20

Die erleuchteten Fenster der Häuser im inneren Hovås glommen wie entfernte Feuer in einem Wald. Es war kein einladendes Licht. Es signalisierte: Wir waren nie wie ihr. Ihr werdet nie so sein wie wir. Wenn ihr euer eigenes Licht haben wollt, müsst ihr euch an die Sterne am Himmelszelt halten. Die, die noch übrig sind. Die, die wir haben wollten, haben wir abgeschraubt.

Winter parkte vor dem Haus der Familie Holst. Von der Straße aus wirkte es wie ein kleines Schloss oder wie ein Palast. Die Tür wurde von zwei illuminierten Tannen flankiert. Das ganze Grundstück schien von einer Mauer umgeben zu sein. Es war ein klarer, kalter Abend. Die Sterne über ihm waren hier draußen größer als in der Stadt. Alles war hier größer.

Er blieb neben seinem Mercedes stehen. Wenigstens ein Auto von außerhalb, das hierher passte. Er passte hierher. Seine Herkunft passte hierher. Er versuchte sie auf Abstand zu halten, aber er war ein Teil all dessen. Das war er sein Leben lang geblieben. Mit einem Silberlöffel im Mund geboren. Polizist war er aus Protest geworden. Oder war es etwas anderes? Kriminalpolizist zu werden hieß, den diskreten Charme der Oberschicht so weit wie irgend möglich hinaus ins Meer zu werfen. Es hieß, zu jeder Stunde und rund um die Uhr bei Fremden einzudringen. Mal waren sie fremder, mal weniger fremd. In dieser großen Stadt gab es Mitbürger, die er nicht verstand, die er nie verstehen würde, und solche, die er sehr gut verstand. Erbe. Herkunft. Codes. Schicht. Darum ging es. Er war Teil jener Schicht, in der er sich im Augenblick befand. Er klopfte an Türen mit goldenen Buchstaben. Seine Herkunft würde ihm helfen zu verstehen, was diese Menschen sagten. Um was es wirklich ging, wenn sie von Liebe sprachen.

Annica Holst öffnete nach dem dritten Klingeln. Das Haus war zweistöckig. Er hatte Schritte von oben gehört. Er wusste, dass Madeleine das einzige Kind gewesen war.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er.

Aber das spielte in diesem Haus keine Rolle. Der Abend vor Heiligabend war kein Abend des Friedens. Annica Holst sah aus, als hätte sie das Augenlicht verloren, zumindest teilweise. Ihre Augen wirkten verwaschen, ausgeblichen von Trauer. Ihr Blick war irgendwo anders.

»Wie lange wird es dauern?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, sagte Winter. »Nicht lange.«

»Haben Sie Familie?«

»Ja.«

»Haben Sie Kinder?«

»Ja.«

»Wie viele?«

Er wollte keine Fragen beantworten, schon gar nicht Fragen dieser Art, nicht jetzt. Aber er hatte natürlich keine Wahl.

»Zwei.«

»Jungen oder Mädchen?«

»Mädchen.«

»Natürlich«, sagte sie und wandte sich von ihm ab.

Gerda Hoffner saß an ihrem Küchentisch und versuchte zu analysieren, was sie gefühlt hatte, als sie aus dem Haus in der Chalmersgatan gestürmt war. Angst? Nein, es war mehr gewesen. Entsetzen? Das war kein passendes Gefühl, wenn sie ihren Job behalten wollte. Ein Gefühl, das immer wiederkehren würde. Damit würde sie sich nicht lange als Polizistin behaupten können. Kein Debriefing der Welt würde helfen. Immer ging es um Angst. Mit Angst wurde jeder auf unterschiedliche Weise fertig. Genau das versuchte sie gerade, mit der Angst fertig zu werden, einige Stunden, bevor sie sich mit Johnny Eilig ins Auto setzen und durch die Nacht vor Heiligabend gleiten würde. Vielleicht würde es eine stille Nacht werden.

Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und hatte vergessen, was sie hatte holen wollen. Sie schloss die Tür wieder und spürte den Vakuumsog in der Hand. Ein beruhigendes Gefühl. Nach einer halben Minute kehrte sie an den Küchentisch zurück und setzte sich auf den Stuhl. Das ruhige Gefühl war noch da, aber abgeschwächt, es verflüchtigte sich bereits. Verschwinde nicht für immer, dachte sie, ich brauche dich.

Winter wartete im Wohnzimmer der Familie Holst, wenn Wohnzimmer die richtige Bezeichnung für den großen Raum war, der die gesamte Fläche des Erdgeschosses einzunehmen schien. Er war größer als ein Tennisplatz und trotzdem nicht unproportioniert für das übrige Haus. Ein großes Haus für eine kleine Familie. Er wartete auf Peder Holst. Annica Holst war nach oben gegangen, um ihren Mann zu holen, als müsste er hinunterbegleitet werden. Wie hätte ich selbst reagiert? Winter stand mit dem Rücken zur Treppe und schaute auf den Rasen, der in der sanften Beleuchtung genauso grün wie im Sommer wirkte. Die Kälte an diesem Abend reichte nicht aus, um das Gras mit einer Frostschicht zu überziehen. Vielleicht würde es heute Nacht frieren. Er sah auf die Uhr. In fünf Stunden war offiziell der Tag des Heiligen Abend. Er würde mit größter Wahrscheinlichkeit in seiner Küche stehen und das Weihnachtsbuffet vorbereiten. Es würde nach Gewürzen, Wärme und vielleicht nach Whisky duften. Fast immer schon war es der schönste Abend des Jahres gewesen. Seitdem er selber Kinder hatte, war auch etwas von der kindlichen Erwartung zu ihm zurückgekehrt, die er früher vor dem Heiligen Abend empfunden hatte. Es war der unschuldigste Tag des Jahres, und nun war es fast wieder so weit.

Hinter sich hörte er ein Geräusch und drehte sich um. Ein Mann stand im Zimmer. Winter hatte ihn nicht gehört. Seine Frau war oben geblieben. Winter hatte nicht vor, mit ihr zu sprechen, nicht im Augenblick. Der Mann sah wie ein Fremder aus. Winter bekam unmittelbar das Gefühl, er selber lebte in diesem Zimmer, und der Mann sei nur ein zufälliger Besucher. Holst sah sich mit dem Blick eines Fremden um. Er war mittelgroß, trug eine graue Hose, ein helles Hemd und einen grauen Cardigan. Graumeliertes dichtes Haar, Hornbrille. Ende fünfzig oder Anfang sechzig, sein genaues Alter war Winter entfallen. Heute Abend wirkte er zehn Jahre älter. Er sah sich wieder um, als wäre er unsicher, ob er sich setzen sollte, und wenn ja, wohin, oder ob er mitten im Zimmer stehen bleiben sollte.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Winter.

»Äh … natürlich.« Holsts Stimme klang sehr dünn, zerbrechlich. Winter verstand die Worte kaum.

Holst ließ sich in den nächsten Sessel sinken, dunkles Leder, genau wie die anderen drei, die um einen niedrigen Tisch aus geöltem Holz gruppiert waren.

Winter fand im Gesicht des Vaters nichts von Madeleine Holst. In der Chalmersgatan hatte es Fotos von Madeleine gegeben, der lebenden Madeleine, zusammen mit Martin, allein, zusammen mit Mama und Papa, zusammen mit Mama, zusammen mit Papa und mit Personen, von denen sie bis jetzt einige identifiziert hatten und einige nicht. Die alten verdammten Fotografien, die das Leben illustrierten – wenn der Tod es ausgelöscht hatte. Das abgebrochene Leben. Das kurze Leben. Die Trauer in Peder Holsts Gesicht war deutlich, sie lastete schwer wie ein Stein auf seinen Zügen, und wahrscheinlich konnte Winter aus diesem Grund keine Ähnlichkeiten mit der lebenden Tochter entdecken. Holst sah eher tot als lebendig aus, als wäre sein Gesicht zu einer Maske erstarrt. Jetzt wandte es sich Winter zu.

