18

Am Tag vor Heiligabend kam eine Art Weihnachtsgeschenk von der Kriminaltechnik in Linköping: An beiden Kopfkissen in beiden Wohnungen gab es DNA-Spuren, und die stammten weder von Madeleine Holst noch von Martin Barkner, Gloria Carlix oder Erik Lentner. Auch an einigen der Bücher in beiden Wohnungen ließen sich DNA-Spuren nachweisen. Und an den Weinflaschen. Ein häufiger Gast der beiden Paare?

Sie verglichen die DNA-Spuren mit ihrer Verbrecherkartei, fanden aber keinen bekannten Schwerverbrecher, der diese Hausbesuche gemacht haben konnte.

»Atem- oder Speichelspuren«, sagte Torsten Öberg. »An den Handschuhen. Oder beides.«

»Das könnte unser Mörder sein«, sagte Winter.

»Das könnte wer weiß wer sein«, sagte Öberg.

Winter hatte die Fotos aus der Chalmersgatan und Götabergsgatan auf 85 x 60 Zentimeter vergrößern lassen und sie an den Wänden in seinem Büro befestigt, das jetzt wie eine Fotogalerie aussah. Vielleicht ließe sich das kommerziell verwerten, eine Ausstellung für Publikum. Das Publikum erwartete immer mehr, es erwartete Blut auf der Bühne. Auf diesen Fotografien war nicht viel Blut zu sehen, nur das Blut von den Kratzwunden an Erik Lentners Armen. Es sah wie ein Muster auf der Bettwäsche aus, jetzt in der Vergrößerung noch einmal mehr. Die Blutspritzer wirkten wie Spuren, waren aber keine. Die Spuren in diesen beiden Fällen waren unsichtbar, wenn es sich überhaupt um Spuren handelte, die ihm jemals helfen würden: Er brauchte etwas, das sich vergleichen ließ. Einen Menschen aus Fleisch und Blut, dachte er, während er von Bild zu Bild an der Wand entlangschritt. Sie waren in zwei identischen Reihen angebracht: die Chalmersgatan über der Götabergsgatan. Eine die Kopie der anderen und umgekehrt.

Nach der dritten Runde wurde ihm klar, dass jemand dort gewesen war und Gott gespielt hatte, jeder Zweifel war ausgeschlossen. Barkner oder Lentner waren es nicht gewesen. Sie waren selber Opfer. Der Täter wollte, dass wir es erfahren, wenn einige Zeit verstrichen ist. Dies ist seine Ausstellung, nicht meine. Der Kerl wusste, dass ich die Fotos früher oder später an die Wand hängen würde und dass ich es sehen, wirklich sehen würde.

Es klopfte an der Tür.

»Herein.«

Die Tür wurde geöffnet und Ringmar erschien.

»Aha, du hast die Fotos aufgehängt«, sagte er.

»So was habe ich noch nie gesehen«, sagte Winter. »Wenn man sie ganz genau studiert, erkennt man, dass die Fälle zusammenhängen.« Er machte eine kreisende Handbewegung zur Wand hin. »Schau selbst.«

Ringmar ging zweimal an den Fotos entlang.

»Du hast recht«, sagte er.

»Jemand ist in die Wohnungen eingedrungen und hat die Frauen getötet. Und beim Verlassen der Wohnungen hat er die Türen hinter sich offen gelassen.«

Ringmar schwieg. Er stand vor einem Foto von Madeleines bleichem Gesicht.

»Es ist derselbe Mörder«, sagte Winter. »Und das will er uns mitteilen.«

Ringmar ging noch einmal an den Bildern entlang. Manchmal blieb er stehen, als bewunderte er kunstvolle Fotografien. Vor einem Bild drehte er sich zu Winter um.

»Wir haben den gesellschaftlichen Umgang der Paare überprüft. Verwandte und Freunde. Manche überschneiden sich, jedenfalls auf einer oberflächlichen Ebene. Ich denke vor allen Dingen an Spanien. Einige gemeinsame Bekannte. Und die Freunde hier in Göteborg. Es sind eine ganze Menge Leute.«

»So ist das immer«, sagte Winter, »wenn Menschen ein normales soziales Leben führen.«

»Was ist das, ein normales soziales Leben?«

»So wie du und ich es haben, Bertil.«

»Wir führen ein normales soziales Leben?«

»So normal es eben geht.«

»Was ist normal? Was ist sozial?«

»Und was ist Leben, Bertil?«

»Jedenfalls nicht das, was wir auf diesen Fotos sehen.«

»Anders Dahlquist«, sagte Winter. »Er scheint ein Leben im Verborgenen geführt zu haben.«

»Der ja. An den habe ich schon eine Weile nicht mehr gedacht.«

»Da kannst du mal sehen. Keine fesselnde Persönlichkeit, nicht mal als Ermordeter. Sozial war er anscheinend nicht sonderlich begabt. Aber wenn man sie zählt, sind es drei, Bertil. Bis jetzt drei Morde in diesem Winter. Ungelöste Fälle.«

Ringmar wandte sich von den Fotos ab.

