers Ohr, dann ließ er sich weiter überschütten mit Küssen und Versprechen, die nicht nur Kuchen und Torten betrafen, sondern auch ein Dauerabo für die Kabelsender HBO und Showtime in seinem Zimmer. Später am Abend wollte er die Pistole seines Vaters zurück in den Koffer legen. Dann würde er unter die Bettdecke gleiten und den Baum mit dem krank grinsenden Ast anschauen. Der Baum würde ihm Angst machen, und er würde zum Zimmer seiner Mutter schleichen und feststellen, dass sie wieder im selben Bett schlief wie sein Vater. Special Ed würde sich zwischen sie legen und von seiner Großmutter träumen. Von seiner echten Großmutter, die ihn lobte.
»Ich bin so stolz auf dich, Eddie. Du hast den Krieg gewonnen.«
Der nettE manN stapfte durch die Lichtung und wurde immer wütender, als andere Kinder von ihren Familien begrüßt wurden. Mike und Matt wurden von ihren Müttern in die Arme geschlossen. eR wusste, dass die Zwillinge zusammen aufwachsen würden. Sie würden immer füreinander da sein. Matt würde seinen Bruder nie aus dem magischen Auge verlieren. Niemand würde je wieder einen Keil zwischen die M & M’s treiben.
»höR miR zU …«
Wispernd erzählte eR Ms. Lasko von dem herrlich beschwipsten Schmetterlingsgefühl auf ihrer Haut, doch sie brauchte es nicht mehr. Damit blieb mehr MerLOT für Schwester Tammy übrig, die sich vage erinnerte, bei der Arbeit eingeschlafen zu sein, bevor sie mitten im Nirgendwo mit dem Arzt erwachte, der auf einen von der Grippe verursachten Fiebertraum schloss. Sie rief ihren Vater an und versprach ihm, den Weihnachtsbesuch nachzuholen, sobald sie und der Doktor der Stadt wieder auf die Beine geholfen hatten. »Ist das dieser attraktive Arzt, von dem du ständig redest?«, frotzelte ihr Vater. »Lass die Witze, Dad.«
»höR miR zU!«
eR schrie ihnen in die Ohren, doch sie kratzten sich nur kurz und schlossen den Frieden, den sie brauchten. Jill und Clark kehrten nach Hause zurück. Die alte Dame zog wieder in die Blockhütte. Später am Abend würde sie in ihrer Dachkammer sitzen und die herrlichen Sterne betrachten, die wie Sonnenschein über dem Ohio River funkelten. Ihr Mann würde sie mit einem Wink zu sich ins Wasser rufen, damit sie ewig zusammen sein konnten. Bald würde sie wieder mit ihm vereint sein. Er war so ein hübscher Junge.
»jerrY! gleicH fickT siE deN sherifF, jerrY. diE schlampE lachT dicH auS!«
Doch selbst Jerry war nicht mehr in seineR Reichweite. Nachdem eR Hölle und Erde in Bewegung gesetzt hatte, um ihn herzulocken, kam von Jerry bloß ein einziger windelweicher Satz.
»Mach’s gut, Kate.« Jerry nickte Christopher zu. Dann nahm er seinen Casinogewinn und fuhr zurück nach Michigan. Zurück zu Mustang Sally.
»trotzdeM isT gotT eiN mördeR, sherifF. gotT wirD diE fraU töteN, diE dU liebsT …«
Der Sheriff schaute Kate Reese an, die mit Blut und Schlamm verschmiert war. Für ihn war sie die schönste Frau der Welt. Er wusste, dass ihre gemeinsame Zeit nicht unbegrenzt war, deswegen wollte er nicht eine Minute vergeuden. Er wollte Erinnerungen mit ihr. Er wollte ein Kind mit ihr. Er wollte für den Rest seines Lebens jedes Weihnachten und jeden Feiertag mit ihr und Christopher verbringen.