»Was wollen Sie?«

Das war eine direkte Frage. Aber Holst sah aus, als würde er mit sich selber sprechen.

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Warum jetzt? Warum ausgerechnet heute?«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Winter.

»Jetzt, wo Madeleine tot ist, meinen Sie? Nein, das spielt keine Rolle.«

»Es dauert nicht lange«, sagte Winter.

»Haben Sie kein Privatleben?«

Wieder die direkte Frage, und wieder wirkte es so, als stellte Holst sie sich selber: Hast du kein eigenes Leben?

»Wir versuchen Antworten zu finden«, sagte Winter. »Deswegen bin ich heute gekommen. Damit konnte ich nicht warten.«

»Sind Sie so einer?«, sagte Holst lauter. Er bewegte sich in dem Sessel, der ein Geräusch von sich gab, das ebenfalls laut klang in der Stille des Zimmers.

»Wie meinen Sie das?«

»Einer, der nie loslässt? Einer, der nie loslassen kann … der niemals aufgibt?«

»Vielleicht bin ich so einer«, antwortete Winter. »Manchmal jedenfalls.«

»Wie jetzt«, sagte Holst. »Diesmal.«

»Ist das nicht in Ordnung? Diesmal?«

Holst antwortete nicht. Einen Augenblick verbarg er sein Gesicht in den Händen. Dann hob er den Kopf und sah Winter an.

»Ich war selbst einmal so«, sagte er. »Aber das ist vorbei.«

Winter dachte an die Tochter, doch etwas in Holsts Stimme verriet, dass er von etwas anderem sprach. Einer anderen Zeit.

»Wann war das?«, fragte Winter.

»Ist doch egal.«

»Warum?«

Holst antwortete nicht. Er stand auf, ging rasch zu einem der Fenster, blieb dort stehen.

»Wer hat es getan?«, fragte er nach einer Weile, ohne sich umzudrehen. »Wer hat mein kleines Mädchen umgebracht?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Winter. »Was glauben Sie selber?«

Holst drehte sich um.

»Jemand, den sie nicht kannte«, sagte er. »Und das macht alles vielleicht noch schlimmer.«

»Inwiefern?«

»Jemand hat beschlossen, meine … meine kleine Madeleine umzubringen. Es hätte wer weiß wen treffen können. In dem Moment wurde sie irgendeine beliebige Person.«

Winter schwieg.

»Meine kleine Madeleine. Plötzlich ist sie nur irgendjemand.«

»Nein«, sagte Winter. »Dahinter steckt mehr.«

»Was denn? Sagen Sie es mir!«

Holst hatte sich verändert. Jetzt wirkte er lebendig. Als hätte er etwas entdeckt, woran er glauben konnte. Als wäre seine Tochter nicht zufällig gestorben, kein beliebiges Opfer.

»Erzählen Sie es mir«, sagte Winter. »Was glauben Sie selber, was dahinterstecken könnte? Zwei junge Frauen werden auf die gleiche Art und Weise ermordet. Das wissen Sie bereits. Aber warum gerade sie? Warum Madeleine und Gloria? Und – warum Martin und Erik?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Holst zurück. »Das herauszufinden ist Ihr Job.«

»Indem ich zum Beispiel Ihnen Fragen stelle«, sagte Winter. »Ich frage Sie jetzt also: Was ist zwischen Ihnen und Lentners vorgefallen?«

»Was? Was?«

Holst drehte sich um, als würde noch eine weitere Person zuhören. Aber seine Frau war nicht wieder heruntergekommen. Darüber hatte Winter sich gewundert. Offenbar wollte sie, dass ihr Mann allein mit ihm sprach. Vielleicht über diese Sache.

