16

Winter legte eine Pause ein. Er unterhielt sich mit Sverker Edlund in einem Zimmer, das nach dem Verhörraum mit den zugezogenen Vorhängen hell und luftig wirkte. Er hatte die Vorhänge nicht aufziehen wollen und wusste nicht, warum. Vielleicht kam ihm die Sonne zu gut und zu fröhlich vor. Winter hatte Martin Barkner nach den Ereignissen des Abends befragt. Viel war nicht passiert. Alles war normal gewesen. Sie hatten eine kleine »Diskussion« gehabt, ob sie zu Madeleines Eltern fahren sollten oder nicht, aber das war doch wohl normal? Barkner hatte das Wort mehrmals wiederholt. Normal. Der Abend war normal gewesen: Sie hatten etwas gegessen und hinterher abgewaschen, hatten ein bisschen ferngesehen, waren im Bad gewesen, hatten noch etwas gelesen, irgendwann das Licht ausgemacht und waren eingeschlafen. Winter hatte noch nicht nach dem Amontillado gefragt, nur nach den Büchern auf dem Nachttisch. Auf Martins Seite hatten fünf gelegen, auf Madeleines sechs. Barkner selber wusste nicht genau, wie viele. Er hatte sie nicht gezählt. Wer tat das schon? Aber er und Madeleine lasen gern mehrere Bücher parallel. Er konnte nicht genau sagen, welche Titel dort gelegen hatten, nach einiger Zeit pflegte er das unterste Buch zu vergessen. Aber er wusste, welches er zuletzt gelesen hatte. Stieg Larsson. Darunter hatte vermutlich Katarina Haller gelegen. In welchem Buch Madeleine an diesem Abend gelesen hatte, wusste er nicht. Es könnte auch Stieg Larsson gewesen sein, aber er war nicht sicher, welchen. Was er getan hatte, als er mit Lesen aufgehört hatte? Als er schlafen wollte? Wie? Die Frage hatte er nicht richtig verstanden. Winter hatte ihm erklärt, was er meinte. Okay, Barkner hatte das Buch beiseitegelegt, das war ja wohl klar. Wohin? Wie? Wie? Wie hatte er es beiseitegelegt? Was war das für eine Frage? Wie hatte er das Buch weggelegt? Barkner verstand die Frage immer noch nicht. Winter erklärte es ihm. Hatte er es ordentlich auf den Stapel gelegt? Kante auf Kante mit den anderen Büchern? Nein, nein. Er hatte es einfach weggelegt. Quer, oder wie man das nennen sollte. Ob er später daran gedacht hatte? Wann später? Als er … hinterher? Als er aufwachte? Als er … als Madeleine dalag? Ob er in dem Moment an die Bücher gedacht hatte? Nein, das hatte er nun wirklich nicht. Das war das Letzte, was er sich vorstellen konnte, gedacht zu haben.

Winter ließ sich das Verhör noch einmal durch den Kopf gehen, während er den blauen Himmel hinter Edlunds Fenster betrachtete. Der Himmel fing an, ihm auf die Nerven zu gehen, wie einem ein schlechter Witz, den man einmal zu oft gehört hatte, auf die Nerven geht.

»Der Kerl hat vor irgendetwas Angst«, sagte Winter.

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß nicht genau.«

»Vielleicht fürchtet er sich vor der eigenen Tat?«

»Oder vor einer anderen Person.«

»Dann weiß er jedenfalls mehr, als er sagt.«

»Hast du das auch schon gedacht?«, fragte Winter.

»Da ist was … er enthält uns etwas vor.«

Winter nickte.

»Was nicht unbedingt ein Geständnis sein muss«, sagte Edlund.