»eR wirD dicH verlasseN, katE. genaU wiE deiN manN.«
Kate Reese winkte den Sheriff zu sich. Kurz streifte sie der Gedanke an ihren verstorbenen Mann. Die Erinnerungen an ihr Leben kehrten zurück, doch ohne den Schmerz. Sie schaute Christopher an, der wieder gesund und normal war. Sein Fieber war abgeklungen. Genau wie ihres. Kinder weinten nicht bei einem Happy End, und von ihr sollte er es ganz gewiss nicht lernen. Sie küsste den Sheriff. Das war der Mann, den sie heiraten wollte. Er gehörte jetzt zur Familie. Ein Ende gab es immer. Ob es ein Happy End wurde, hing von jedem selbst ab.
»icH beobachtE eucH.«
eR sah, wie der Sheriff Kate Reese zum Abschied küsste, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Der Sheriff nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen nach Erie, Pennsylvania, zu fahren, damit Emily Bertovichs Familie endlich Frieden fand. Doch im Moment wurde er hier gebraucht. Der nettE manN verfolgte, wie der Sheriff den Stadtbewohnern half, ohne weitere Zwischenfälle nach Hause zu kommen. Es wunderte ihn, dass die Menschen das immer taten. Egal wie groß der Krieg. Wie blutig die Schlacht. Am Ende setzten sich die Frösche in Bewegung. Wie kleine Samen, die im Boden eines niedergebrannten Waldes keimten. Sie gingen immer nach Hause.
Gaffer, die genug gesehen hatten.
»icH beobachtE eucH.«
Die ganze Stadt verließ die Lichtung und machte sich auf den Heimweg durch den Missionswald. eR ließ den Blick über seinE Welt schweifen. Leer. Still. Der Baum war mitten im Wald umgestürzt, und niemand hatte es gehört.
Außer Christopher.
Er schaute ihN direkt an.
»icH beobachtE dicH, christopher.«
Christopher starrte durch ihN hindurch. Auf die Wolke. Das Gesicht. Den blauen Mond. Die Finsternis. Das Ende der Tage. Die Sternschnuppen am morschen Himmel. Noch eine. Und noch eine. Jede eine Tochter. Ein Sohn. Eine Sonne. Eine Seele. Ein Farbtupfer in Gottes Augen.
»Ich beobachte dich auch«, antwortete Christopher.
Christophers Mutter drehte sich um und blickte ihm mit allem Zorn des Himmels in die Augen. »Und ich ebenfalls.« Dann nahm sie ihren kleinen Sohn an der Hand, und zusammen verließen sie den Missionswald.
Der nettE manN blieb noch einen Moment beim Baum. Die letzten Reste des Baumhauses glommen als Holzkohle auf dem Boden. Der Rauch stieg hinauf in die Luft, und eR folgte ihm.
eR flog in die Wolke, die sich über dem Wald erhob. Höher und höher. Bis eR die Lichtung und den Baum mit dem böse starrenden Auge erkennen konnte.
eR sah den Horizont. Die einzelne Sonne. Die Erde der Kopf am Körper eines Riesen. Menschen waren das Ungeziefer, das über seiN Gesicht krabbelte. eR spähte hinaus in die Welt. Wartend. Lauernd. Auf der Suche nach der nächsten Seele.
eR schwebte über der Stadt. Folgte der Sirene. Dem rasenden Rettungswagen. Den ganzen Weg bis zum Krankenhaus, wo die Sanitäter die Rolltrage im Eiltempo durch den Korridor zum OP-Saal schoben.
Während die Ärzte Gott spielten, driftete er weiter durch den Gang. eR sah Father Tom in seinem Bett. Mrs. Radcliffe saß an seiner Seite und hielt ihm die Hand. Gott sei Dank lebt er noch, hörte eR die Frau beten. Gott sei Dank leben sie alle noch. Die Mutter. Der Vater. Der Teenager. Es war ein Weihnachtswunder.