»Was ist passiert?«, fragte Winter.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Doch er wusste es. Und Winter wusste, warum er so tat, als wüsste er es nicht. Es war schon so lange her. Vielleicht hatte er zwanzig Jahre gebraucht, um es zu verdrängen. Jetzt kam alles wieder an die Oberfläche, mitten in seinem hübschen Wohnzimmer, wie Schlamm aus Klärbehältern in der Unterwelt, von dem er geglaubt hatte, er würde bis in alle Ewigkeit im Urgestein vergraben bleiben. Vergessen für diese Welt. So war es jedoch nie. Alles kam wieder an die Oberfläche. Eine Weile konnte man die Scheiße unterdrücken, aber am Ende war sie nicht mehr einzudämmen. Immer kam der Augenblick, und Holsts Augenblick war jetzt gekommen.

Er brach in Tränen aus. Plötzlich wirkten seine Augen ganz lebendig. Winter dachte an eine Wüste, die sich mit Wasser füllte.

»Was ist damals geschehen?«, wiederholte er.

»Woher … wissen Sie … Was wissen Sie?«

»Ich möchte es wissen«, sagte Winter. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Warum? Das … das hat nichts mit der Sache zu tun. Es spielt keine Rolle.«

»Was haben Sie mit dem Jungen gemacht?«

»Ich habe nichts gemacht!« Holst ballte eine Faust und kam einen Schritt auf ihn zu. Winter spürte Bedrohung in der Luft, wie einen flüchtigen Windhauch. Holst öffnete die Hand. Er betrachtete seine Finger, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine Augen waren genauso schnell getrocknet, wie sie sich mit Tränen gefüllt hatten. »Was soll ich getan haben? Was haben sie gesagt? Was haben sie Ihnen erzählt?«

»Wer?«

»Mats und Ann Lentner natürlich. Was zum Teufel haben sie gesagt?«

»Nur das, was Erik ihnen erzählt hat.«

»Erzählt hat?! Es gibt nichts zu erzählen!«

»Erzählen Sie es mir trotzdem«, sagte Winter.

»Machen Sie sich etwa lustig?«

»Nein.«

Wieder spürte Winter die Bedrohung, die von Holst ausging. Sie lag auf der Lauer, wie ein schwarzer Schatten, der jeden Moment Gestalt annehmen konnte.

»Das verdammte Blag hat sich Sachen eingebildet. Das tat er dauernd. Er hat phantasiert! Als ob ich … ob wir … als ob was passiert wäre. Das hat er sich nur eingebildet!«

»Wo war es?«, fragte Winter.

»Wie meinen Sie das?«

»Wo ist es geschehen?«

»Es ist nichts passiert, das habe ich doch gesagt!«

»Trotzdem muss es einen Ort geben«, sagte Winter. »Auch wenn nichts passiert ist. Wo war es?«

»Haben sie es nicht gesagt? Wer weiß, was da alles geredet wird.«

»Wer soll was gesagt haben?«

»Lentners natürlich.«

»Wo war es?«, wiederholte Winter.

»Spanien. Costa del Sol.«

»Wo dort?«

»Wie – wo dort? Wo wir ein Haus haben natürlich. In einem Ort, der Nueva Andalucia heißt. Er liegt westlich von Marbella.«

»Wo Lentners auch ein Haus hatten, nicht wahr?«

Holst antwortete nicht.

»Bei Ihnen zu Hause?«

Auch darauf antwortete Holst nicht.

»War es in Ihrem Haus?«

»Es gehört mir zusammen mit meiner Frau«, sagte Holst. »Und sie weiß, dass nichts passiert ist. Alle wissen es. Dieser Junge hatte eine blühende Phantasie. Er hat phantasiert. Er kam an den Pool, als ich schwimmen wollte. Plötzlich stand er einfach da. Ich trug keine Badehose.« Holst sprach jetzt ernst, und er sprach schnell. »Ich bade immer nackt. Das wissen alle. Das wussten alle. Ich hatte ihn nicht bemerkt. Erst als ich ins Wasser wollte, sah ich ihn da stehen. Ich bin trotzdem ins Wasser gegangen und gleich untergetaucht. Damit er mich nicht sah. Aber er blieb stehen. Gott weiß, warum. Ich glaube, ich habe ihn gebeten zu gehen, damit ich den Pool wieder verlassen konnte. Allmählich wurde mir kalt. Schließlich war es Winter, obwohl der Himmel blau war. Er blieb jedoch stehen und glotzte wie ein Idiot. Und als ich endlich aus dem Wasser stieg, bat ich ihn, mir mein Handtuch zu geben, und das hat er getan.«

