19
Martin Barkner hielt sich irgendwo im Haus auf. Es war groß, mindestens drei Stockwerke, soweit Aneta Djanali es beurteilen konnte. Es war wie ein Schloss. Warum es aufgeben für ein anderes Haus in Spanien? Vielleicht steckte ein Zwang dahinter. Die Oberschicht musste eben mehrere Häuser gleichzeitig besitzen, in mehreren Ländern. In dem Punkt gehörte sie auch zur Oberschicht. Ihr Vater besaß das Haus in Ouagadougou, und sie wohnte in dem Haus in Lunden. Früher hatte sie eine Wohnung in Kommendantsängen gehabt. Das waren sogar drei Wohnungen.
»Sie waren in der Kindheit befreundet«, sagte Linnea Barkner. »Martin und Madeleine.«
»Wo haben sie sich kennengelernt?«, fragte Halders.
»Das war … wohl in Spanien.« Stig Barkner warf seiner Frau einen Blick zu. »War es nicht in Nueva?«
Sie nickte.
»Nueva? Was ist das?«, fragte Halders.
»Nueva Andalucia«, sagte Linnea Barkner. »Dort hatten wir ein Haus, genau wie Familie Holst.«
»Nueva Andalucia?«
»Ja. Costa del Sol.«
Halders nickte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er war noch nie dort gewesen, aber wenn man einen Chef wie Winter hatte, kam man nicht an der Costa del Sol vorbei. Und nun war die Costa del Sol nach Göteborg gekommen.
»Haben Sie nah beieinander gewohnt?«, fragte Aneta Djanali.
»Ja … ziemlich«, antwortete Linnea Barkner. »Es war nicht weit. Die Siedlung ist sehr angewachsen, seit wir dort ein Haus gekauft haben … und Annica und Peder … aber das Zentrum ist nicht so groß.«
»Jeder kennt jeden?«, sagte Halders.
»Das will ich nicht behaupten. Viele sind später zugezogen … manche verkaufen ihre Häuser wieder. Trotzdem, klar, man kennt viele. Das ergibt sich ganz von selbst. Wir gehören zu den Veteranen. Und Holsts gehörten … gehören auch dazu.«
»Sie haben ›gehörten‹ gesagt. Wohnen Holsts nicht mehr dort?«, fragte Halders.
»Doch … aber nach allem … Ich weiß nicht … ich weiß nicht, was da jetzt los ist.«
»Hatten Sie Feinde?«, fragte Halders.
Die beiden Barkners zuckten zusammen, als wären sie gleichzeitig von etwas Spitzem gestochen worden.
»Ist die Frage so abwegig?«, sagte Halders. »Waren alle Anwohner in der Umgebung beste Freunde?«
»Mit wem man nichts zu tun haben wollte, mit dem pflegte man keinen Umgang«, antwortete Stig Barkner. »So funktioniert doch die Chemie zwischen Personen.«
Linnea Barkners Blick glitt durch das große Fenster hinaus aufs Meer. Sie war blass gewesen, als sie kamen, jetzt hatte sie Farbe bekommen, genau wie ihr Mann. Sie wirkten erleichtert, nachdem sich die größte Anspannung etwas gelegt hatte. Die Tragödie, in der sie sich befanden, war zwar noch nicht beendet, aber ihr Sohn war wieder da. Ihre zukünftige Schwiegertochter war nicht mehr da, doch sie war nicht ihr eigenes Fleisch und Blut. Fleisch und Blut waren stärker als alles andere. Jetzt war es leichter, weiterzuleben. Sie würden wieder zu ihrem Haus ins Neue Andalusien fahren. Aneta Djanali würde niemals dorthin fahren, erst recht nicht nach allem, was geschehen war. Die Schweden von der Sonnenküste schienen eine einzige große unglückliche Familie zu sein. Sie folgte Linnea Barkners Blick aus dem Fenster und sah das Meer, davor den gottvergessenen Campingplatz. Er war der Stinkefinger für die Bürger von Askim, eine Provokation und eine fast tragikomische dazu. Das Gesocks hatte sich mitten in der High Society breitgemacht. Aneta Djanali sah eine Gruppe einen großen Tannenbaum in den Sandboden rammen. Einige trugen rote Zipfelmützen. Sie hatten schon angefangen, Weihnachten zu feiern, obwohl erst morgen Heiligabend war. Jetzt stand der Baum, schief zwar, aber die Weihnachtsmänner lebten ihre Freude in einem taumeligen Tanz um den Tannenbaum aus. Zwei Frauen waren auf dem Weg zum Meeresufer. Vielleicht wollten sie den Sonnenuntergang bewundern. Kinder konnte Aneta Djanali keine auf dem Platz entdecken. Weihnachten war das Freudenfest der Kinder, aber die Erwachsenen da unten gaben auch ihr Bestes. Sie waren selbst einmal Kinder gewesen. Vielleicht erinnerten sich einige von ihnen noch an Reste dessen, was sie verdrängt hatten. Weggesoffen hatten, sobald sie Gelegenheit dazu bekamen. Manche nannten das Selbstmedikamentierung. Manchmal war die Behandlung schlimmer als die Ursache.
