42
Draußen an der Tür schlug etwas, schlug hin und her. Klapperte, als würde die Tür aus ihren Scharnieren gerissen. Oder war das Geräusch in ihrem Kopf, vielleicht klapperte etwas in ihrem Kopf und nirgendwo anders?
Inzwischen hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Es konnten Wochen vergangen sein. Oder Stunden. Wenn sie jemand fragen würde, sie würde es nicht sagen können. Aber niemand würde sie fragen. Der Letzte, der sie etwas gefragt hatte, war er gewesen, und er war nicht mehr hier. Das Geklapper da draußen, das war er. Er hatte sie verlassen. Es wurde ihm zu gefährlich. Sie würden näher kommen. Sie würden sie finden. Dann wollte er so weit entfernt sein wie möglich.
Er ist zu feige, um mich zu töten. Diese feige Sau!
Sie versuchte, einen Fuß oder einen Finger zu bewegen. Einen Teil des Körpers, nur einen kleinen Teil. Irgendetwas. Wenn es ihr gelang, war es noch nicht zu spät. Und wenn sie nur etwas Wasser bekäme, würde es nie zu spät sein. Er musste ihr irgendwann wieder Wasser gegeben haben. Ich kann mich nicht erinnern. Bald weiß ich nicht einmal mehr, warum ich hierhergekommen bin. Vielleicht weiß er, wie das Gehirn eines Menschen funktioniert. Vielleicht weiß er alles. Er hält mich hier so lange fest, bis ich mich an gar nichts mehr erinnere. Dann bin ich frei.
Was ist das? Waren das Stimmen? Nein, keine Stimmen. Sie lauschte angespannt. Jetzt war es wieder still. Im Zimmer ist es dunkel. Warum ist es so dunkel? Vorher war es immer ein bisschen hell. Durch das Fenster war Licht gesickert. Es ist weg. Alles Licht ist verschwunden.
Sie machte einen neuen Versuch, sich zu bewegen. Aber es war unmöglich. Er hatte ihre Lage verändert, hatte sie auf eine andere Art gefesselt. Sie kam nicht dahinter, wie. Sehen konnte sie nichts. Sie befand sich in einem anderen fensterlosen Zimmer. Was war das für ein Geklapper? Es kommt mir bekannt vor. Das habe ich schon einmal gehört, vor langer Zeit. Erinnere ich mich? Ich bin immer noch in derselben Wohnung. Er hat mich nur in ein anderes Zimmer verlegt. Wenn jemand kommt, bin ich unauffindbar. So ist es. Darum also. Wenn sie kommen, um mich zu retten, bin ich nicht da. Er hat mich ein weiteres Mal versteckt. Sie werden kommen und mich suchen, und ich bin nicht da. Mich gibt es nicht mehr.
Winter brauchte zehn Minuten zu Fuß bis zu dem Haus in der Smålandsgatan. So nah y doch so fern. Spanien. Muss ich nach Spanien fahren? Die Zeit ist zu knapp. Vielleicht bleibt es mir trotzdem nicht erspart.
An der Haustür hing die Namenstafel, aber Rhodins Name fehlte. An einer Stelle war eine Lücke. Winter drückte auf den Knopf. Niemand meldete sich. Er drückte noch einmal. Nach einer Weile kratzte es in der Gegensprechanlage.
»Ja …?«
»Sind Sie Hans Rhodin?«
»Ja …?«
»Hier ist Erik Winter. Landeskriminalpolizei. Würden Sie bitte öffnen?«
Wieder ein Kratzen. Vielleicht ein Räuspern.
»Wie bitte?«
»Erik Winter. Wir sind uns schon einmal begegnet. Würden Sie bitte öffnen? Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Wieder ein Räuspern.
»Äh … um was geht es denn?«
Die Stimme klang, als käme sie von der anderen Seite des Erdballs, durch die Telefonleitungen vergangener Zeiten. So nah und doch so fern, dachte Winter.
»Ich möchte, dass Sie die Tür öffnen!«, sagte er lauter.
Im Türschloss knackte es.
Winter trat in den Hausflur und stieg die Treppen hinauf. Es sah aus wie bei ihm am Vasaplatsen. In allen Häusern des Viertels sah es aus wie bei ihm zu Hause, die hohe Decke, die Stuckatur. Der trockene Geruch nach Alter.