Holst beendete seinen Bericht. Er sah aus, als wollte er von jetzt an kein Wort mehr sagen.

»War noch eine weitere Person anwesend?«, fragte Winter.

Holst antwortete nicht.

Winter wiederholte die Frage.

»Wie meinen Sie das?«

»War noch jemand in der Nähe, der Sie beide gesehen hat?«

»Nein … nein. Ich weiß nicht, ob Annica zu Hause war. Wahrscheinlich war sie in der Stadt einkaufen.«

Daran muss er sich erinnern, dachte Winter. Wenn man den Rest seines Lebens versucht, ein Erlebnis zu verdrängen, erinnert man sich deutlicher daran als an alles andere. Alle Details sind noch da, wie Tätowierungen.

»Madeleine?«

»Was ist mit ihr?«

»War sie da?«

»Sie … war vermutlich mit Annica zusammen.«

»Dann waren Sie also allein mit Erik?«

»Allein mit ihm? Nein! Er ist plötzlich aufgetaucht, das habe ich doch gesagt! Lentners wohnten nur wenige Straßen von unserem Haus entfernt. Wahrscheinlich wohnen sie noch immer dort, das weiß ich nicht. Damals war Nueva Andalucia nicht groß. Inzwischen ist es gewachsen. Na, es ist sinnlos, Ihnen das zu erklären. Aber wenn Sie es gesehen hätten, würden Sie es verstehen.«

»Ich habe es gesehen«, sagte Winter.

»Ach?«

»Ich bin dort gewesen.«

Mehr wollte Winter nicht sagen. Es war von Vorteil, dass er den Ort, die Umgebung kannte, das stärkte seine Position, er wusste nur nicht, wem gegenüber. Peder Holst? Wer weiß. Aber Nueva Andalucia würde in diesem Fall bestimmt wieder auftauchen. Auch wenn er noch nicht wusste, in welcher Form. Es würde ihm nicht erspart bleiben. Seine eigene Vergangenheit wurde davon berührt, die seiner Familie. In diesem Moment ahnte Winter, dass er vermutlich gezwungen sein würde, noch einmal dorthin zurückzukehren. Widerwillig. Eine letzte Reise.

»Kann es sein, dass Sie jemand gesehen hat? Sie beide? Jemand, der vorbeikam? Jemand, der dort arbeitete? Irgendjemand?«

»Ich weiß es nicht. Das … an die Möglichkeit habe ich nie gedacht. Damals nicht.« Er sah Winter mit Augen an, die trocken waren wie die Wüste. »Was macht das für einen Unterschied?«

»Kann Sie jemand gesehen haben?«, beharrte Winter. »Oder war der Pool von einer Mauer umgeben?«

»Ich bade doch nicht nackt, wenn die halbe Stadt zugucken kann«, sagte Holst. »Natürlich gab es eine Mauer. Aber … wenn jemand hereinschauen wollte, so bestand schon die Möglichkeit … Zum Beispiel war die Pforte nicht verschlossen. Durch die hat ja auch der Junge das Grundstück betreten.«

Winter nickte.

»Wieso? Hätte es einen Zeugen oder so was geben sollen? Meinetwegen gern! Dann hätte sich die Sache augenblicklich aufgeklärt. Aber stattdessen …«

Holst verstummte.

»Stattdessen, was?«, fragte Winter.