»Aber was soll es sonst sein?«

»Will er jemanden schützen? Möglich.«

»Wenn es so ist, warum will er die Person schützen?«

Edlund betrachtete schweigend das fröhliche Licht vor dem Fenster. Er war nicht oft im Ausland gewesen, aber an einem schönen, fröhlichen und hellen Weihnachten hatte er bei der UNO Dienst auf Zypern geleistet. Zivilpolizist in Larnaca. Herr im Himmel, was für ein Heiligabend. Am ersten Weihnachtstag hatte er einen Kater ohnegleichen gehabt. Wie zwei Elche, die ihre Geweihe ineinander verwickelt haben. Das war nicht das Einzige, worin er verwickelt gewesen war.

Er hörte Winter etwas sagen, verstand jedoch die Wörter nicht.

»Was hast du gesagt, Erik?«

»Lass uns davon ausgehen, dass er unschuldig ist. Aber weiß er, wer es getan hat?«

»Klingt unwahrscheinlich. Warum sollte er den Mörder seiner Freundin schützen?«

»Ich muss ihn wohl danach fragen«, sagte Winter.

Er setzte das Verhör fort, indem er dem Mann ein Foto zeigte.

Barkner wurde blass. Daran bestand kein Zweifel. Er war schon vorher blass gewesen, jetzt wurde er weiß.

»Das sind Ihre Bücher«, sagte Winter.

Barkners Blick war an dem Bild hängengeblieben, war gegen seinen Willen hängengeblieben. Er sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Winter hielt automatisch Ausschau nach einem Eimer. Es gab nur ein Waschbecken in einer düsteren Ecke. Schlimmstenfalls musste er den Mann dorthin führen.

»Das sind Ihre Bücher, auf Ihrem Nachttisch«, sagte Winter.

»Nein!«

»Wie bitte?«

Barkner sah Winter entsetzt an, als begegnete er dem echten Grauen erst jetzt, einem noch größeren Grauen, als er bereits durchlitten hatte, und das nicht nur einmal.

»Nein!«, rief er.

»Was ist, Herr Barkner?«

Barkner schleuderte förmlich einen Blick auf das Foto.

»Das sind nicht meine Bücher! Das bin ich nicht!«

»Wie meinen Sie das?«

»So hat es nicht ausgesehen. Das sind nicht meine!«

»Es sind Ihre Bücher.«

»Nein.«

»Doch, Herr Barkner. Zuoberst liegt Stieg Larsson. Sie haben selbst gesagt, dass Sie am Abend in dem Buch gelesen haben.«

»Nicht so, nicht auf die Art.«

»Wie denn? Wie meinen Sie das?«

»So habe ich es nicht weggelegt! Ich habe meine Bücher nicht so hingelegt! Niemals! Ich bin noch nie …« Er unterbrach sich, schnitt seine eigenen Worte ab, wie man etwas mit einem schweren, scharfen Gegenstand abschneidet.

»Sie sind noch nie was, Herr Barkner?«

Martin Barkner antwortete nicht. Winter sah Schweißperlen auf seiner Stirn. An seinem Hals waren rote Flecken. Der Mann war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

Winter ließ noch ein Foto vor Barkner auf den Tisch fallen. Jetzt fühlte er sich wie ein Folterer. Der Mann litt furchtbare Qualen. Er starrte das Foto an, auf dem der Bücherstapel auf Madeleines Nachttisch festgehalten war. Eine so banale Kleinigkeit, ein Bücherstapel, der seinem Leser Freude, Nachdenklichkeit, Wehmut und Stimulanz schenken sollte.

»Nein, nein!«

Barkner sprang auf. Er sah aus, als wollte er sich gegen die nächstbeste Wand werfen, die nur einige Meter entfernt war.

»Nehmen Sie das weg!«, schrie er. »Nehmen Sie das weg!«

Aber er starrte immer noch auf das Foto, starrte auf beide Fotos.

Er erkennt es wieder, dachte Winter. Er erkennt etwas. Nicht die eigenen Bücher. Die Stapel. Um die Titel geht es nicht.

Aber er weiß, worum es geht.

Die Art, wie sie gestapelt sind.

