39
Sie hörte seine Atemzüge, die klangen, als wäre er gelaufen. Vielleicht lief er ständig in der großen Wohnung herum. Putzte. Eine zwanghafte Putzwut. Zwanghaftes Fegen. Zwanghaft. Zwanghaftes Töten. Was zwang ihn dazu? Was hatte ihn gezwungen? Das ist die Frage. Heiligabend war er sonnengebräunt gewesen. Ging er ins Solarium? Nein, da wurde man gelber. Er war irgendwo gewesen, nicht in Deutschland, jedenfalls nicht in Ostdeutschland. In Ostdeutschland schien selten die Sonne, und als ihre Eltern Kinder gewesen waren, hat sie nie geschienen. Im Zimmer wird es langsam dunkel. Die Sonne hat sich weiterbewegt. Beweg dich! Lass es schnell vorübergehen! Jetzt sind sie alarmiert. Jetzt durchsuchen sie meine Wohnung in Sandarna. Habe ich aufgeräumt? Habe ich gefegt? Ich hab doch hoffentlich die Unterhose in den Wäschekorb geworfen? Manchmal lasse ich Sachen herumliegen. Ich bin zu unordentlich. Vielleicht kann ich etwas von ihm lernen. Ich werde ihn fragen. Es wäre schrecklich peinlich, wenn die Unterhose herumläge. Was werden sie von mir denken. Hoffentlich habe ich vorgestern abgewaschen. Er atmet immer noch hinter mir. Das bedeutet, dass er nicht tot ist. Ha, ha. Er wartet. Genau das tut er. Er wartet. Jemand wird kommen. Darauf wartet er. Jemand soll leiden.
Sie versuchte zu sprechen. Es gelang ihr nicht. Sie versuchte es wieder. Es kamen Laute, aber keine Wörter.
Er bewegte sich hinter ihr. Ging er? Nein, nein, nein! Er darf nicht gehen!
»Gehen Sie nicht!«
Die Schritte hielten inne. Sie konnte sich nicht umdrehen. Sie wollte es auch nicht.
»Sie sind wach.«
»War… warum sollte ich nicht wach sein?«
Keine Antwort.
»Was haben Sie mir gegeben?«
Er antwortete nicht. Sie musste eine Antwort haben. Es war ihre letzte Chance.
»Wie lange soll ich hier noch liegen?«
Keine Antwort.
»Warum so …«
»Sie hätten nie herkommen dürfen«, unterbrach er sie. »Sie hätten nicht so neugierig sein dürfen.«
»Nein.«
»Sie waren zu neugierig.«
»Ja.«
»Das ist nicht gut.«
»Ich weiß, dass es nicht gut ist. Ich werde es mir abgewöhnen.«
»Dafür ist es jetzt zu spät.«
»Wieso zu spät?«
Er antwortete nicht.
»Wieso zu spät?«
»Sie hätten nie hierherkommen dürfen.«
»Ich will nicht hier sein! Ich will gehen! Darf ich jetzt gehen?! Lassen Sie mich gehen!«
Er blieb stumm. Das war die schlimmste Antwort, dieses Schweigen. Es ließ sie das Schlimmste befürchten. Dass er an das Schlimmste dachte. Sie wollte nicht sagen, dass sie inzwischen nach ihr suchten oder sie zumindest vermissten. Wenn sie sagte, dass sie bald hier sein würden, würde er vielleicht etwas mit ihr machen. Oder sie verlassen. Und dann würden sie nie kommen. Sie würden es nie verstehen. Aber Winter musste es doch verstehen? Wenn, dann er. Doch wenn es ihm niemand erzählte? Ihr Verschwinden hing nicht mit dem zusammen, was ihn im Augenblick beschäftigte. Wer sollte eine Verbindung herstellen? Johnny Eilig. Ha, ha, ha. Wer sollte es erzählen? Wahrscheinlich niemand. Sie würden einfach eine andere Person zum Dienst einteilen. In einigen Tagen würden sie anfangen zu überlegen, ob sie landesflüchtig oder so was war. Es gab niemanden, der sie vermisste. Es gibt niemanden, der dich vermisst, Gerda. Darum liegst du hier.