»Was diese Paare angeht, kommen wir nicht mehr umhin, einige Fragen zu stellen. Wie und warum. In ihrem Umfeld muss es jemanden geben, der beschlossen hat, sie zu töten, und der seine Absicht auch in die Tat umgesetzt hat. Außerdem in einer ausgeklügelten Weise. Wir denken, es war Chloroform oder eine ähnliche Substanz, aber wir wissen es nicht. Vielleicht erfahren wir es nie. In der Wohnung von Barkner fehlt eine Schachtel Schlaftabletten, wenn wir ihm glauben können.«

»Sie scheinen jedenfalls geschlafen zu haben.«

»Wenn wir ihnen glauben können. Jetzt wirkt es, als würden wir ihnen glauben. Tun wir das, Erik?«

»Wir haben kaum noch einen Grund, ihnen nicht zu glauben.«

»Nein, wir können sie nicht länger in Untersuchungshaft festhalten. Das verstehe ich. Wollen wir sie zu Weihnachten nach Hause schicken? Morgen ist Heiligabend.«

»Ja. Sie werden nicht flüchten.«

»Und was ist mit Spanien?«

»Das ist keine Flucht. Spanien ist so gut wie zu Hause, Bertil. So gut wie Schweden.«

»Nueva Scandinavia. Nueva Gotemburgo.«

»Genau«, sagte Winter. »Manche nennen es Nueva Estoccolmo.«

»Wollen wir die Jungs freilassen?«

»Hab ich nicht ja gesagt? Ich habe schon mit Molina gesprochen.«

»Gehen wir damit kein Risiko ein?«

»Dass es sich wiederholt? Nein.«

»Die Eltern werden sich freuen«, sagte Ringmar.

»Nicht unbedingt«, sagte Winter. »Nicht alle. Louise Carlix hat Lentner mehr oder weniger des Mordes an ihrer Tochter bezichtigt.«

»Im ersten Schock hätte sie jeden beschuldigt«, sagte Ringmar. »Sie wird sich schon wieder beruhigen.«

»Lentners Vater hatte auch so seine Zweifel, wenn man Edlund glauben kann.«

»Womöglich aus demselben Grund.«

»Hm.«

»Du solltest ihn sofort treffen, Erik.«

»Vor Weihnachten, meinst du? Das bedeutet heute. Morgen ist Heiligabend.«

»Sein Sohn kommt heute nach Hause.«

»Vielleicht sollte ich ihn hinbringen.«

»Du durchschaust soziale Muster besser als jeder andere, Erik. Du siehst Dinge, die keiner von uns sieht. Dir ist vertraut, was wir anderen Polizisten nicht erkennen.«

»Bei wem sehe ich was?«

»In der Oberschicht natürlich. Das ist doch deine Schicht.«

»Das möchte ich nicht gehört haben, Bertil.«

»Ich habe ja auch gar nichts gesagt. Und weil wir gerade von Eltern reden: Es ist bemerkenswert, dass sie alle in intakten Familienverhältnissen leben.«

»Was zum Teufel meinst du nun schon wieder damit? Intakt?«

»Keine Scheidungen. Die biologischen Eltern der vier Abkömmlinge sind alle nicht geschieden. Keine Stiefelternteile, keine Stiefgeschwister. Das ist heutzutage einzigartig.«

»Es ist deine Generation, Bertil. Ihr lasst euch doch auch nicht scheiden, oder?«

»Nein, da hast du recht.«

»Aber das ist nicht der Grund«, sagte Winter. »Der Grund ist ein ganz anderer.«

»Und der wäre?«

»Die Schicht«, sagte Winter. »In der Oberschicht lässt man sich nicht scheiden. Das wusstest du noch gar nicht, oder?«

Erik Lentner schwieg auf dem Weg nach Långedrag. So wie er auch nichts gesagt hatte, als er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er wusste, dass es trotzdem ein Gerichtsverfahren gegen ihn geben konnte, aber er wollte nicht reden, während sie am Fluss entlang in Richtung Meer fuhren. Im Westen ging die Sonne unter. Alles färbte sich langsam rot, aber es war ein anderer Rotton als das Rot auf dem Bettzeug in Lentners Wohnung. Er saß blass und schweigend neben Winter. Sein Gesicht war farblos, als wäre alles Blut aus ihm gewichen.