Winter sah das Entsetzen in Barkners Augen und versuchte, jede Regung in seinem Gesicht zu erfassen und damit auch das, was dahinter stattfand, in dem fiebrigen Gehirn. Dann brach Barkner über dem Tisch zusammen, er würde sich nicht mehr gegen etwas Hartes werfen. Er brach über den Fotografien zusammen.

Gerda Hoffner hatte Angst. Das Gefühl überfiel sie plötzlich, als sie die Karl Johansgatan entlangging. Sie drehte sich um. Das Gefühl war stark: Irgendwo hatte jemand gestanden und sie beobachtet, war ihren Schritten gefolgt. War ihr tatsächlich gefolgt. Was war das für ein Gefühl? Hatten sie auf der Hochschule trainiert, damit umzugehen? Nein. Sie hatten trainiert, sich in Uniform diskret zu verhalten, aber das war etwas anderes. Diskret in Uniform. Darin lag ein Widerspruch. Aber jetzt brauche ich nicht diskret zu sein, ich trage keine Uniform.

Vor dem staatlichen Schnapsladen krakeelten wie üblich die Alkoholiker. Sie machte in ihrer Freizeit häufig einen Spaziergang nach Klippan, aber nur bei Tageslicht, was bedeutete, dass der Schnapsladen geöffnet hatte, denn die Dunkelheit brach früh herein. Ein Mann und eine Frau kamen aus der Unterführung, der Mann hatte eine Flasche Schnaps in der Hand, die die Frau ihm wegzunehmen versuchte. Beide alkoholabhängig. Sie kannte das Paar. Es hielt sich meistens mit den anderen johlenden Säufern am nördlichen Tunnelende im Park auf. Dort grölten, schrien und torkelten sie herum wie eine hoffnungslos verlorene Gesellschaft in einer öden Landschaft auf dem Weg ins Verderben. Anfang Herbst war sie dem Paar im Supermarkt am Sannaplan begegnet. Die beiden waren nüchtern gewesen und hatten ein kleines Mädchen bei sich gehabt. Das Kind war etwa fünf, sechs Jahre alt und hatte allen Kunden im Laden erzählt, dass es mit Mama und Papa hier sei. Es hatte mit dem Finger auf die beiden gezeigt. Das da ist meine Mama und das mein Papa! Es war so glücklich, so stolz gewesen.

Urlaub von der Hölle. Vielleicht hatten sie auf ein Weihnachtsfest zusammen mit ihrer Tochter gehofft. Eine richtige Familie. Aber der Urlaub war jetzt vorbei. Es war fast Weihnachten, es war zu spät. Mama und Papa gerieten ins Schwanken, als sie auf gleicher Höhe waren, als wären sie beide gleichzeitig von einem Windstoß erfasst worden. Die Frau versuchte wieder, die Schnapsflasche zu ergattern. Der Mann stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. Sie schrie auf. Und Gerda Hoffner wurde das Bild von dem kleinen Mädchen nicht los. Es hatte Zöpfe gehabt und unter der offenen Jacke ein nettes Kleid getragen. Eine kleine rote Mütze. Kinderheimkleid. Kinderheimjacke. Was weiß ich. Ich weiß nur, dass ich das Elend nicht mehr sehen will. Nicht dieses. Es gibt so viel anderes Elend.

Sie ging durch die Unterführung. Die Wände waren mit zwanzig Lagen Geschmier bedeckt. Hier unten roch es nach Kot und Urin. Kaum vorstellbar, dass feine Leute den Tunnel auf dem Weg zum Sjömagasinet benutzten. Sie passten nicht ins Bild. Gerda Hoffner ging weiter zum Wasser. Es dämmerte bereits. Die Kräne am anderen Ufer wurden zu Silhouetten, Skeletten. Der Himmel färbte sich rot. In der giftigen Luft wirkte er sehr klar. Jetzt roch es nach Diesel und Öl, angenehmer als der Geruch im Tunnel. Einige Limousinen hielten vor dem Sjömagasinet. Gut gekleidete Paare stiegen aus. Ein spätes Mittagessen oder ein sehr frühes Abendessen. Vielleicht wollten sie auch nur etwas trinken, vielleicht genauso viel wie Mama und Papa oben auf dem Jaegerdorffsplatsen, aber auf ihre Art, an Tischen. Der stadtbekannte Restaurantbesitzer stand vor seinem Lokal und begrüßte die Gäste. Eine Frau in pelzgefütterter Jacke stakste mit lautem gackernden Lachen auf ihn zu. Es klang in Gerda Hoffners Ohren sehr falsch. Vielleicht sind sie Promis, bekannte Fernsehgrößen. Ich bin nicht mehr auf dem Laufenden.