»Bald.«
Er sagte es sehr leise.
»Bald was?«
»Bald kommen Sie hier weg.«
»Wie? Wie komme ich hier weg?«
Er antwortete nicht. Hier wegzukommen konnte Verschiedenes bedeuten, und an die meisten Möglichkeiten wollte sie gar nicht denken.
»Warum kann ich nicht gleich gehen?«
»Es ist noch nicht so weit.«
»Warum nicht? Warum ist es noch nicht so weit?«
»Sie werden ja sehen.«
»Was werde ich sehen? Ich will nichts sehen!«
»Sie müssen es sehen.« Er sprach immer noch leise. Seine Stimme klang traurig. Als käme sie von weit her. Als würde sie zurückschauen.
»Wozu brauchen Sie mich? Was soll ich sehen?!«
»Sie haben es schon gesehen.«
»Es gesehen? Was habe ich gesehen?«
»Die Gerechtigkeit.«
»Welche Gerechtigkeit? Was war die Gerechtigkeit?«
Er antwortete nicht.
»Welche Gerechtigkeit habe ich gesehen?«
»Sie verstehen es nicht.«
»Ich will es verstehen. Erzählen Sie es mir, damit ich es verstehe!«
Er antwortete nicht. Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Die Scharniere müssten einmal geölt werden.
»Nein! Nein!«
»Was ist?«
»Gehen Sie nicht.«
»Haben Sie Durst? Möchten Sie wieder etwas trinken? Möchten Sie etwas essen?«
Hatte sie schon einmal etwas getrunken? Hatte sie etwas gegessen? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber es musste wohl so sein.
»Ja. Ich habe Durst. Und Hunger.«
»Ich hole Ihnen etwas.«
Sie hörte, wie die Tür zuschlug, dann Schritte in der Wohnung, die mit einem Echo verschwanden, das lauter war als vorher. Als bewegte er sich durch einen Tunnel. Da draußen gab es hundert Zimmer. Was war das? War das ein Schrei? Er kam nicht von der Straße. Dort war es still und es wurde dunkel. Plötzlich fror sie. Sie begann zu zittern. Ein Schaudern fuhr wie ein kalter Blitz durch ihren Körper. Ich habe soeben mein Todesurteil unterschrieben. Oder mein Leben gerettet.
Winter ging zu dem Tisch in Dahlquists Wohnung. War es derselbe Tisch? Erkannte er ihn auch? Mal sehen. Es war wieder filmtime. Er betrachtete den Pokal, berührte ihn jedoch nicht. Es musste derselbe sein. Er sah tatsächlich genauso aus. Winter schaute sich um. Dahlquists Wohnung eine Requisitenreserve für Filmaufnahmen? Nein. Sie hätten es gemerkt, wenn sich hier ein Unbefugter aufgehalten hätte. Aber nicht sofort. Die Absperrbänder der Polizei konnte man im Internet erwerben. Alles konnte man im Netz erwerben. Einen Kommissartitel. Einen Präsidenten, oder seinen Titel. Eine olympische Goldmedaille. Pokale. Er zog Handschuhe an und hob den Pokal an. Was machten Pokale für einen Sinn, wenn sie nicht verrieten, wofür man sie bekommen hatte? Wie ein Titel ohne Name. Dieser Pokal hatte nicht in dieser Wohnung gestanden, als sie zum ersten Mal hier gewesen waren. Er musste die Leute von der Spurensicherung benachrichtigen. Wenn jemand da war. Er schaute auf die Uhr. Im Augenblick waren sie vermutlich noch in der Wohnung in der Teatergatan beschäftigt. Viel Glück. Wieder betrachtete er den Pokal.
Nah unter dem Deckel war etwas ins Metall geritzt.