»Sie wissen es«, sagte Holst. »Der Junge ging mit seiner verdammten Geschichte nach Hause, und seine Eltern kamen wie Furien angeschossen, und dann war es vorbei mit der Gemeinschaft.«

»Bestand eine Gemeinschaft? Haben Sie sich oft getroffen?«

»Tja … wie das eben so üblich ist da unten. Drinks, ein bisschen Grillen. Golf.« Er machte eine Pause und sah wieder aus dem Panoramafenster. Der Rasen wirkte sehr groß und sehr grün. Die Luft war klar. Die Welt vor dem Fenster sah frisch aus, eine andere Welt, eine bessere, gesündere Welt.

»Und viel Klatsch und dummes Gerede, wenn man ehrlich sein soll«, fuhr Holst fort. »Ein ziemlich sinnloses Leben. Für mich ist es jetzt vorbei.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich fahre nie mehr zurück. Für mich ist es vorbei.«

»Warum?«

»Können Sie sich das nicht denken?«

»Die Alternative wäre, das Gegenteil zu tun«, sagte Winter. »Göteborg für immer zu verlassen.«

»Weil es … hier geschehen ist?«, sagte Holst. »Nein, ich bleibe hier. Ich will wissen, wer es getan hat. Ich … es …« Er verstummte.

»Was wollten Sie sagen?«, fragte Winter.

»Ich will nicht zurück«, wiederholte Holst.

»Warum nicht?«

In Holsts Stimme war etwas, das er finden, einfangen wollte. Es ging um das, worüber sie eben gesprochen hatten, oder etwas anderes, aber es hatte einen Ort: die spanische Südküste. Dort gab es eine Vergangenheit. Etwas, das größer war und vielleicht schlimmer als die Anklagen gegen Holst.

»Ich möchte wissen, welcher Teufel das war«, sagte Holst. »Und er befindet sich hier. In dieser Stadt.«

Winter sah die Hecklaterne auf dem Wasser, unterwegs aufs große Meer hinaus. Heiligabend auf See. Das Meer war ruhig. Eine stille Nacht. Ein stiller Abend. Er hatte das Auto ein Stück oberhalb der Bucht abgestellt und sich mit Hilfe der Stableuchte den Weg zum Strand hinunter gesucht. Die Wellen rollten mit einem zischenden Geräusch ans Ufer, regelmäßig wie die Zeit. Über ihm waren keine Wolken. Der Mond war ein Scheinwerfer, der das Meer beleuchtete, soweit das Auge reichte, ein Teppich aus Silber. Er sah die Konturen von Tärnskär und Kräcklingeholmen. Dorthin war er im vergangenen Sommer geschwommen. Das würde er im nächsten Sommer wiederholen, dann vielleicht zusammen mit Elsa. Alles würde wieder normal sein, so, wie es immer gewesen war.

Er hob einen Stein auf, der sich kalt und glatt anfühlte, und schleuderte ihn flach über die Wasseroberfläche. Deutlicher als bei Tageslicht sah er ihn über das Wasser tanzen, kleine aneinandergereihte Explosionen aus Silber. Ein Stein weniger an seinem Strand, noch ein Verbrechen. Er hob einen zweiten Stein auf und warf ihn weit und hoch, hörte, wie er auftraf, sah aber nichts. Wurf mit kleinem Stein. Er spürte die Muskeln von der ungewohnten Bewegung in seinem Arm pochen. Damit hatte er ein wenig von der Unruhe, die er beim Verlassen des Holst-Hauses im Körper gespürt hatte, von sich geworfen. Doch der größte Teil der Unruhe blieb. Er hatte sich in sein Auto gesetzt und war durch die schmalen Straßen von Hovås ans Meer gefahren.

Hier gab es noch Ruhe. Er hob einen weiteren Stein auf, ließ ihn jedoch in den Sand fallen. Weit draußen ertönte das Geräusch eines Dieselmotors, ein weiches Klopfen, das sich anhörte, als wäre es ein Teil der Natur. Eins mit Gottes Natur. Das wollte er werden, danach sehnten sich alle.