Sie betrat den Bootsanleger. Auf einem der alten Segelschoner, die in einer Reihe am Steg lagen, arbeiteten Männer. Die Pötte sahen halbtot aus, aber es gab immer jemanden, der sich mit Wiederbelebungsversuchen beschäftigte. Für dieses Interesse empfand sie Bewunderung, dafür hatte sie Verständnis. Die Stadt lag am großen Meer, und wenn man am Meer wohnte, sollte man segeln. Sie dachte an ihre Eltern. Sie waren in das deutsche Binnenland zurückgekehrt, das östliche deutsche Binnenland. Auch dafür hatte sie Verständnis. Für die Eltern bedeutete es die Freiheit. Sie brauchten kein Meer. Draußen auf dem Fluss fuhr die Dänemarkfähre der Stena-Linie vorbei. Sie war auf dem Weg in den Hafen. Eine hell erleuchtete schwimmende Festung. Auf dem Oberdeck standen Leute, kleine Punkte, wie Ameisen. Vielleicht winkten sie. Gerda Hoffner hob die Hand und winkte zurück, just in case. Sie drehte sich um. Zwanzig Meter von ihr entfernt stand jemand, ein Mann. Er hob die Hand. Sie drehte sich wieder zur Fähre um. Die Leute winkten. Sie schaute sich erneut um. Der Mann war verschwunden. Das war unmöglich. Dann müsste er ins Wasser gesprungen sein. Sie blinzelte. Sie hatte Angst. Jetzt war sie allein auf dem Anleger. Bis zum Land waren es hundert Meter. Lieber Gott. Was passiert mit dir, Gerda? Sie sah die Gesichter der toten Frauen, wollte sie nicht mehr sehen. Doch sie konnte sich nicht dagegen wehren, das Bild kam einfach. Sie machte sich auf den Rückweg. Die Männer auf dem Segelschoner waren auch verschwunden. Sie war allein. Sie ging auf die Lichter am Ufer zu. Das Sjömagasinet leuchtete genauso festlich wie eben die Fähre, die jetzt wie eine schwimmende »Titanic« den Fluss entlangglitt. Wie war es möglich, dass eine Fähre auf dem Wasser schwamm? Das haben wir auch nicht gelernt auf der Polizeihochschule.

Martin Barkner hatte sich beruhigt. Die Angst vor dem Unbekannten war nicht mehr so groß. Oder dem Bekannten. Die Angst vor dem Bekannten.

»Wer hat es getan?«, fragte Winter. »Wer hat Madeleine getötet?«

Barkner schaute auf. Er hatte auf die Tischplatte gestarrt. Winter nahm die Fotos in die Hand.

»Wer hat das getan?«

»Glauben … glauben Sie … nicht mehr, dass ich es war?«

»Wer, glauben Sie, war es?«, fragte Winter.

»Ich … ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen?«

»Haben Sie es getan?«

»Nein!«

»Haben Sie Madeleine getötet?«

»Nein!«

»Wer war es?«

»Ich weiß es nicht!«

»Wer könnte es getan haben?«

»Ich weiß es nicht!« Barkner wollte aufstehen, sank aber wieder zusammen. »Warum glauben Sie mir nicht?!«

Winter schwieg. Barkner wich seinem Blick aus. In den vergangenen Minuten war es dunkler geworden im Raum. Das Licht draußen verblasste rasch. Es ging jetzt schnell auf Weihnachten zu. Winter versuchte nachzurechnen. Welches Datum hatten sie heute? Noch drei oder vier Tage bis Weihnachten?

