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Martin Barkner wollte nicht gestehen, was er getan hatte: seine Lebensgefährtin mit ihrem Kopfkissen erstickt. War sie überhaupt wach geworden, bevor der Tod eintrat? Bei der sogenannten erweiterten rechtsmedizinischen Obduktion am Morgen danach entnahm Pia Fröberg dem Körper Proben auf der Suche nach Spuren von Schlafmitteln oder anderen Drogen in Madeleines Blut. Sie wurden zur Analyse in die Kriminallabor geschickt. Auf die Antwort würden sie mindestens zwei oder drei Wochen warten müssen. In Barkners Blut hatten sie bis jetzt noch keine Spuren von Drogen gefunden, vielleicht würden sie sich später nachweisen lassen, aber das wusste in diesem Moment niemand, als Barkner von Sverker Edlund vernommen wurde.
Pia Fröberg hatte jedoch eine minimale punktförmige Blutung in einem Nasenloch der Frau gefunden. Punktblutungen entstehen immer bei Erdrosselung – im Augapfel, in den Ohren und Nasenlöchern – und wahrscheinlich auch bei Ersticken.
»Was haben Sie am Abend davor gemacht, Herr Barkner?«, fragte Edlund.
»Wie … meinen Sie das?«
»Waren Sie den ganzen Abend zu Hause? Oder waren Sie zum Beispiel im Kino? Sind Sie ausgegangen?«
»Nein … wir waren zu Hause. Erst wollten wir … irgendwo ein Glas Wein trinken gehen. Aber daraus ist nichts geworden.«
»Gab’s einen besonderen Grund dafür?«
»Wofür?«
»Dass nichts daraus geworden ist.«
»Nein … wir wollten eben keinen Wein trinken.«
»Haben Sie gestern Abend anderen Alkohol zu sich genommen?«
»Nein.«
»Und Madeleine?«
»Sie hat auch nichts getrunken.«
»Hatten Sie Besuch an dem Abend?«
»Nein.«
»Anrufe?«
Barkner schüttelte den Kopf. Edlund war nicht ganz klar, ob es die Antwort auf seine Frage war oder etwas anderes bedeutete. Barkner wirkte jetzt ruhiger, fast resigniert. Als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden, aber es war kein Schicksal. Es war die Tat eines Menschen. Die man nicht auf das Schicksal schieben, an das man nicht einfach die Verantwortung abgeben konnte. Es war eine entsetzliche Tat. Eine schlimmere gab es nicht.
»Haben Sie im Lauf des Abends telefoniert?«
»Nur mit Madeleines Mutter. Madeleine hat mit ihr gesprochen.« Barkner schaute auf. »Wissen … sie es? Wissen sie es schon?«
»Wer?«, fragte Edlund.
»Ihre Eltern natürlich. Wissen sie, dass Madeleine … tot ist?«
»Bald erfahren sie es«, sagte Edlund.
»Herrgott.« Barkner verbarg sein Gesicht in den Händen. Dann sah er wieder auf. »Wie können Sie nur?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie zum Teufel halten Sie das aus? Mit diesem … mit dem Tod! Mit all den Toten! Wie ertragen Sie es, sich Tag für Tag mit dem Tod zu beschäftigen?!«
»Wir sind ja nicht die Mörder«, sagte Edlund nach einem kurzen Moment.
Erik Winter ließ Steine über die Wasseroberfläche hüpfen. Ein-, zwei-, drei-, viermal. Das Wasser war ein Spiegel des Himmels, und der Stein hüpfte in dem wunderbaren Blau davon. In der diesigen Herbstsonne verschwamm der Horizont über den südlichen Schären. Oder Wintersonne. Wann kam der Winter? In diesem Moment, ein unsichtbarer Übergang wie das Bild, das er vor sich sah. Es war nicht genau zu erkennen, wo das Meer endete und der Himmel begann.
»Ich will auch!«, rief Elsa.
»Wir brauchen mehr flache Steine«, sagte Winter.
»Ich such welche!«, rief die Siebenjährige.
»Guck mal da hinten, hinter dem Felsen.«
Er zeigte zu dem Felsen. Angela und Lilly waren schon auf dem Weg dorthin. Die kleine Lilly wollte auch flache Steine sammeln. Sie wollte auch werfen.