»Die treiben es mal wieder ziemlich wild«, sagte Linnea Barkner. Ihre Stimme klang sanft, ohne Arroganz, Hass oder Verachtung. Es war nur eine Feststellung.
»Es sind unsere Nachbarn«, sagte Stig Barkner. »Man gewöhnt sich daran.«
»Die kommen nie hier herauf«, fügte Linnea Barkner hinzu.
»Und wir gehen nie zu ihnen hinunter«, sagte ihr Mann. Vielleicht spielte der Schatten eines Lächelns um seine Mundwinkel.
Gute Nachbarschaft, dachte Fredrik Halders. Wie im alten Nueva.
»Einige haben wir schon gesehen, da waren sie noch Kinder«, sagte Linnea Barkner und zeigte mit dem Kopf auf die fröhliche Szene.
»Dann sind also manche auf dem Campingplatz aufgewachsen?«, fragte Aneta Djanali.
»Ja.« Linnea Barkner wandte sich ihr zu. »So kann’s gehen in diesem Land, ist das nicht merkwürdig?«
»Ich sehe keine Kinder«, sagte Aneta Djanali.
»Es gibt auch jetzt Kinder. Aber Weihnachtsmänner habe ich nicht so oft gesehen«, sagte Stig Barkner. »Das mag daran liegen, dass wir Weihnachten normalerweise in Spanien feiern.«
Klar, dachte Aneta Djanali. Dort kann man die Eigenarten Schwedens besser ertragen. Alles wird etwas erträglicher aus der Ferne. Es erweitert die Perspektive. Aber manchmal ist es umgekehrt. Wer im Ausland wohnt, hat eine engere Perspektive oder gar keine. Vielleicht sind die Golfplätze im Weg. Es gibt so viele, und sie sind so groß.
»Haben Sie mit Madeleines Eltern gesprochen?«, fragte Halders.
»Natürlich«, sagte Stig Barkner. »Wir haben schon von Spanien aus angerufen. Als wir es … erfahren haben. Und hier haben wir uns getroffen. Sie wohnen nicht weit von uns entfernt, in Hovås. Sie können nicht glauben, dass Martin … so etwas tun könnte. Niemals.« Er verstummte. Er schien nachzudenken. Dann schaute er auf. »Dafür bin ich dankbar.«
»Wer sollte so etwas glauben?«, sagte Linnea Barkner. »Es ist doch selbstverständlich … von seiner Unschuld überzeugt zu sein.«
»Nicht unbedingt«, sagte Fredrik Halders. »Manchmal ist es umgekehrt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie sind das sicher schon gefragt worden, aber ich frage noch einmal. Kennen Sie einen jungen Mann, der Erik Lentner heißt?«
Stig und Linnea Barkner sahen sich an.
»Ist Ihnen der Name bekannt?«, fragte Halders. »Kennen Sie Erik Lentner? Oder seine Eltern? Sie heißen Mats und Ann.«
»Nein, eigentlich nicht …«, sagte Stig Barkner. »Den Namen haben wir wohl gelesen. Aber sie haben nicht in Nueva gewohnt.«
»Sie hatten auch ein Haus an der Costa del Sol. Oder eine Wohnung, in Marbella.«
Wieder tauschten Stig und Linnea Barkner einen Blick.
»Die Eltern der jungen Frau heißen Stefan und Louise Carlix«, sagte Aneta Djanali. »Ist Ihnen der Name bekannt?«
»Nein«, antwortete Stig Barkner.