Sie bogen vor dem Gnistängstunnel ab und fuhren über die Torgny Segerstedtsgatan. Beim Käringberg wandte sich Lentner Winter zu.

»Von hier aus kann ich zu Fuß gehen«, sagte er.

»Ich fahre Sie nach Hause«, sagte Winter.

»Das möchte ich nicht.«

Winter fuhr weiter über den Långedragsvägen. Jetzt sah er das Meer, hinter den Häusern auf Hinsholmen. Auf dem Rugbyplatz zwischen der Straße und dem Wasser spielte eine Gruppe Fußball. Fußball im Dezember, das war ja wie in England. Oder in Spanien. Hinter dem Konfektionsgeschäft bog Winter nach rechts ab. Früher war dort ein Lebensmittelladen gewesen. Jetzt schloss auch das Konfektionsgeschäft. Gegenüber hatte es einen Kiosk gegeben. Er fuhr zum Anleger von Långedrag hinunter und parkte hinter dem alten Wirtshausgebäude. Er sah Lentner an.

»Okay, ich bleibe hier. Sie können den Hügel allein hinaufgehen, wenn Sie wollen.«

»Vielen Dank.«

Aber Lentner rührte sich nicht. Schweigend saßen sie da. In einem teilweise abgedeckten Motorboot auf der anderen Seite des Hafenbeckens stöberte ein Mann herum. Das Boot war aus Holz. Der Mann und das Boot wirkten gleich alt, hundert Jahre zirka. Vieles hier sah hundert Jahre alt aus, ausgenommen ein paar neugebaute Villen, die den Berg hinaufkletterten oder auf ins Meer ragenden Klippen standen.

»Edle Schuppen«, sagte Winter.

»Ha, ha, ha.«

»Die müssen erst kürzlich gebaut worden sein.«

»In meiner Kindheit gab es hier keine Neubauten«, sagte Lentner.

»Sie sind also hier aufgewachsen?«

»Habe ich das nicht gesagt?«

»Doch, doch. Ich bin in Hagen aufgewachsen, ich war fünf, als wir dorthin gezogen sind.«

Lentner drehte sich zu ihm um. »Und von wo?«

»Kortedala.«

»Ich wäre lieber in Kortedala aufgewachsen«, sagte Lentner.

»Warum das?«

»Dann wäre das alles nicht passiert.«

Aneta Djanali und Fredrik Halders brachten Martin Barkner nach Hause zu Mama und Papa. Schweigend betrachtete er die Felder entlang des Särövägen. Da draußen winkt die Freiheit, dachte Aneta Djanali, aber froh sieht er nicht aus. Ein Tag vor Heiligabend, und er kann sich nicht freuen.

Halders bog zum Askimsbad ab. Sie fuhren an dem leeren Parkplatz vorbei, der in seiner Verlassenheit riesig wirkte, wie ein stillgelegtes Flugfeld. Hinter den heruntergekommenen Gebäuden brütete das Meer. Es waren dieselben Gebäude wie in ihrer Kindheit. An schönen Nachmittagen war sie manchmal mit ihren Eltern hierhergegangen. Wie lange bin ich hier nicht mehr gewesen … zwanzig Jahre? Warum bin ich nie wieder hergekommen? Nichts ist verändert worden. Aneta Djanali sah das alte Schwimmbecken, voller Risse, leer. Nichts sieht so leer und einsam aus wie ein vergessenes Schwimmbecken. Ein Land beginnt rückwärts zu gehen, wenn man aufhört, Dinge zu reparieren. Es ist wie in den Entwicklungsländern Afrikas. Dort gibt es keine Entwicklung mehr. Wenn etwas kaputtgeht, bleibt es kaputt. So ist es in Burkina Faso, meinem zweiten lieben Heimatland. Die Pools in den besseren Hotels in Ouagadougou halten nicht lange. Sie sah den Askimspool im Sonnenlicht blinken wie einen Krater, erbaut aus unechten Silberbarren. Verlassen. Er schien seine Sehnsucht nach Wasser herauszubrüllen, nach Kindern, Geschrei, Rufen, Lachen, Explosionen, wenn die Körper auf der Wasseroberfläche aufklatschten. Heute sah es besonders schlimm aus, da die Luft klar und kalt war und die Sonne den Beton unbarmherzig beleuchtete. Und das Meer! Die Wellen bewegten sich vorsichtig aufs Ufer zu, als wären sie erstaunt, dass sie noch nicht zu Eis erstarrt waren. Sie erinnerte sich an ein Foto, das ihr Vater an einem grauen Tag aufgenommen hatte. Sie war vielleicht zehn, elf Jahre alt gewesen. Alles war grau und weiß und schwarz auf diesem Foto. Sie hatte am Wasser gestanden, allein am Ufer, nur ein Schatten, eine Silhouette. Und das Wasser hinter ihr war wie Eis gewesen, eingefroren in einer einzigen Bewegung.