»Was ist dein Rekord, Papa?«
»Daran kann ich mich nicht genau erinnern.«
»Hast du es schon zehnmal geschafft?«
»Nein, so oft nicht.«
»Wieso können Steine überhaupt auf dem Wasser hüpfen?«
»Die Wasseroberfläche kann hart sein.«
»Aber der Stein ist doch viel härter?«
»Nicht immer.«
»Warum nicht?«
Ja, warum nicht? Wieso schwimmt die Fähre der Stena-Line auf dem Wasser? Warum schwamm die »Titanic« auf dem Wasser, bevor sie versank? Wieso kann sich ein Flugzeug von einer Wasseroberfläche erheben? Wieso sagte man, es habe einen Mann gegeben, der über das Wasser gehen konnte?
»Man braucht einen flachen Stein«, sagte Winter. »Wenn er die richtige Geschwindigkeit hat, kann er übers Wasser hüpfen. Dann fliegt er fast über das Wasser.«
»Ich hab mal drei Hüpfer geschafft«, sagte Elsa.
»Ich glaube, es waren sogar vier«, sagte Winter.
»Ich kann dich schlagen!«, sagte sie.
»Klar kannst du das, Schätzchen.«
»Ich hol mehr Steine.«
Er sah sie durch den Sand laufen. Es war ihr Sand. Es war ihr Strand, ein kleines Grundstück zwischen Billdal und Kullavik. Vor einigen Jahren hatte er die Chance gehabt, es günstig zu erwerben, inzwischen war es ein Vermögen wert. Damals hatten zwischen den Klippen überwiegend Sommerhäuschen gestanden, aber jetzt kroch die Besiedlung immer näher. Billdal war zu einer kleinen Ortschaft angewachsen, die offenen Felder waren verschwunden, bedeckt mit Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen. Kullavik hatte ein Einkaufszentrum. Die Leute bauten ihre Häuser von Haga kile bis Maleviksviken so nah am Meer, wie es eben erlaubt war. Dagegen war nichts einzuwenden. Wenn Winter auf seinem Grundstück stand, sah er keine Nachbarn, nur Felsen, Meer und Sand, aber manchmal trug der Wind Geräusche herüber, die es vorher nicht gegeben hatte. Die Stille war nicht mehr die gleiche.
Sie hatten aufgehört, von dem Haus zu sprechen, das hier hätte stehen sollen. Elsa hatte aufgehört zu fragen. Für sie war es ihr Strand, mehr nicht. Für Lilly war alles selbstverständlich. Vielleicht war es selbstverständlich. Ein eigener Strand, das war doch etwas. Warum ihn mit einem Haus verschandeln.
Er sah, wie Elsa sich in halber Höhe des Felsens aufrichtete.
»Was ist das da, Papa?«
Ihre helle Stimme kam wie ein flacher Stein über den Strand gehüpft. Er sah sie auf das Meer zeigen und folgte dem Blick seiner Tochter zum Horizont, der sich jetzt schärfer abzeichnete, nachdem die Sonne stärker geworden war. Er sah die Holme und Schären in der Bucht und die Kontur von Vrångö. Im Augenblick waren keine Boote unterwegs.
»Es sieht aus wie ein großer Stein, der oben schwimmt!«, rief Elsa.
Und dann hörte er auch Angelas Stimme. Sie hatte ebenfalls etwas gesehen. Sie stand höher als er und hatte einen besseren Überblick.
Sie rief wieder.
»Elsa, komm hierher!«
Jetzt sah er den Stein. Langsam trieb er an der Wasseroberfläche. Es war kein Stein, es war ein Stück Holz. Ein Baumstamm.
»Erik!«
Jetzt rief Angela nach ihm. In ihrer Stimme war etwas, das er nicht kannte. Er machte einige Schritte auf das Wasser zu. Der Baumstamm war näher gekommen. Er war schwarz im Sonnenlicht. Jetzt sah er etwas Weißes. Es bewegte sich langsam im Wasser, wandte sich ihm zu. Jetzt sah er das Gesicht.
