27

Erik Lentner durfte den Treffpunkt bestimmen. Winter bestimmte den Zeitpunkt. Lentner schlug Ruddalen vor. Sie trafen sich auf dem Parkplatz und begrüßten sich mit Handschlag. Sie wählten die längere, hügelige Bahn gegen den Uhrzeigersinn. Einige Läufer schleppten sich an ihnen vorbei auf einer Runde zwischen den Feiertagen, voller Gewissensbisse. Zum Skifahren reichte der Schnee nicht. Sie kamen an der Eishalle vorbei. Die Läufer hinter dem Glas sahen aus wie mittelalterliche Figuren. Das lag an den Trikots, den Hauben, den Schlittschuhen, die Lederpantoffeln glichen. In der Halle herrschte gebeugtes Leid, ewig und zeitlos wie die Eiszeit. Ein Gemälde von Hieronymus Bosch. Winter dachte an die alptraumartigen Visionen des Malers, die makabren Details. Sie gingen weiter den steilen Abhang hinauf. Winters Puls schlug schneller, das ärgerte ihn. Er müsste häufiger trainieren. Sein letztes Training lag schon lange zurück. Ein ausgedehntes Saunabad nach dem Laufen. Das war die Belohnung. Ein Pils. Er hörte Lentner atmen.

»Finden Sie es anstrengend?«

»Sie strengt es mehr an, wie ich höre«, sagte Lentner.

»Kein Problem.«

»Ich durfte in der Untersuchungshaft nicht trainieren, wie ich wollte«, sagte Lentner.

»Was wollten Sie trainieren?«

»Trapezius.«

»Die Schultern«, sagte Winter.

»Sind Sie nebenbei auch noch Arzt?«

»Meine Frau.«

»Wo?«

»Beim Sahlgrenska.«

»Wie heißt sie?«

»Angela Hoffmann-Winter.«

»Ist sie Deutsche?«

»Ja. Und Schwedin.«

»Aha.«

»Fühlen Sie sich manchmal wie ein Spanier?«

Lentner blieb stehen. Sie hatten fast den höchsten Punkt erreicht. Winter atmete ruhiger. Es waren nur die ersten Schritte gewesen. Er spürte, wie sein Puls langsam wieder normal schlug. Und er hatte einen Arzt neben sich. Er war in sicheren Händen.

»Warum zum Teufel sollte ich mich wie ein Spanier fühlen?«

»Haben Sie nicht viel Zeit Ihres Lebens in Spanien verbracht?«

»Wir sind die Kanaken der Sonnenküste«, sagte Lentner. »Dort sind wir die Einwanderer. Die Leute verachten uns. Die Schweden. Und die Deutschen und Engländer.«

»Wer?«

»Wer was?«

»Wer verachtet Sie?«

»Die Spanier natürlich.«

»Sind Sie sicher?«

Lentner antwortete nicht. Ein Läufer kam den nächsten Hügel heraufgekeucht. Das Gesicht des Mannes war rot. Aus fünf Meter Abstand röchelte er ihnen etwas zu, was sie nicht verstanden. Er sah wütend aus.

»Wir sind ihm im Weg«, sagte Winter.

Lentner wich keinen Zentimeter zur Seite.

Der Mann schien es darauf anzulegen, mit ihm zusammenzustoßen. Er war in Winters Alter, übergewichtig, nach der Gesichtsfarbe zu urteilen, an der Grenze zum Infarkt. In letzter Sekunde schlug er einen Haken. Es sah aus, als wollte Lentner ihm ein Bein stellen. Ein Zucken in seinem Bein verriet es Winter.

»Tun Sie das lieber nicht«, warnte er.

Lentner drehte sich zu ihm um.

»Sie haben alles gut unter Kontrolle.«

»Sind Sie in Spanien in die Schule gegangen?«, fragte Winter.

Lentner zuckte zusammen.

»Was haben Sie gesagt?«

Winter wiederholte die Frage. Lentner wollte Zeit gewinnen. Eigentlich war es eine ziemlich harmlose Frage. Aber für ihn bedeutete sie mehr, sie bedeutete etwas anderes.

»Nicht lange«, antwortete er.

»Wie lange?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Wie lange?«, wiederholte Winter.