Halders hatte das Auto in einen kleineren Weg gelenkt. Links lag Askims Campingplatz, der seit langem Heimat für die Außenseiter war, Süchtige, Verrückte in ihren geächteten Wohnwagen. Eine letzte Freistatt für leidende Menschen unserer Zeit. Die Kommune oder wer dafür zuständig war, hatte den Campingplatz geschlossen und ihn wieder geöffnet und wieder geschlossen und wieder geöffnet. Jetzt hing Sonnendunst über dem Platz. Aneta Djanali sah einige Gestalten, die sich langsam bewegten, wie etwas, das fast mit der Luft zusammenzuhängen schien, fast wie Geister in einer anderen Welt. Es lag eine Art gesellschaftliche Ironie darin, dass die feinen Bürger von Askim in ihren horrend teuren Häusern mit Meerblick so nah bei den Pechvögeln der Gesellschaft wohnten. Aber die Unglücklichen dort unten hatten auch Meerblick, einen noch besseren Blick. Vielleicht führten sie ja ein gutes Leben, einmal abgesehen von den besinnungslosen Delirien, den Amphetaminräuschen, dem Kater danach, der Alltagsgewalt, Krankheiten, Kindesmisshandlungen, Überfällen und der Angst.

»Ist es hier?« Halders drehte sich zu Barkner auf dem Rücksitz um. Der Mann antwortete nicht. Aber hier war es. Aneta Djanali sah das Paar mittleren Alters, das bereits vom Patio vor der Villa auf dem Weg zum Auto war. Sie drehte sich um. Ja, Meerblick. Und Aussicht auf die Wohnwagen, den Campingplatz. Alles mit einem einzigen Blick zu erfassen, das ganze Spektrum. Das war kein Sonnendunst über dem Platz, es war der Rauch aus Benzinfässern, in denen Feuer brannten.

»Martin!«

Sie hörte die Stimme der Mutter, Linnea Barkner. Der Vater stand ein paar Schritte hinter ihr. Stig. Er war groß wie die Fahnenmaste, die den Eingang zum Schwimmbad säumten. Die Frau war auch groß, sie hatte die Autotür bereits aufgerissen und war dabei, ihren Sohn in die Freiheit zu ziehen.

»Mama«, sagte er, und sie umarmte ihn. Stig Barkner kam näher und drückte den Oberarm seines Sohnes. Näher kommt er ihm nicht, dachte Aneta Djanali. Und wir, Fredrik und ich, existieren gar nicht. Wir könnten Taxifahrer sein, und das sind wir wohl auch in etwa. Taxifahrer, die ein paar Fragen stellen wollten.

Linnea Barkner ging mit ihrem Sohn auf das Haus zu. Es war nicht leicht zu erkennen, wer von ihnen wen stützte. Stig Barkner folgte ihnen. Aneta Djanali und Halders blieben neben dem Auto stehen. Jetzt hatte die kleine Familie die Tür erreicht. Die Villa mit Veranda im Souterrain war teilweise mit glänzendem Holz verkleidet, vielleicht Teak, auf das die Sonne hübsche Flecken tupfte. Es war ein Haus, in dem Menschen mit Sinn für Qualität wohnten. Ich könnte hier wohnen. Du könntest hier wohnen.

»Man muss sie verstehen, sie trauern«, sagte Halders.

»Und außerdem müssen sie einen Schock verkraften«, sagte Aneta Djanali.