»Wer könnte Madeleine etwas Böses wollen?«, fragte er.

Barkner antwortete nicht. Das war eine sinnlose Frage.

»Jemand wollte ihr Böses«, sagte Winter.

»Ich war es nicht.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht! Warum fragen Sie mich das immer wieder?«

Winter schwieg.

»Wollen Sie so lange weiterfragen, bis ich gestehe? Geht es Ihnen darum?«

»Wollen Sie gestehen?«

»Nein.«

Winter wartete, um eine kleine Pause in der Vernehmung einzulegen, eine Lücke in der Stille, eine Fallgrubenpause, vielleicht. Draußen hörte er ein Auto starten. Barkner hörte es auch. Das Geräusch stand für Freiheit. Normalität.

»Erzählen Sie von Ihren Freunden, Herr Barkner«, sagte Winter.

Auf dem Weg nach Hause klopfte Winter an Ringmars Tür und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten.

Ringmar schaute auf.

»Willkommen, bienvenue, welcome.«

»Danke, Bertil.«

»Lass dich nieder und erzähl mir vom Leben.«

»Du bist ja richtig aufgekratzt.«

»Bald ist Weihnachten.«

»Das bedeutet dir doch sonst nichts.«

»Was zum Teufel meinst du damit?«

»Nur dass du immer gleich gutgelaunt wirkst, unabhängig von Feiertagen.«

»Das ganze Leben ist ein Feiertag, Erik.«

»Ich weiß.«

»Auf die kommenden Feiertage freue ich mich wirklich. Die ganze Familie ist ausnahmsweise versammelt. Aber das habe ich dir wahrscheinlich schon erzählt?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Martin kommt morgen hoffentlich aus Malaysia nach Hause. Und Moa hat ihre Juristenausbildung in Eksjö abgeschlossen.«

»Ihr seid wahrhaftig eine kosmopolitische Familie, Bertil.«

»Das sagst ausgerechnet du, mein Freund. Costa del Sol und all das.«

Winter nickte. Erst jetzt bemerkte er die brennende Kerze auf Bertils Schreibtisch. Ein Teelicht in einem ehemaligen Aschenbecher. Bertil hatte noch nie eine Kerze angezündet. Er schien sich wirklich über die Wiedervereinigung seiner Familie zu freuen. Es hatte eine Zeit gegeben, da schien sie für immer zu zerbrechen. Winter erinnerte sich an ein Weihnachten, als Bertil bei ihm übernachtet hatte. Wann war das gewesen … vor sechs, sieben Jahren? Damals war Bertil sehr einsam gewesen. Fast am Boden. Auch Winter war einsam gewesen, aber er hatte die Einsamkeit selbst gewählt. Während Angela und Elsa in Spanien waren, hatten Winter und seine Fahnder einen Mörder gesucht. Und einen kleinen Jungen. Es war ein entsetzliches Weihnachten gewesen. Er war nicht darüber hinweggekommen. Nie würde er darüber hinwegkommen. Er musste daran denken, sobald Weihnachten nahte. Aber für Bertil freute er sich. Bertil hatte es verdient.

»Ich habe mit einem anderen Martin gesprochen«, sagte Winter.

»Wie geht es voran? Wird Barkner gestehen?«

»Nein.«

»Was glaubst du?«

»Ob er schuldig ist? Ich kann es nicht sagen. Da ist etwas, an das ich nicht herankomme.«

»Und was?«

Das war keine Frage. Es war nur ein Versuch, Winters Gedanken zu folgen.

»Er verbirgt etwas«, sagte Winter.