Madeleine Holst war neunundzwanzig Jahre alt geworden. Im Juni hatte sie Geburtstag gehabt. Martin Barkner war im März achtundzwanzig geworden. Madeleines Eltern wohnten in einem älteren Haus in Hovås und Martins Eltern nicht weit davon entfernt, im südlichen Askim. Martins Eltern waren nicht in Schweden, sie hielten sich in ihrem Haus an der Costa del Sol auf. In Nueva Andalucia hob niemand das Telefon ab. Madeleines Eltern wurden morgens um neun vom diensthabenden Kommissar Bent Mogens informiert, nicht, weil er der Diensthabende war, sondern weil er am besten Nachrichten dieser Art überbringen konnte. Normalerweise wurde er von einem seiner Fahnder gefahren, aber diesmal brachte ihn ein Streifenwagen nach Hovås. Am Steuer saß Gerda Hoffner, neben ihr Johnny Eilig. Die Nacht war noch nicht ganz vorbei. Über dem Säröleden hingen Nebelschwaden. Gerda Hoffner war nicht müde. Sie fühlte sich wie ein Teil dieses Falles, der sie nicht losließ.
»In welcher Verfassung war der Mann, als ihr die Wohnung betreten habt?«, fragte Mogens.
»Er hat um Hilfe gerufen«, antwortete Johnny. »Bevor wir ihn sahen.«
»Durch die Tür? Als ihr noch im Treppenhaus wart?«
»Die Tür stand offen«, sagte Johnny. »Er hatte sie schon geöffnet. Für uns.«
»Das habe ich nicht gehört«, sagte Gerda Hoffner.
»Dass er die Tür geöffnet hat, oder was?«, fragte Mogens.
»Dass er das gesagt hat. Ich habe es nicht gehört.«
»Er hat es zu mir gesagt. Du warst ja … bei der Leiche, um den Puls zu fühlen«, sagte Johnny.
»Das habe ich nicht getan. Ich habe sie nicht angerührt.«
»Es sah aus, als hättest du es vor.«
Gerda Hoffner schwieg.
»Als wir ihn sahen … als wir das Zimmer betraten, schrie er, dass er es nicht getan habe«, fuhr Johnny fort. Er drehte sich zu Mogens um. »Hat er es getan?«
»Was getan?«
Gerda Hoffner war Johnny Eiligs Frage peinlich. Eine idiotische Frage.
»Wir wissen es nicht«, antwortete Mogens. »Es ist anzunehmen. Aber er hat noch nicht gestanden.«
»Legen die denn immer ein Geständnis ab?«
»In einem Fall wie diesem? Ja.«
»Was heißt das?« Gerda Hoffner suchte im Rückspiegel Blickkontakt zu Mogens. »In einem Fall wie diesem?«
»Tja … Beziehungstaten. Leidenschaftsdramen. Ich weiß nicht, wie wir es nennen sollen. Häusliche Gewalt.«
»Es scheint überhaupt keine Gewalt angewendet worden zu sein«, sagte Johnny. »Alles hübsch ordentlich. Ein paar Kleidungsstücke auf dem Fußboden und hier und da Sachen verstreut, aber sonst ziemlich aufgeräumt. Also keine zerschlagenen Gegenstände oder so.«
»Wie alt ist sie geworden?« Das rutschte Gerda Hoffner einfach so heraus. Sie hatte die Frage eigentlich gar nicht stellen wollen.
»Im Juni ist sie neunundzwanzig geworden«, antwortete Mogens.
»Ich auch«, sagte Gerda. Auch das war ihr so herausgerutscht. »Himmel. Was rede ich da für einen Blödsinn.«
»Wieso«, sagte Mogens, »deswegen brauchen Sie sich doch nicht zu schämen.«
»Ich bin dreißig«, sagte Johnny Eilig. »Wie alt ist der Mann?«
»Achtundzwanzig, ein Jahr jünger als die Frau«, sagte Mogens.
»Fast noch ein Kind«, sagte Gerda Hoffner.