»Ein Jahr etwa.«

»Wie war es?«

Lentner schwieg. Er setzte sich wieder in Bewegung. Winter hörte einen Vogel, ein verirrter Laut, als wäre der Frühling schon vor Neujahr ausgebrochen, und er musste plötzlich an die Geräusche aus dem dritten Zimmer denken. An den dritten Mann. Die dritte Frau. Eine dritte Frau sollte ermordet werden. Davon war er überzeugt. Vielleicht war es schon geschehen. Winter sah Lentners Rücken. Der junge Mann ging immer noch der Sonne entgegen. Sie blendete Winter. Der andere ging schneller. Winter ging schneller. Bald würden sie laufen.

»Warten Sie!«

Lentner drehte sich nicht um. Er hatte schon fast den nächsten Anstieg erreicht. Verdammt, diese Strecke war wirklich hügelig, von Peinigern für Menschen angelegt, die sich gern peinigen ließen.

»Warten Sie, habe ich gesagt!«

Lentner blieb stehen und drehte sich um.

»Geht Ihnen die Puste aus?«

Winter antwortete nicht. Er spürte Schweiß am Haaransatz. Er wollte nicht, dass der jüngere Mann es bemerkte. Es war keine gute Idee gewesen, Ruddalens Joggingweg als Verhörraum zu wählen. Lentner hatte gewusst, was er tat. Jetzt hatte Winter ihn erreicht.

»Wir können auch zum Auto zurückgehen und ins Präsidium fahren«, sagte er.

»Wollen Sie mir damit drohen?«

»Ja. Wenn alles andere nichts hilft.«

»Ich werde versuchen, so langsam wie Sie zu gehen.«

»Ist es in der Schule passiert?«, fragte Winter.

»Warum reiten Sie dauernd auf der Schule herum? Die hat nichts damit zu tun.«

»Womit nichts zu tun?«, fragte Winter.

»Mit dem, was Gloria passiert ist.«

»Und Madeleine«, ergänzte Winter.

Lentner schwieg. Vielleicht nickte er. Winter hörte wieder einen Vogel singen. Ein lautes, einsames Lied, als wäre der Vogel in einem fremden Land zurückgelassen worden, in dem nichts mehr war, wie es einmal gewesen war.

»Sie müssen doch darüber nachgedacht haben, was Madeleine passiert ist«, sagte Winter.

»Natürlich.«

»Warum hatten Sie keinen Kontakt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sind Sie zusammen in die Schule gegangen?«

»Ja, aber was meinen Sie damit?«

»Sie kannten sich seit Ihrer Kindheit. Sie hielten sich regelmäßig bei ihr zu Hause auf. Sie sind in Spanien bei der Familie ein und aus gegangen. Wann haben Sie aufgehört, sich zu treffen?«

»Das ist lange her.«

»Warum haben Sie aufgehört?«

»Ich weiß es nicht.« Lentners Blick wich aus. Es gab Bäume, die er betrachten konnte, nasse Sägespäne, Erde, wintergrüne Vegetation, den blauen Himmel zwischen den Bäumen. Im Augenblick waren keine Jogger unterwegs. Lentner sah Winter an. »Das hat nichts zu bedeuten.«

»Haben Sie sich in Göteborg getroffen?«

»Wann?«

»Jetzt. Als Erwachsene, in der letzten Zeit.«

»Nein.«

»Nie?«

»Nein. Danach haben doch schon die anderen gefragt.«

»Ich frage noch einmal.«

»Und ich sage nein.«

»Haben Sie Martin gekannt?«

»Martin?«

»Madeleines Lebensgefährten. Martin Barkner. Sie wissen, wen ich meine.«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Warum haben Sie den Umgang mit Madeleine abgebrochen?«

»Herr im Himmel, wir waren Kinder. Wir haben uns kennengelernt, als wir Kinder waren! Treffen Sie heute noch all Ihre Spielkameraden von früher?«

»Einige«, sagte Winter.

»Dasselbe gilt für mich. Aber es bedeutet nicht, dass ich alle treffe.«

»Verstehen Sie eigentlich, warum ich Ihnen diese Fragen stelle?«

Lentner antwortete nicht. Sein Blick war wieder woanders, auf der nächsten Hügelkuppe, die andere Seite hinunter, vielleicht schon um die halbe Laufrunde herum. Vielleicht sogar schon im Ziel.

»Warum ausgerechnet die beiden?«, fragte Winter.

Lentner sah ihn wieder an.

»Warum Madeleine und Gloria?«, beharrte Winter. »Warum Sie und Martin?«

»Das … ich … es ist doch Ihr Job, das herauszufinden.«

»Genau, und deswegen stehe ich im Augenblick hier mit Ihnen. Warum Sie?«

Lentner sah aus, als wollte er antworten, aber was in seinem Kopf war, kam nicht heraus. Vielleicht war es nichts. Vielleicht war es alles, die Antwort auf alles.