»Manchmal übertreiben wir es damit«, sagte Ringmar. »Das weißt du, Erik.«

»Schon …«

»Der Verdächtige wirkt geheimnisvoller, als er ist«, sagte Ringmar. »Wir sehen Zusammenhänge, wo keine bestehen. Oder Zufälle, die etwas anderes zu sein scheinen und doch nichts weiter als Zufälle sind.«

»Ich bin noch nicht einmal dahintergekommen, ob dies ein Fall für uns ist«, sagte Winter. »Mit dem anderen Verdächtigen, Erik Lentner, habe ich noch gar nicht gesprochen.«

»Apropos Zusammenhänge.« Ringmar nickte in Richtung Schreibtischplatte. Winter sah die Papiere, er hatte sie beim Hereinkommen bemerkt, aber nicht das Kerzenlicht. Zuoberst lagen Fotografien. Die Flamme warf ein flackerndes Licht darauf. Er sah ein Gesicht und noch eins.

»Ich bin alles durchgegangen, was es bis jetzt gibt«, sagte Ringmar. »Es sieht wirklich sehr merkwürdig aus.«

Winter nickte.

»Wann sind Öbergs Leute mit den beiden Wohnungen fertig?«

»Wahrscheinlich sind sie schon fertig«, antwortete Winter.

Ringmar deutete auf die Fotos.

»Edlund und Mogens haben die beiden Männer gefragt, ob sie einander kennen, was offenbar nicht der Fall ist.«

»Jedenfalls behaupten sie das.«

»Was meinst du?«

»Keine Ahnung, bis jetzt nicht. Ich muss erst mit Lentner reden. Und dann wieder mit Barkner.«

»Costa del Sol«, sagte Ringmar. »Dort besteht ein Zusammenhang.«

»Ja.«

»Interessant.«

»Solange man nicht weiß, dass halb Göteborg Häuser an der spanischen Sonnenküste besitzt«, sagte Winter.

»Ich bin noch nie da gewesen«, sagte Ringmar.

»Es ist größer, als du glaubst, Junge.«

»Haben die nicht eine Gemeinde, die für den Zusammenhalt sorgt? Ich habe mal so etwas gehört.«

»Von mir, ich habe es dir erzählt. Angela und ich haben in der Kapelle der Gemeinde in Fuengirola geheiratet, falls du dich daran erinnerst.«

»Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein.«

»Es gibt also eine Gemeinde. Aber alle hält sie nicht zusammen.«

»Dann sind also nicht alle Schweden, die an der Costa del Sol wohnen, eine große glückliche Familie?«

»Nicht einmal eine Familie, unglücklich oder glücklich.«

Ringmar blätterte in den Unterlagen. Die Kerzenflamme zuckte im Lufthauch, ohne zu verlöschen.

»Diese … dieses Paar, Martin Barkner und Madeleine Holst … beider Eltern haben ein Haus in … Nueva Andalucia.« Er schaute auf. »Hatten deine Eltern dort nicht auch ein Haus?«

»Siv hat es immer noch. Sie ist nur vorübergehend hier.«

»Ach?«

»Ja.«

»Ist das nicht Wunschdenken?«

»Nein.«

»Okay, sie hatten jedenfalls beide ein Haus dort, Martin und Madeleine haben sich vermutlich schon in jungen Jahren gekannt. Bevor sie ein Paar wurden.« Er hob ein Blatt hoch. »Und die anderen … Gloria Carlix, die Tote, und Lentner, deren Eltern besitzen auch ein Haus da unten. Glorias Eltern haben ihrs vor etwa einem Jahr verkauft. Aber Lentners haben ihrs noch. Oder war es eine Wohnung? Nicht in Nueva Andalucia. Warte … es sind zwei andere Orte …«

Winter erhob sich. »Ich muss los.«

Ringmar sah auf. »Okay, okay.«

Winter ging. Er fühlte sich seltsam bedrückt von den spanischen Zusammenhängen. Als wäre es ungehörig. Als wollte er die Costa del Sol für sich allein behalten. Dorthin war er geflohen, wenn er fliehen musste. Marbella war seine Freistatt, eine geschützte Zone für seine Familie. Es bestand kein Zusammenhang zwischen den Morden. Es war nur ein Zufall.