»Hm.« Mogens lehnte sich zurück. »Wie war euer erster Eindruck von ihm?« Er schaute Gerda im Rückspiegel an. Sie hatte das Gefühl, als bohrten sich seine Augen in ihre. Er hatte einen scharfen Blick. Plötzlich bekam sie Kopfschmerzen. »Was meinen Sie, Frau Hoffner?«
»Der erste Eindruck? Ich weiß nicht. Er könnte es gewesen sein, aber er könnte es auch nicht gewesen sein. Vielleicht war es ein Unfall? Vielleicht ist sie krank geworden? Akut krank?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.«
»Klar war er es«, sagte Johnny. »Wer sonst sollte es getan haben?«
»Wer hat das getan?«, fragte Madeleines Mutter, Annica Holst. Ihr Mann stand neben ihr. Seine Augen waren leer, als warteten sie noch darauf, sich mit Trauer zu füllen. Bis zum Überlaufen mit Trauer gefüllt, dachte Mogens. Genau das hatte er viele Male gesehen. Zuerst eine Leere, dann akute Trauer, dann Schock, dann Zorn, und danach das Ganze immer wieder von vorn, in ungleichmäßigen Intervallen wiederholt, wie eine Art ewige Trainingsrunde in der Hölle, im Inferno. Es war ein Inferno. Er hatte das Inferno gebracht, war Bote der Hölle. Jetzt war er der Schuldige, jetzt war es seine Schuldigkeit, Fragen zu beantworten.
»Wer hat das getan?«, wiederholte Annica Holst. Ihre Augen waren ebenfalls trocken, als wäre Mogens’ Nachricht noch nicht bei ihnen angekommen.
»Wir wissen es noch nicht. Die Todesursache steht noch nicht fest.«
»Was meinen Sie damit? Dass Sie die Ursache nicht kennen?«
»Wie es sich zugetragen hat.«
»Ist sie plötzlich krank geworden? War es ein Unfall?«
»Das glauben wir nicht«, antwortete Mogens.
»Herr im Himmel, ist sie etwa ermordet worden?«
»Allem Anschein nach, ja«, sagte Mogens.
»Wo ist Martin?«, fragte sie. »Haben Sie mit Martin gesprochen? Was sagt er?«
»Ja. Wir haben mit ihm gesprochen.«
»Ist er … ist ihm auch etwas passiert?«
»Er wird gerade vernommen.«
»Ist er verletzt?«
»Nein.«
»Gott sei Dank.«
Mogens sah die Erleichterung in ihren Augen. Sie hatte es noch nicht begriffen. Es war natürlich überhaupt nicht zu begreifen. Sie glaubte noch immer, es gäbe Hoffnung. Sie griff nach allem, was nach Hoffnung aussah.
»Hat er etwas gesehen?«, fuhr sie fort. »Hat er jemanden gesehen?«
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Mogens.
»Wir müssen in die Stadt fahren und ihn holen«, sagte Annica Holst. »Seine Eltern sind in Spanien. Er darf doch jetzt nicht allein bleiben. Nicht dort.« Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Peder? Wir müssen ihn zu uns holen.«
Der Mann antwortete nicht. Mogens begegnete seinem Blick. Peder Holst hatte es begriffen.
»Peder? Was ist?« Annica Holst schaute ihren Mann an, dann Mogens.
»Was ist? Sie haben ihn doch wohl nicht … Sie glauben doch wohl nicht, dass er es getan hat? Dass Martin …«
Sie brach ab.
Und langsam begann sie zu begreifen, was geschehen war. Ihre Tochter war umgebracht worden. Bis zu diesem Moment des Gesprächs hatte sie nur daran gedacht, wer es getan haben könnte. Oder besser gesagt, nicht getan hatte. Wie es geschehen war. Doch jetzt begriff sie, dass es geschehen war. Dass es sich um eine Tat handelte, die sich nicht rückgängig machen ließ.
Sie ließ sich nicht rückgängig machen.
»Neeeeiiin!!!«, schrie sie, und Mogens wusste, dass es bis zu den Nachbarn zu hören war, auch wenn dieses große Haus dicke Mauern hatte und die Hecken um das Grundstück hoch waren. Als sie in die Straße eingebogen waren, hatte er hinter den Klippen das Meer schimmern sehen. Wer die Straße entlangging, hatte Meerblick. Bis zum Strand waren es nur wenige Hundert Meter. Im Lauf der Jahre war er häufig mit dem Rad daran vorbeigefahren. So sah es also hier oben aus. Er hatte zu den großen Häusern hinaufgespäht. Einige wirkten wie Schlösser, so unnahbar, es roch nach altem Geld, und nach einigem neuen Geld, vielleicht eine Mischung aus beidem. Trotzdem unerreichbar für ihn, er war ein einfacher Bote für die Mitbürger, häufig für die ganz einfachen.
Aber jetzt war er hier.