Er stand vor der Tür im dritten Stock. Auch hier kein Namensschild. Er klingelte. Er hatte kein Gefühl von drohender Gefahr. Das wusste er immer. Fast immer. Er trat einen Schritt beiseite. Als die Tür geöffnet wurde, stand er dahinter. Er wartete, bis der Mann herauskam. Rhodin zuckte zusammen, als Winter sich zeigte. Rhodin trug ein Unterhemd und eine seltsame Hose. Seine Bartstoppeln waren mehrere Wochen alt und die Ringe unter seinen Augen sehr dunkel. Südeuropäisch. Winter roch Alkohol. Ein alter Rausch, der wie neu war.
»Was gibt’s?«, fragte Rhodin.
»Darf ich hereinkommen?«
»Habe ich eine Wahl?«
Winter antwortete nicht, machte nur eine leichte Handbewegung zur Wohnung. Er ahnte, wer sie vermittelt oder verkauft hatte.
Rhodin drehte sich um und ging voran in sein Zuhause. Wenn es sein Zuhause war. Er drehte sich wieder zu Winter um.
»Ich habe nichts Neues zu sagen, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben.«
Winter schwieg.
Rhodin wirkte nicht betrunken. Er sprach nur wie ein sehr müder Mann.
»Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen.«
Jetzt waren sie im Wohnzimmer. Durch die hohen Fenster sah Winter das Polizeipräsidium. Sein Büro konnte er nicht sehen. Das lag nach Norden.
Auf dem Tisch standen eine Flasche Rotwein und ein Glas. Winter hob die Flasche an. Er kannte die Marke. Das Glas war unbenutzt, die Flasche unberührt, geöffnet, aber noch voll.
Rhodin stand auf der anderen Seite des Tisches und schien darauf zu warten, dass Winter etwas sagte. Gleichzeitig machte er den Eindruck, als wollte er kein Wort hören. Winter kannte dieses Verhalten. Es war deutlicher als Worte. Er hob den Blick von der Weinflasche.
»Bei unserer letzten Begegnung sagten Sie, dass Sie nicht Auto fahren.«
Rhodin schwieg.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
Rhodin nickte.
»Sie sagten, Sie besitzen kein Auto.«
»Ja … und? Ich fahre kein Auto.«
»Ich weiß, dass Sie einen Führerschein haben«, sagte Winter.
»Das ist lange her.«
»Was ist lange her?«
»Dass ich ihn zuletzt genutzt habe.«
Winter schwieg. Rhodin schielte zu der Weinflasche. Er möchte gern trinken, wartet jedoch ab, bis ich gehe. Dann leert er sie in einem Zug.
Vielleicht hat er Heiligabend vergessen.
Vielleicht rechnet er nicht damit, dass wir jeden kleinen Dienstrapport lesen, wenn wir ermitteln. Irgendwann lesen wir sie, und manchmal ist es noch nicht zu spät.
»Heiligabend hat jemand versucht, Ihr Auto zu stehlen«, sagte Winter. »War es Ihr Auto?«
Rhodin zuckte zusammen.
»Das … was meinen Sie damit?«
»Genau das, was ich sage. Jemand hat versucht, Ihr Auto zu stehlen. Das haben Sie jedenfalls den Polizisten erzählt, die Ihnen helfen wollten.«
Rhodin antwortete nicht. Dann murmelte er etwas, das Winter nicht verstand.
»Was haben Sie gesagt?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was spielt das für eine Rolle für Sie?«
»Antworten Sie nur auf meine Frage.«
»Es war nicht mein Auto. Aber das haben Sie wahrscheinlich längst herausgefunden.«
»Wem gehört es dann?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Wessen Auto war es?!«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Es war … wie soll ich das erklären? Ich hatte es mir von Anders geliehen.«
»Von Anders Dahlquist?«
Rhodin nickte.
»Uns ist nicht bekannt, dass er ein Auto besaß«, sagte Winter.
Rhodin murmelte wieder etwas. Er schwankte, fand aber sein Gleichgewicht wieder. Winter wurde klar, dass er doch betrunkener war, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte.
»Was haben Sie gesagt?«
»Es war nicht seins.«
»Nicht seins? Wessen dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und trotzdem haben Sie es übernommen.«
Rhodin antwortete nicht.