»Was ist zwischen Ihnen und Peder Holst vorgefallen?«, fragte Winter.

Lentner zuckte zusammen.

»Haben Sie Madeleine danach noch einmal getroffen?«, fuhr Winter fort.

Lentner antwortete nicht. Das war eine Antwort. Er fragte nicht: Danach? Was meinen Sie, Herr Kommissar? Wonach?

»Helfen Sie sich«, sagte Winter.

Lentner schwieg. Ein Jogger kam den Hügel herauf, sie hörten ihn keuchen, bevor sie ihn sahen. Ein Fettkloß im Trikot, seine Atmung klang wie ein Spinnaker bei Sturm. Er würde noch vor dem Ziel tot umfallen.

»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte Lentner.

Mit was zu tun? Mit was nichts zu tun? Winter sah den zum Tode verurteilten Schlemmer den Abhang hinunterrollen. Der Trainingsoverall war orange. Auf dem Rücken stand »Dynapac«.

»Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Lentner«, sagte Winter. »Sie brauchen Hilfe.«

»Ich habe nichts getan«, sagte Lentner. Seine Stimme klang jetzt ganz dünn, wie die eines kleinen Jungen. Er sah aus wie ein zehn Jahre alter Junge. Die Sonne versteckte sich hinter den Bäumen. Schatten fiel auf die beiden. Ein kalter Wind kam auf. Der Junge schauderte.

»Nein«, sagte Winter.

»Ich habe nie etwas getan.«

»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Winter.

Lentner schaute zum Himmel hinauf, als suchte er die Sonne. Etwas Verlässliches. Auf die Sonne hatte man sich verlassen können, nur jetzt nicht. Er sah Winter an. Winter konnte die Gedanken in seinem Kopf, in seinen Augen lesen. Lentner bewegte die Lippen, kaute auf den Wörtern, die er vielleicht aussprechen wollte. Es konnten Erinnerungen sein, für die er noch keine Worte hatte.

»Glauben … glauben Sie, dass … in Spanien etwas … Was da passiert ist … dass es mit … Glorias Tod zu tun hat?«

»Ich weiß es nicht, Herr Lentner.«

»Sie scheinen es aber zu glauben.«

»Sie müssen mir helfen.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte«, sagte Lentner.

»Erzählen Sie mir, an was Sie sich erinnern.«

»Woran … erinnern?«

»Was an jenem Tag im Haus der Familie Holst passiert ist. In Nueva Andalucia.«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Winter sagte nichts, nicht sofort. Eine Joggerin huschte vorbei, diesmal eine magere Frau. Ihre Hüften, verborgen unter schwarzem Stoff, zeichneten sich scharf ab. Die Ablenkung kam ihm gelegen. So hatte der junge Mann mehr Zeit zum Nachdenken.

»Das hat nichts mit der Sache zu tun«, sagte Lentner.

»Was?«

»Das … Nichts. Nichts hat damit zu tun.«

»War noch jemand anwesend?«, fragte Winter. »An dem Tag in Holsts Haus?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine gar nichts. Ich frage, ob Sie allein am Swimmingpool waren.«

»Ich … war wohl allein.«

»Sind Sie sicher?«

Lentner schüttelte den Kopf.

»Kann Sie jemand gesehen haben? Sie beide?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Ich weiß es nicht, jedenfalls im Moment nicht.«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Lentner setzte sich auf eine Bank. Er schaute über das Wasser. Die Oberfläche kräuselte sich leicht, als würde sich darunter etwas bewegen.

»Ich vermisse sie«, sagte Lentner, ohne den Blick abzuwenden.

Er war jetzt allein und folgte der Wanderung der Kamera durch das dritte Zimmer. Den Ton hatte er abgeschaltet. Es gab nur Bilder. Es war das Wissen falls. Ein Versprechen falls. So etwas war vielleicht schon einmal geschehen, in einer anderen Welt, zum Beispiel auf der anderen Seite des Atlantik, aber nie auf diese Weise. Davon war er überzeugt. Keine Bilder von den noch Lebenden. Den Schlafenden. Den zum Tode Verurteilten, den bereits Verhüllten. Im Bett war viel Weiß, die Farbe des Todes. Er konnte nicht erkennen, wer die Frau und wer der Mann war, aber er war überzeugt, dass er sich nicht täuschte. Wenn er den Ort nicht rechtzeitig fand, würde einer leben, einer würde sterben. Noch lebten beide, dessen war er sicher. Falls einer von ihnen starb, würde er es unmittelbar erfahren. So etwas nannte man wertloses Wissen.