Als die Operation des Mädchens zu Ende war, glitt eR still in das Krankenzimmer. An der Zimmerdecke liegend, sah eR ihr beim Schlafen zu. Tief und friedlich. Den ganzen Tag und die ganze Nacht, während sich die Welt weiterdrehte wie eine Uhr.
Als Mary Katherine erwachte, schaute sie hinauf in das helle Licht über ihrem Bett. Überall an Armen und Beinen war sie mit Verband bedeckt. Plötzlich fiel ihr der Unfall ein. Das Hirschgeweih, das ihren Körper zerfetzt hatte. Doch dafür hatte sie Christopher gerettet. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Christopher noch lebte.
Die Tür ging auf.
Ein Arzt und eine Schwester traten ins Zimmer. Obwohl ihr Blick noch verschwommen war, erkannte Mary Katherine den Namen Tammy auf dem Schild der Schwester. Hinter Schwester Tammy folgten ihre Eltern und Doug. Sie waren aus der Kirche entkommen. Ihr Albtraum war vorüber.
»Sind wir hier im Himmel?«, fragte sie.
Alle im Zimmer lachten.
»Nein, Schatz«, antwortete ihre Mutter sanft. »Wir sind im Krankenhaus.«
»Du bist ganz knapp am Tod vorbeigeschrammt, Schatz. Wie wir alle.« Ihr Vater kämpfte mit den Tränen und fasste nach ihrer Hand.
Mary Katherine wurde es auf einmal warm wie in der Küche ihrer Mutter. Als der Arzt vortrat und ihr den Ablauf der Operation erklärte, drifteten ihre Gedanken auf einer Wolke aus Schmerzmitteln davon. Hier und da schnappte sie ein Wort auf, doch sie war so auf ihre Familie konzentriert – »Blutverlust« –, dass sie den Ausführungen – »Ruptur« – kaum Beachtung schenkte. Sie war dankbar, dass sie noch am Leben war. Dass sie hier bei ihren Eltern und Doug war. Der liebe Doug. Vielleicht konnte sie doch auf die Notre Dame gehen. Die Möglichkeiten des Lebens – »vollständige Genesung« – schienen auf einmal endlos. Mary Katherine schloss die Augen und war schon am Eindösen.
Da berührte sie die liebevolle Hand ihrer Mutter. »Wir helfen dir, Mary Katherine.«
»Genau«, ergänzte ihr Vater. »Wir sind eine Familie und halten zusammen.«
»Ich bin auch für dich da, Mary Katherine«, sagte Doug. »Du bist nicht allein.«
Verwirrt schlug Mary Katherine die Augen auf und schaute ihre Mutter an. »Womit allein, Mom?«
Ihre Mutter lächelte unter Tränen. »Sie haben das Baby gerettet. Du bist noch immer schwanger.«
eR beobachtete, wie die Nachricht über das Gesicht der jungen Frau zog. eR sah, wie sie ihre Mutter umarmte. eR vernahm, wie der junge Mann ihr seine Liebe erklärte und versprach, das Kind als sein eigenes aufzuziehen. eR hörte, wie der Vater spekulierte, was für ein Enkelkind ihn erwartete.
Eine Tochter
Ein Sohn
Eine Sonne
Eine Seele
Nach einigen Minuten führte der Arzt die Familie aus dem Zimmer, damit Mary Katherine die dringend benötigte Ruhe bekam. Schließlich musste sie jetzt für zwei schlafen. Als sie aufs Kissen zurückglitt, spürte sie ein leises Kribbeln im Nacken, das sie auf die Klimaanlage zurückführte. Sie kratzte sich kurz und schmiegte sich unter die Decke. Sie schloss die Augen, und kurz bevor sie einschlief, glaubte sie ein süßes Flüstern im Ohr zu hören.
»Mary Katherine …«