»Die ermordete Tochter heißt Gloria Carlix.«
»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Stig Barkner.
»Carlix’ hatten auch ein Haus an der Costa del Sol.«
»Herr im Himmel«, sagte Linnea Barkner. »Was geht hier vor?«
»Da unten haben sich viele Göteborger angesiedelt«, sagte Stig Barkner. »Daran ist nichts Ungewöhnliches. Da läuft man sich halt über den Weg. Aber das ist bald wieder vorbei.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Halders. »Was ist bald vorbei?«
»Alles.« Stig Barkner machte eine Handbewegung, als würde dieses »alles« das Haus, den Campingplatz, das Meer und das Ufer einschließen. »Da unten wird es langsam zu heiß und zu trocken. Im August und September ist es unmöglich, sich vor elf Uhr abends draußen aufzuhalten.«
»Dann müssen sie nachts Golf spielen«, sagte Fredrik Halders.
»Das machen die tatsächlich.«
»Glauben Sie, das hängt mit der zunehmenden Trockenheit zusammen?«, fragte Halders. »Brauchen die Golfplätze nicht viel Wasser?«
»Da bin ich sicher. Aber ich spiele kein Golf.«
»Kann man das vermeiden?«
»Mit ein bisschen Anstrengung, ja.«
Halders hielt Barkners Kommentar für Humor, trockenen Humor. Halders sah die Landschaft in seiner Phantasie vor sich. Meer, eine verdammt große Steinwüste und eine verdammte Menge Golfplätze wie grüne Wunden in der roten Erde.
»Was wissen Sie über die Familie Lentner?«, fragte Aneta Djanali.
»Das haben wir doch längst alles erzählt«, antwortete Linnea Barkner. »Den Namen haben wir schon mal gehört, mehr nicht.«
»Es ist sehr ernst«, sagte Aneta Djanali. »Das kleinste Detail kann wichtig sein. Etwas, das scheinbar nichts zu bedeuten hat, kann sehr viel bedeuten. Wenn Sie also etwas wissen, sagen Sie es bitte.«
Das Paar tauschte zum dritten Mal einen Blick.
»Wir … wollen keinen Klatsch verbreiten oder wie man das nennen soll.«
»Wenn Sie Informationen haben, sind Sie verpflichtet, sie uns zu geben«, sagte Fredrik Halders.
»Es ist nur Klatsch«, sagte Stig Barkner. »Der reinste Klatsch, sonst nichts.«
»Was also?«, fragte Halders etwas lauter.
»Gerüchte, Klatsch.«
»Worüber, verdammt noch mal?«
Das Paar Barkner zuckte zusammen, als hätte Halders sie wieder gestochen.
»Über Peder Holst. Es ging darum, dass er … angeblich hat er vor vielen Jahren mal etwas mit einem Jungen gemacht. Aber das ist nur üble Nachrede. Wirklich furchtbar.«
»Was gemacht?«, fragte Halders.
»Nichts, da war nichts.«
»Was gemacht?!«
Stig Barkner zuckte wieder zusammen.
»Sie brauchen doch nicht so zu schreien«, sagte er.
»Es war dieser Junge, Lentner«, sagte seine Frau. »Aber das ist schon lange her. Daran kann sich keiner mehr genau erinnern. Den Leuten ist es egal.«
»Ist nie erwogen worden, Anzeige zu erstatten?«
»Peder Holst hat etwas mit Erik Lentner gemacht?«, fragte Aneta Djanali.
»Nein. Das war gelogen.«
»Wer hat es dann behauptet? Was ist passiert?«
»Wir wissen es nicht. Fragen Sie Peder. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein. Damals. Es gibt keinen Grund, alles wieder aufzurühren. Ich verstehe nicht, warum das wieder ausgegraben werden muss. Haben die Eltern des Jungen etwas gesagt?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Halders.
»Damals haben sie wohl miteinander verkehrt«, sagte Linnea Barkner. »Das muss ja so gewesen sein. Wir haben hinterher nicht weiter gefragt. Natürlich haben wir nicht darüber geredet.«
»Verkehrt? Haben die Familien Holst und Lentner gesellschaftlich miteinander verkehrt?«
»Ja … vielleicht einige Male, aber dann war es vorbei. Nach … dieser Sache.«
Winter traf Halders und Aneta Djanali auf halber Strecke am Frölunda torg, der Weg war für alle gleich weit, und Winter musste noch Weihnachtsgeschenke besorgen, bevor es zu spät war. In den Einkaufszentren wimmelte es von Menschen, aber es herrschte nicht so ein Wahnsinnsgedränge wie in der Innenstadt.