»Wie sind Sie dazu gekommen?«
»Schlüss…« Rhodin brach schlagartig ab. Er schwankte wieder, griff nach einem Halt, den es nicht gab, machte einen Schritt zur Seite, schwankte, wankte, streckte sinnlos ein Bein aus, und dann kippte er um. Sein Kopf schlug mit einem ekelhaften Geräusch auf den Tisch.
Winter ging rasch zu ihm. Rhodin war bei Bewusstsein. Er bewegte den Kopf. Er war betrunken genug, um keinen Schmerz zu empfinden, und wahrscheinlich auch betrunken genug, um ohne Verletzungen davonzukommen. Winter zog ihn auf das Sofa.
»Die Schlüssel«, sagte er. »Wie sind Sie an die Schlüssel gekommen?«
»Ich … ich … bin zu schwach«, antwortete Rhodin.
»Wie sind Sie an die Schlüssel gekommen?!«
»Das Au… Ich hab das Auto nicht mehr.«
»Wer hat die Schlüssel?«
»Ich weiß nicht, wer er ist.«
»Wer ist es?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wer es ist.«
»Wie heißt er?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin zu schwa…«
»Haben Sie ihn getroffen?«
Rhodin antwortete nicht.
»Haben Sie ihn getroffen?!!!«
Rhodin bewegte den Kopf. Vielleicht doch eine Gehirnerschütterung. Vielleicht Ernüchterung. Oder das Gegenteil. Irgendetwas, das ihn dazu veranlasste, etwas zu sagen, was der Wahrheit nahekam. Der Wirklichkeit. Der Wahrheit.
Winter zerrte an seinem Unterhemd. Er spürte die Rippen darunter. Rhodin hatte sich alles Fett weggesoffen.
»Nur einmal …«, sagte Rhodin.
»Wo?«
Rhodin reagierte nicht.
»Wo?«
»Da draußen.«
»Da draußen wo?«
»Önnered.«
»Önnered? Önnereds Anleger?«
»Nicht … genau da.«
»Wo?!« Winter zerrte heftiger. Rhodin verdrehte die Augen, schielte zu Winter hinauf. Er schien voller Angst, als wäre Winter aus seinen Alpträumen gestiegen und hätte ihn in die Wirklichkeit gerissen, nach der Wahrheit gegriffen. Ein grünes Monster, ein rosa Elefant, ein blauer Skorpion. Ein dunkelblonder Bulle. »Wo?!«
»Auf … auf den Klippen.«
»Wo Sie ihn umgebracht haben.«
»Nein … nicht … wo ich ihn umge…«
Rhodin verstummte.
»Wo Sie ihn ertränkt haben«, sagte Winter. »Wo Sie ihn erdrosselt haben.«
Jetzt starrte Rhodin ihn an, das Monster.
»Nein, nicht ich …«
»Was?«
»Ich wusste ni… nichts.«
»Nichts wovon?«
»Ich wusste nichts«, wiederholte Rhodin. Sein Kopf fiel nach vorn. Aus seinen Mundwinkeln tropfte Speichel. Er sah aus, als müsse er sich übergeben.
»Dort haben Sie die Schlüssel an sich genommen«, sagte Winter.
Rhodin antwortete nicht. Sein Gesicht war jetzt weiß, fast grün.
»Sie haben die Schlüssel aus seiner Tasche genommen«, sagte Winter und ließ ihn los.
Halders und Aneta Djanali fuhren in die Marconigatan. Der Boden war immer noch mit einer Schneeschicht bedeckt. Die Häuser leuchteten orange in der Wintersonne.
»Die Buden sind nicht gerade hübsch, aber die Farbe schon«, sagte Aneta Djanali.
»Sie sind orange, egal, ob die Sonne scheint oder nicht«, sagte Halders.
»Jetzt scheint sie offenbar immer.«
»Wie im südlichen Kalifornien«, sagte Halders.
»Bist du da schon mal gewesen, Fredrik?«
»Hab ich das nicht erzählt?«
»Nein.«
»Ich bin dort gewesen. It never rains in Southern California.«
Er parkte auf einem Parkplatz einige Meter von dem Hochhaus entfernt. Sie stiegen aus.