ERSTER PREIS
100 M
BM 1981
In seiner Tasche vibrierte das Handy.
»Ja?«
»Die Schlüssel sind nicht wieder aufgetaucht«, sagte Ringmar.
»Welche Schlüssel?«
»Die Schlüssel zu Bolanders Wohnung in der Teatergatan. Im Maklerbüro haben sie nichts gefunden.«
»Vielleicht sind sie hier.« Winter sah durch die Glaswand, wie die rotglühende Sonne im Westen rasch versank.
»In Dahlquists Wohnung? Bist du immer noch dort?«
»Ja, ich bleibe noch ein Weilchen.«
»Was gefunden?«
»Ja.« Winter schaute auf den Pokal. »Jemand hat einen Preis gewonnen.« Er hörte Geräusche im Hintergrund, eine Stimme.
»Einen Augenblick, Erik.«
Ringmar sprach mit jemandem, dessen Stimme Winter nicht kannte. Offenbar befand sich Ringmar unten bei den Diensthabenden der Kripo. Winter hörte, wie sein Name fiel. Er war kribblig. Jetzt nicht noch mehr, nicht noch mehr Fragen.
»Erik?«
»Was ist denn da unten los?«
»Jemand von der Bereitschaft hat sich gemeldet. Ich bin zufällig im Dezernat. Seine Kollegin ist nicht zum Dienst erschienen.«
»Wer?«
»Sie heißt … ich habe den Namen hier … Gerda Hoffner. Weißt du, wer das ist?«
»Ja … ja.«
»Er sagt, du müsstest es wissen.«
»Was wissen?!«
»Dass du sie kennst.«
»Herr im Himmel, erklär es mir, Bertil!«
»Dieser junge Mann, Johnny Sowieso, hätte heute Nachmittag zusammen mit ihr Dienst gehabt, aber sie ist nicht aufgetaucht. Übrigens hatte er sie zu Silvester eingeladen, auch da ist sie nicht erschienen. Er hat unten im City gewartet und dann bei ihr zu Hause angerufen. Aber es meldet sich niemand. Also ist er hingefahren. Da sie nicht geöffnet hat, ist er in die Wohnung eingebrochen.«
»Er hat was getan?«
»Er ist eingebrochen. Er glaubt, dass ihr etwas passiert ist.«
Winter stand im Dunkeln. Über der Wildnis im Westen gab es fast kein Licht mehr. Die Laternen unten in der Stadt sahen aus wie erlöschende Feuer.
»Sie war dabei, als sie Madeleine gefunden haben«, sagte Ringmar, »zusammen mit ihm.«
»Ja.«
»Und beim zweiten Mal war sie auch dabei.«
»Ich weiß, Bertil.«
»Er sagt, dass sie vielleicht nicht loslassen kann.«
»Was loslassen?«
»Die Ermittlungen. Sie hat viel davon gesprochen.«
»Das ist doch kein Wunder. Sie war doch da. Sie hat es gesehen.«
»Sie hat mit dir gesprochen.«
»Ja. Eine smarte Person. Ich verstehe, dass sie nicht aufhören konnte, daran zu denken.«
»Sie meldet sich unter keiner Nummer, Erik.«
»Es scheint ein langes Neujahrsfest zu werden.«
»Was sollen wir unternehmen?«
»Ist das schon mal passiert? Etwas Ähnliches? Mit ihr?«
»Weiß ich nicht.«
»Wo ist der junge Mann jetzt?«
»In der Stadt. Ihm ist Ersatz zugeteilt worden.«
»Bitte jemanden, sich eingehender mit ihm zu unterhalten.«
»Das kann ich machen«, sagte Ringmar.
»Okay.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Gib mir noch fünf Minuten, Bertil. In fünf Minuten weiß ich es. Vielleicht eher.«
»Bis dann also«, sagte Ringmar. »Übrigens, ich wünsche dir ein gutes neues Jahr.«