Sie fanden einen leeren Tisch bei McDonald’s.
»Vor Weihnachten soll man frugal essen«, sagte Halders.
»Ich möchte nichts essen«, sagte Aneta Djanali.
»Niemand möchte etwas essen«, sagte Winter. »Ich hole uns Kaffee.«
»Bring mir einen Big Mac mit«, sagte Halders.
Winter ging schweigend davon. Er musste lange anstehen und wurde ungeduldig. Endlich war er an der Reihe und gab seine Bestellung auf. Halders sah erstaunt aus, als er mit dem Hamburger an den Tisch kam.
»Sag nicht, dass du bloß einen Witz gemacht hast, Fredrik.«
»Nein, nein, du bist ein barmherziger Mensch, Erik.«
Winter setzte sich und nahm einen Schluck Kaffee, der genauso wie im Polizeipräsidium schmeckte. Direkt neben sich hörte er jemanden auflachen. Es war Fredrik. Nein, es war jemand anders.
»So eine Scheißlokalität«, sagte Halders.
»Die sind doch alle gleich«, sagte Winter.
»Ich meine nicht McDonald’s. Ich meine Askim.«
»Was ist mit Askim?«
»Es war fast unwirklich.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht, was ich meine. Ich habe es nur mit Lunden verglichen. Und Redbergslid. Dort ist das richtige Göteborg, wenn du mich fragst.«
»Niemand fragt dich, Fredrik«, sagte Aneta Djanali.
»Ich habe versucht, das Ehepaar Lentner nach Peder Holst auszufragen.« Winter stellte den Kaffeebecher ab. Den Giftbecher.
Sie hatten sich am Telefon kurz über die Verhöre unterhalten und dann beschlossen, sich auf halbem Wege zu treffen.
»Hast du mehr rausgekriegt als wir?«, fragte Halders. »Ich meine, hast du überhaupt was rausgekriegt?«
»Eigentlich nicht.«
»Warum sind wir dann hier?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Winter. »Sie haben immerhin von sich aus damit angefangen.«
»Wir mussten Barkner förmlich dazu zwingen«, sagte Halders.
»Jedenfalls haben beide geredet«, sagte Aneta Djanali.
»Hat es etwas zu bedeuten?«, fragte Halders.
»Es ist offenbar nie zu einer Anzeige gekommen«, sagte Winter. »So viel habe ich aus ihnen herausgeholt.«
»Aber Lentners wollten keine Details verraten?«
»Nicht mehr, als dass sie einen Verdacht hatten, der offenbar die Freundschaft beendete.«
»Zwischen den Familien Holst und Lentner besteht also doch ein Zusammenhang«, sagte Aneta Djanali.
»Oder zwischen Madeleine und Erik«, sagte Winter.
»Oder zwischen irgendwelchen anderen Personen«, sagte Halders. »Wollen wir Herrn Holst einbestellen?«
»Irgendwann«, sagte Winter. »Lass ihn erst in Ruhe trauern.«
»Weihnachten über trauern«, sagte Aneta Djanali.
»Man muss froh sein«, sagte Halders. »Froh sein über das, was man hat.«
Das war kein Scherz, keine Ironie. Halders hatte seine Exfrau bei einem Autounfall verloren, sie war von einem Betrunkenen überfahren worden. Seine Kinder hatten ihre Mutter verloren. Mit Müh und Not war er durch die Weihnachtstage gekommen. Und durch all die anderen schwarzen Tage des Jahres, die darauf folgten. Jetzt musste man froh sein.
»Es gibt bestimmt einen Zusammenhang«, sagte Aneta Djanali. »Wenn nicht in der Sache mit Holst, dann in einer anderen. Es kann doch unmöglich ein Zufall sein, dass es diese beiden Paare getroffen hat, diese beiden jungen Frauen. In der Art und Weise, wie der Täter vorgegangen ist. Es besteht ein Zusammenhang. Wir müssen versuchen, ihn herauszufinden.«
Sie sah Winter an. Er dachte genau wie sie, sie sprach aus, was sie alle glaubten.