»Dieser Mann ist also Zeuge«, sagte Aneta Djanali.
»Er hat sie gesehen, kurz bevor sie verschwunden ist.«
»Wo?«
»Auf der Avenyn.«
»Auf der Avenyn kann man die meisten sehen«, sagte Aneta Djanali. »Ob man will oder nicht. Ist dir das noch nie aufgefallen? Wenn du in der Stadt bist, landest du irgendwann unweigerlich auf der Avenyn.«
»Diese Stadt ist so angelegt«, sagte Halders. »Es gibt nur einen einzigen richtigen Boulevard.«
»Nicht mein Typ Boulevard.«
»Was ist denn dein Typ von Boulevard?«
»Ocean Drive«, antwortete sie.
»Bist du auch schon mal in Los Angeles gewesen?! Santa Monica?«
»Nein, aber im Kino. In jedem Hollywood-Film kommt eine Szene am Ocean Drive vor. Ich erkenne die Palmen.«
»Was du alles weißt, Aneta.«
Sie hatten das Haus erreicht. Nävers wohnten im siebten Stock. Halders drückte auf den Klingelknopf. Er wusste nichts über diese Familie, außer dass der Herr im Haus nicht mehr im Haus wohnte. Er klingelte noch einmal.
»Hallo?«
Es war eine helle Stimme.
Halders stellte sich vor.
»Wir möchten gern raufkommen«, sagte er. »Öffnest du bitte die Tür?«
In der Gegensprechanlage knisterte es. Jetzt ertönte eine andere Stimme, auch diese hell.
»Um was geht es? Wer ist da?«
Halders stellte sich und Aneta noch einmal vor.
»Was hat er nun wieder angestellt? Er wohnt nicht mehr hier.«
»Nichts«, antwortete Halders. »Er hat nichts angestellt. Bitte öffnen Sie.«
Im Türschloss klickte es. Die Tür sah aus, als wären andere Besucher zu ungeduldig gewesen, um das Klicken abzuwarten. Das Schloss hatte Kratzer, auf der Tür waren Spuren von Tritten. Aber das Fensterglas war noch heil.
Das Liftinnere war nicht hübsch. Hollywood, dachte Halders, die Abteilung für Gewalt, aber in echt.
Im Treppenhaus roch es nach Zwiebeln und Abfall. Halders hörte jemanden schreien, ein paar Stockwerke höher oder darunter. Vielleicht war es ein Fernseher. Im Furnier der Wohnungstür von Familie Näver war ein kleiner Spion. Er klingelte, und die Tür wurde sofort geöffnet. Die Frau hatte sie durch das Loch gesehen. Sicherheitshalber hatte Halders seinen Ausweis hochgehalten.
»Dann kommen Sie mal rein.«
Im Flur stellten sie sich noch einmal vor.
»Gitte Näver«, sagte sie. »Nun kommen Sie schon rein.«
Sie betraten ein helles Wohnzimmer, von dem man eine schöne Aussicht über den Askimsfjord hatte. Das Meer glänzte wie Eis. Er dachte an Grönland. Auf dem Flug nach Los Angeles war er über Grönland geflogen. Alles unter ihm war Eis gewesen, die Flüsse, Inseln, Land und Meer. Weiß und wunderbar blau. Als sie sich Kalifornien näherten, war die Erdkruste eine öde Wüstenei aus schwarzen Bergen geworden.
Der Junge ließ sich nicht blicken.
»Um was geht es?«, fragte seine Mutter.
»Wir müssen Ihren Mann sprechen«, sagte Halders.
»Was hat er getan?«
»Nichts. Möglicherweise hat er etwas gesehen, das uns interessiert. Wir müssen unbedingt mit ihm sprechen.«
»Was hat er gesehen?«
»Eine unserer Kolleginnen ist verschwunden«, erklärte Aneta Djanali. »Wir wissen nicht, was passiert ist. Aber Ihr Mann hat sie gesehen, kurz bevor sie verschwand. Glauben wir. Darüber müssen wir mit ihm reden.«
»Wo hat er sie gesehen?«
»Auf der Avenyn.«
»Ja, da steht er immer.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster, auf all das Große in der Ferne, das unfassbare Meer, das um die ganze Erde reichte. Sie ist hier gefangen, dachte Aneta Djanali. Es hat keinen Wert. Ihr Mann steht obdachlos auf der Avenyn. Manchmal kommt er her. Erinnert sie an ihre Gefangenschaft.
»Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Fredrik.
»Waren Sie schon bei der Heilsarmee?«
»Ja. Die haben uns Ihre Adresse gegeben.«
»Und er ist nicht auf der Avenyn? Er steht immer vorm Tvåkanten.« Sie lächelte, aber vielleicht war es auch etwas anderes. »Es ist schon Jahre her, seit ich dort in der Nähe war.«
»Kann er sich bei einem Freund aufhalten?«
»Ich kenne keinen. Ich will übrigens auch keinen kennen.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Vor Weihnachten.« Sie löste den Blick vom Meer. »Eigentlich wollte er Geschenke für Johan bringen.« Sie wies mit dem Kopf in den Flur und lächelte wieder dieses seltsame Lächeln, das keines war. »Drei Minuten hat er dort gestanden, und dann war er wieder weg. Er hatte keine Geschenke. Johan wartet immer noch darauf.«
Halders und Aneta Djanali schwiegen.
»Wo er jetzt ist, weiß ich also nicht«, fuhr sie fort.
»Hat er nicht angerufen?«
»Wir haben kein Telefon mehr.«
»Mama …«
Sie drehten sich um.
»Redet ihr über Papa?«
Der Junge sah aus, wie Zehnjährige eben aussehen. Warum auch nicht? Wie Halders’ elfjähriger Sohn. Dieser Junge hieß Johan. Er war Heiligabend zehn geworden. Er war Hockeyspieler. Er wirkte kräftig unter dem T-Shirt.
»Geht es um Papa?«, wiederholte er.
»Ja, Johan.«
»Was ist los?«
»Die Polizei möchte sich mit ihm unterhalten.«
»Dein Papa hat nichts getan«, sagte Halders. »Er hat etwas gesehen, über das wir gern mit ihm sprechen würden.«
»Er sagt, er sieht alles«, sagte der Junge.
»Das ist gut«, sagte Halders.
»Er sieht alles von der Stelle, wo er arbeitet«, fuhr der Junge fort.
Halders nickte.
»Er hat mir erzählt, dass er oft Leute in der Stadt gesehen hat, die später ermordet wurden«, sagte Johan.
»Wie bitte?!« Seine Mutter machte einen Schritt auf ihn zu. »Was hat er dir erzählt?! Wann?!«
»Als ich trainiert habe, vor Weihnachten. In Frölundaborg.«
»Hast du ihn in Frölundaborg getroffen?«
»Da besucht er mich manchmal. Wenn wir ein Match haben. Jetzt hatten wir Training.«
»Wie war er da? Wie ist er, wenn er dich besucht? War er betrunken?«
»Nein.«
»Warum hat er dir erzählt, dass jemand ermordet wurde, Johan?«, fragte Aneta Djanali.
»Er wollte mir wohl beweisen, dass er alles sieht«, antwortete Johan. »Er hat einen guten Überblick, wenn er mitten in der Stadt steht.«
»Hat er einen Mord gesehen?!«, fragte seine Mutter. »Johan?! Was hat er gesehen? Hat er es gesehen?«
»Nein.« Der Junge hatte eine Ruhe, die seine Mutter seit langem verloren hatte. »Papa hat gesagt, er hätte jemanden gesehen, den man später tot im Wasser gefunden hat. Das stand auch in der Zeitung.«
»Du lieber Gott«, sagte Gitte Näver.
Seltsam, dass sie seinen Namen nicht längst vergessen hat, dachte Aneta Djanali.
»Er wollte wohl ein bisschen vor mir aufschneiden.« Der Junge sah traurig aus, als er das sagte, sein Gesicht wurde zwanzig Jahre älter. Aneta Djanali und Halders hatten das schon viele Male gesehen. Kinder von Abhängigen alterten schneller als die Eltern. Einige wurden Beschützer, wie dieser Johan. Eine Schulter zum Anlehnen, selbst wenn sie zart war. Aber Johans Schulter wirkte stark. Hoffentlich schafft es der Junge in die Nationalmannschaft, dachte Halders. Und wird ein richtiger Profi. Los Angeles Kings.
»Ich glaube, ich weiß, wo Papa ist«, sagte Johan.