Winter ließ den Film zurücklaufen, fing wieder von vorn an, machte eine Pause, und immer wieder von vorn. Jetzt konzentrierte er sich auf die Silhouetten hinter den Gardinen, die wie ein Filter wirkten. Es konnte alles Mögliche sein, eine andere Welt, die andere Seite des Meeres. Aber es war hier. Es war ganz nah und doch so fern. Der Mist, der auf der DVD gestanden hatte, bedeutete vielleicht etwas, häufig erwies sich so eine Vermutung jedoch als falsche Fährte. Der Schreiber wusste es vielleicht selber nicht. Ein Spin-off-Effekt des kranken Gehirns.

Und auch wieder nicht. Es war hier, hier in dieser Stadt. Es war ein Zimmer wie alle anderen, ein Haus wie alle anderen. So nah, vielleicht in Vasastaden, oder nicht? Sollten sie an jeder Tür klingeln und bitten, einen Blick ins Schlafzimmer werfen zu dürfen? Einbrechen, falls die Leute nicht zu Hause waren? Falls sie sich in Thailand aufhielten? Kitzbühel? New York? Oder nur bewusstlos waren?

Vor dem Fenster standen Gebäude. Ganz oben links zeichnete sich ein helles, wie auf den Kopf gestelltes Rechteck ab. Von dort fiel das Licht herein. Das war der Himmel, aber es war nicht zu erkennen, ob es Nacht oder Tag war. Der nächtliche Himmel über der Stadt war häufig in der Nacht genauso hell wie am Tag, und im Winter war er nachts heller. Es konnten die Lichter der Stadt sein, die er reflektiert sah, oder eine Straßenlaterne, die in der Nähe stand. Das Zimmer lag aller Wahrscheinlichkeit nach in einem oberen Stockwerk, dem vierten, vielleicht dem fünften. Dem dritten. Es gab keine Technik, mit der man die Gardinen auf dem Film beiseiteschieben konnte, um die Unregelmäßigkeiten des Lichtes und der Dunkelheit dahinter zu entschlüsseln. Aber sie konnten den Hintergrund heranzoomen.

Er meinte, einen Schatten zu sehen, der sich bewegte.

Der war ihm bisher nicht aufgefallen.

Er ließ den Film zurücklaufen, drückte auf »Play«, wartete.

Ein Schatten vor dem Fenster.

Etwas bewegte sich, eine Sekunde lang vielleicht. Was zum Teufel war das?

Er schaute sich die Sequenz noch einmal an.

Als würde jemand mit der Hand am Fenster entlangstreichen. Eine große verdammte Hand.

Etwas, das unten auf der Straße vorbeifuhr? Auto, Straßenbahn, Bus, Schiff?

Etwas, das in der Luft vorbeiflog?

Wann ist das? Wann geschieht das? Ich brauche eine Uhr. In Barkners Wohnung hören wir eine Uhr schlagen. Hier nichts. Gibt es eine Uhr in diesem Zimmer? Kann ich sie sehen? Legt es der Mensch hinter der Kamera darauf an, dass ich sie sehe?

Winter spürte plötzlich einen Druck vom Nacken über den Hinterkopf bis in die Stirn. Hinunter zum rechten Auge. Nein, nein, das war wirklich der falsche Zeitpunkt für seine eingebildete Migräne.

Plötzlich blitzte neben dem Fenster etwas auf. Dort stand eine Kommode, und auf der Kommode standen mehrere kleine Silhouetten, wie kleine Figuren in dem graugelben Pisslicht.

Eine dieser Figuren blitzte auf. Als würde sich das, was dort stand, in der Kameralinse spiegeln. Oder kam das Aufblinken von einer Straßenlaterne vor dem Fenster?

Wieder ein huschender Blitz, als die Kameralinse weiterglitt. Jetzt war die Kommode verschwunden. Winter sah einen Holzfußboden, der ebenfalls glänzte. Er ließ den Film zurücklaufen, vorwärtslaufen. Das Aufblitzen, vielleicht handelte es sich um einen kleinen Schrank oder einen Tisch. Zu viele wertlose Schatten. Er brauchte Vergrößerungen. Torsten Öbergs Leute waren unterwegs zu ihm. Es war irgendeine Art Metall. Vielleicht ein Pokal. Ein Preis. Ein Shaker. Ein Champagnerkübel. Eine Plakette. Ein Preis. Ein Pokal.

Ein Name. Häufig standen Namen auf Pokalen.