»Wir brauchen DNA-Proben von den Eltern«, sagte Halders.
»Natürlich«, sagte Winter.
»Eine schreckliche Vorstellung, oder?«
»Es ist nicht das erste Mal«, sagte Winter.
Gerda Hoffner versuchte in ihrer freien Zeit abzuschalten. Sie hatte Heiligabend Dienst, und es würden intensive vierundzwanzig Stunden werden. Wenn sie vorbei waren, war auch Weihnachten vorbei, und sie wäre mittendrin gewesen, mitten im Auge des Orkans, wenn man es so ausdrücken konnte, aber ruhig würde es nicht sein im Auge des Orkans. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie dachte an alles mögliche andere, während sie die Avenyn entlangging. Dämmerung senkte sich über die Dächer. Die Beleuchtung war festlich, aber ziemlich zurückhaltend, vielleicht eine nordische Version von Weihnachtskarneval. Viele Menschen waren unterwegs. Fast alle trugen Pakete, die in Geschenkpapier eingewickelt waren. Sie kam an Wettergrens vorbei. Die Kunden im Laden konnten sich kaum bewegen. Bücher waren wie immer das Weihnachtsgeschenk des Jahres. Die Bücher auf den Nachttischen in den beiden Wohnungen fielen ihr ein, obwohl sie beschlossen hatte, nicht mehr daran zu denken. Nur noch wenige Hundert Meter, und sie wäre dort. Aber dort hatte sie nichts zu suchen. Für sie war der Fall jetzt erledigt. Winter und seine Mitarbeiter würden übernehmen. Sie wünschte ihnen Glück und hoffte, dass sie den Täter bald fanden. Sie war nicht sicher, ob es ihnen gelingen würde. Nicht alle Morde wurden aufgeklärt, nicht einmal in Kriminalromanen, nicht in den modernen.
Vor Tvåkanten stand ein Obdachloser und verkaufte die Straßenzeitung. Er sah richtig fertig aus, verkatert. Das schien für ihn ein natürlicher Zustand zu sein, ein ewiger Kater ohne Rausch, wenn er dem entkommen war. Vermutlich wechselte er ständig zwischen Rausch und Nüchternheit. Gerda dachte an das Paar mit dem Kind im Supermarkt in Kungsladugård. Auch daran wollte sie nicht denken. Sie wollte nicht an all das Elend denken. Sie wollte nur entspannen. Deswegen spazierte sie die festliche Avenyn entlang. Es sollte leichter sein, sich im Weihnachtsstress zu entspannen, wenn man sich selbst keinen Stress machte. Sie würde kein Weihnachtsgeschenk kaufen. Darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie dachte nie darüber nach, wie allein sie war. Bei der Arbeit merkte man nicht, dass man einsam war, oder? Es gab so viel zu tun. Sie hatte es nicht nötig, zu Hause in Sandarna zu sitzen und die Wände anzustarren oder die arme Straßenbahn, die sich den Sannabacken heraufquälte wie eine Eisenbahn, von der sie vor langer Zeit als Kind gelesen hatte. Wie hieß das Buch noch? Es war klein, mehr wie ein Heft gewesen. Es hatte von einer Eisenbahnfamilie gehandelt, und es war gut gewesen. Gab es das noch immer zu kaufen? Soll ich zu Wettergrens gehen und es mir selbst zu Weihnachten schenken? Nein, das ist zu anstrengend. Ich will keinen Stress. Den können sich andere antun. Ich möchte lieber ein Glas Wein in einem Pub trinken. Aber das brauche ich dem da ja nicht zu sagen.
»Faktum, meine Dame? Wie wär’s mit der neuesten Ausgabe?«
Ja, warum nicht. Ihren Zwanziger konnte er genauso gut in Alkohol umsetzen wie sie. Das war besser. Sie würde doch lieber keinen Alkohol trinken. Auch wenn sie dienstfrei hatte, konnte sie etwas für die Gesellschaft tun.