»Ich glaube immer noch, dass er es war«, sagte Halders.

Sie blieb stumm.

»Also, wollen wir reingehen?«, sagte Halders.

»Es ist ganz einfach unbegreiflich«, sagte Ann Lentner. »Es ist … entsetzlich. Unbegreiflich.«

Ihr Mann nickte. Winter beugte sich vor. Von seinem Platz auf dem Sofa sah er Wasser bis nach Asperö und noch weiter, bis nach Brännö. An Brännö wollte er nicht denken. Es musste noch viel Zeit vergehen, bis er wieder in die südlichen Schären fahren würde, wenn er nicht unbedingt musste.

Erik Lentner hielt sich irgendwo im Haus auf. Winter wollte allein mit den Eltern sprechen. Mats Lentner wirkte gefasst. Vielleicht würde er dieses Mal nicht zusammenbrechen. Und sie hatten ihm keinen Kaffee oder etwas anderes angeboten.

»Wie konnten Sie nur glauben, dass Erik es getan hat? Wie konnten Sie?«

»Wir glauben eigentlich gar nichts«, antwortete Winter. »Wir überprüfen nur alle Möglichkeiten.«

»Aber … unseren Sohn so viele Tage im Gefängnis festzuhalten. Das ist doch furchtbar.«

»Untersuchungshaft«, sagte ihr Mann.

»Das ist dasselbe«, sagte sie.

Mats Lentner schwieg. Winter folgte seinem Blick aus dem Fenster. Eigentlich waren es Glaswände. Winter vermutete, dass Lentner in den vergangenen Wochen viele Stunden auf diese Art dagesessen hatte, den leeren Blick auf das Meer gerichtet.

»Was wollen Sie eigentlich?« Ann Lentner sah Winter wütend an. Sie ist wütend, und ich kann es verstehen. »Was wollen Sie von uns?«

»Ich möchte ein paar Fragen stellen«, sagte er. »Ich möchte es verstehen.«

»Er macht doch nur seinen Job«, sagte Mats Lentner.

»Auf wessen Seite bist du eigentlich?« Jetzt sah sie ihren Mann an.

»Ich bin auf … niemandes Seite. Ich möchte nu…«

»Auf niemandes Seite?«, unterbrach sie ihn. »Was meinst du damit?! Bist du nicht auf Eriks Seite? Was sagst du da? Bist du nicht auf der Seite deines Sohnes?«

»Natürlich bin ich das. Du missverst…«

»Was wollen Sie verstehen?«, unterbrach sie ihren Mann wieder und sah Winter an. »Wie soll man etwas so Ungeheuerliches verstehen? Es ist unbegreiflich!«

»Sie haben recht«, sagte Winter. »Ich meine, ich möchte wissen, was passiert ist. Und wie es passiert ist.«

»Ich weiß nicht, ob ich das wissen möchte«, sagte sie. »Es reicht langsam.«

»Ich will es wissen«, sagte Mats Lentner. Er hatte den Blick vom Meer abgewandt und schaute ins Zimmer. Wirkte jetzt interessierter, als hätte er beschlossen, sich an dem Gespräch zu beteiligen.

»Haben Sie mit der Familie Carlix gesprochen?«, fragte Ann Lentner.

»Worüber?«, fragte Winter zurück.

»Über … über alles«, sagte sie. »Über diese ganze schreckliche Geschichte.«

»Nein, noch nicht, ich werde es aber noch tun.«

»Das will ich hoffen. Dann können Sie ihnen ausrichten, dass Erik wieder zu Hause ist!«

»Ann…«

»Sie hat uns angerufen«, sagte Ann Lentner, ohne ihren Mann zu beachten. »Sie hat angerufen und Erik beschuldigt … dass er … dass er …«

Sie brachte es nicht über die Lippen, es war zu viel, zu schrecklich.

»Genau wie Sie!«, fuhr sie fort. »Sie sind alle gleich!«

»Aus welchem Grund glaubt sie, Erik habe es getan?«, fragte Winter.

»Glauben? Sie war sich sicher.«

»Warum? Was hat sie gesagt?«

»Das … habe ich vergessen.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Ich habe es vergessen, wenn ich es Ihnen doch sage!«

»Sie hat behauptet, Erik sei gewalttätig gegen Gloria gewesen«, sagte Mats Lentner. Er sagte es in einem trockenen Ton, als wollte er die Information so sachlich wie möglich vortragen.

»Herrgott!«, sagte seine Frau.