»Okay«, sagte sie, »geben Sie mir eine.«
»Besten Dank, meine Dame.«
Dame? Sie war keine Dame. Sah sie aus wie eine Dame? Was war eine Dame? Sie wollte keine »Dame« sein. Hatte er sein Sehvermögen versoffen? Vielleicht war er halb blind von Selbstgebranntem. Er bewegte sich spastisch, seine Nerven hatte er bestimmt versoffen. Sie hatte einmal einen alten Rocker im Fernsehen gesehen, der hatte auch so gezappelt. Vielleicht war dieser Mann ein alter Rocker. Bei deren hartem Lebensstil verbrannten Sehvermögen und Urteilsvermögen.
Aber vielleicht bin ich ja alt, sehe alt aus.
Sie nahm die Zeitung entgegen.
»Danke, danke, zwanzig Kronen. Die kommen mir wie gerufen. Ich will Weihnachtsgeschenke für meinen Sohn kaufen«, sagte der Mann. »Er ist Hockeyspieler. Da braucht er viele Sachen. Fragen Sie mich! Ich hab früher auch mal Hockey gespielt. Man braucht wahnsinnig viel Schutzausrüstung. Und jetzt noch mehr als zu meiner Zeit.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Spielen Sie auch Hockey?«
»Ich spiele kein Eishockey«, sagte sie. »Aber ich hab mal ein Spiel gesehen.«
»Ein Spiel? Nur eins? Ha, ha, ha. Dann haben Sie noch viel Spaß vor sich.«
»Tschüs«, sagte sie und wollte sich entfernen.
»Tommy Näver ist mein Name«, rief er ihr nach. »Ich stehe immer hier. Das ist mein Platz. Ich bin immer hier. Ich sehe alles. Ich erinnere mich an jeden, der vorbeikommt. Wenn Sie noch ein zweites Mal vorbeikommen, werde ich mich an Sie erinnern.«
»Tschüs«, wiederholte sie und ging weiter. Dann bog sie nach links ab, ging weiter geradeaus und bog wieder nach links ab, ging noch ein Stück und blieb vor einer Haustür stehen. Wie bin ich hierhergeraten? Hierher wollte ich doch wirklich nicht.
Sie schaute an der Hausfront empor. Hier waren sie an jenem frühen Dezembermorgen angekommen, Johnny und sie. Der Dezember hatte gerade angefangen. Es war der Beginn der Schönwetter-Periode gewesen. Vielleicht wird das nächste Jahr schön, hatte sie gedacht. Der Fall würde bald zu den Akten gelegt werden. Sie hatten den Job rasch hinter sich bringen wollen, sie und Eilig, wollten ihn mit Lichtgeschwindigkeit erledigen. »Dort«, hatte Johnny gesagt und auf die Haustür gezeigt, vor der sie nun stand. Sie trat näher und drückte die hübsche Klinke herunter, aber die Tür war natürlich abgeschlossen. Sie erinnerte sich noch an den Code und gab ihn ein. Das war nicht sie, sie wollte das wirklich nicht. Was tue ich hier eigentlich? Warum stehe ich jetzt im Treppenhaus? Hier bin ich schon einmal gewesen. Das sollte reichen. Ich gehe wieder. Ich sollte doch ein Glas Wein in einem Pub trinken, unter Leuten sein, die lachen und reden. Hier ist niemand. Hier gibt es nur den Tod.
Sie stieg die Treppen hinauf. Etwas zog sie nach oben, wie an einem Seil. Oder als würde sie ein kräftiger Rückenwind die Stufen hinaufschieben. Um sie herum leuchtete es wie Gold, aber es war nichts Schönes mehr in all dem. Dies war die Hölle. Jetzt hatte sie den dritten Stock erreicht. Plötzlich erlosch die Treppenhausbeleuchtung. Sie zuckte zusammen. Herr im Himmel. Sie stand vor der Tür, der Tür. Bevor das Licht ausging, hatte sie die Absperrbänder gesehen. Die drei Türen waren noch vorhanden, aber sie wünschte, dass es keine mehr von ihnen gegeben hätte. Dass nichts von all dem geschehen wäre. Ein kindlicher Gedanke. Unter der linken Tür sickerte Licht durch eine Ritze. Dort war jemand zu Hause. Und mit einem Mal konnte sie sich wieder bewegen. Sie drückte auf den Lichtschalter, und es wurde hell. Rasch lief sie die Treppen hinunter. Als sie auf die Straße trat, schlug ihr wunderbar erfrischend die Stadtluft entgegen.