»Das haben wir nie geglaubt«, sagte Mats Lentner.

»Es nie geglaubt?«, sagte Winter. »Hat man ihm das denn schon früher vorgeworfen?«

»Nein.«

»Was spielt das für eine Rolle?«, sagte Ann Lentner. »Es bleibt trotzdem eine Lüge!«

»Sie haben Erik bestimmt auch gefragt«, sagte Mats Lentner. »Und Louise Carlix wird Ihnen dasselbe erzählt haben.«

Winter nickte.

»Haben Sie Erik gefragt?«, sagte Ann Lentner. »Was hat er geantwortet?«

»Dass er nicht gewalttätig war.«

»Das sag ich doch! Genau, was ich gesagt habe!«

»Haben Sie vor den Morden schon mal mit Glorias Eltern darüber gesprochen?«, fragte Winter.

»Nein. Und es ist auch … es zeigt doch nur, dass sie es erfunden hat. Warum hat sie es nicht früher gesagt?! Sie hat es erst gesagt, als … als Gloria tot war.«

»Sie haben vorher noch nie etwas von Handgreiflichkeiten gehört?«

»Nein, nie.«

»Es ist ganz normal«, sagte Mats Lentner.

»Normal?!« Seine Frau sah ihn an. »Normal? Was meinst du damit?«

»Dass Menschen, die von einem Schicksalsschlag getroffen werden, einen anderen beschuldigen. Sie sucht eine Erklärung. Ich weiß nicht. Plötzlich war Erik in ihren Augen schuldig. Plötzlich hat er es getan.«

»Er hat es nicht getan!«

»Nein, aber sie glaubt es. Jedenfalls für einen Moment.« Mats Lentner sah Winter wieder an. »Sie haben die Morde gesagt. Was meinen Sie damit?«

»Es ist noch eine zweite junge Frau umgebracht worden«, sagte Winter. »Die Morde ähneln einander.«

»Wir haben … von dem Todesfall gehört. Aber haben sie miteinander zu tun?«

»Wir glauben ja.«

»Handelt es sich um Mord?«

»Das vermuten wir.«

»Inwiefern ähneln die Morde einander? Darüber habe ich weder etwas gelesen noch gehört.«

»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, antwortete Winter. »Es gibt jedenfalls einige Gemeinsamkeiten. Ich weiß nicht, ob man es Zusammenhänge nennen kann. Aber in der Vorgehensweise gibt es Ähnlichkeiten.«

»Ist es derselbe Mörder?«, fragte Ann Lentner.

»Das wissen wir nicht. Möglich ist es.«

»Was gibt es denn für Gemeinsamkeiten oder wie man das nun nennen soll?«, fragte Mats Lentner. »Können Sie uns etwas darüber sagen?«

»Die Costa del Sol.«

»Was?«

»Beide Fälle hängen mit der Costa del Sol zusammen.«

»In welcher Form?«

»Es hat mit Ihnen zu tun«, sagte Winter.

»Mit uns? Wie meinen Sie das?«

»Die Eltern aller Beteiligten besitzen oder besaßen ein Haus an der Costa del Sol.«

»Aller Beteil… wie meinen Sie das?«

»Auch in dem anderen Mordfall besitzen beide Elternteile ein Haus an der Costa del Sol«, antwortete Winter.

»Wo?«

»Nueva Andalucia.«

»Das ist groß«, sagte Mats Lentner. »Wie heißen sie?«

Winter zögerte. Aber wenn er in diesem Fall weiter ermitteln würde, wäre es irgendwann sowieso unumgänglich, die Namen zu nennen.

»Holst und Barkner«, sagte er.

»Madeleine!«, schrie Ann Lentner und legte die Hand auf den Mund.

»Ist sie tot?«, fragte Lentner.

»Ja, leider.«

»Wie … wie Gloria?«

Winter antwortete nicht.

»Herrgott, Herrgott!«, sagte Ann Lentner. »Was geht hier vor sich?«

»Haben Sie sie gekannt?«, fragte Winter. »Haben Sie Madeleine Holst gekannt?«

»Wir kannten … die Familie. Früher«, sagte Mats Lentner.

»Früher? Was meinen Sie mit früher?«

Lentner sah seine Frau an, dann wieder Winter.

»Wir haben den Kontakt abgebrochen.«

»Warum?«

Lentner schaute seine Frau an.

»Warum?«, wiederholte Winter.

»Es ist etwas passiert.«