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Winter empfing Tommy Näver in seinem Büro. Die Hände des Faktum-Verkäufers zitterten, als er sich über das Gesicht strich. Winter spürte einen Impuls, das Gleiche zu tun.
»Ist sie wirklich verschwunden?«, fragte Näver.
»Irgendwie ja«, antwortete Winter.
»Sie ist ein gutes Mädchen. Das hab ich auf den ersten Blick erkannt.«
»Erzählen Sie, wie Sie sie das letzte Mal gesehen haben.«
»Was soll ich denn erzählen?«
»Haben Sie miteinander gesprochen, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?«
»Sie hat mich wahrscheinlich gar nicht bemerkt.«
»Ach?«
»Sie … schien irgendwohin unterwegs zu sein, hat bloß geradeaus gestarrt. Verstehen Sie?«
»Ja.«
»Hat sie sich etwas angetan?«, fragte Näver.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»So was passiert.« Näver schaute weg. »Ich habe Kumpel, die haben sich umgebracht.« Sein Blick kehrte zu Winter zurück. »Das kommt überall vor, auch Leute, denen man es nicht zugetraut hat, können sich plötzlich das Leben nehmen.«
»Wir wissen es nicht. Aber ich glaube nicht daran.«
»Das wäre furchtbar«, sagte Näver.
Winter nickte. Es war immer furchtbar. Es war ein Ausweg, der keiner war. Manchmal ging der Tat eine besondere Ruhe voraus. War Gerda Hoffner ruhig gewesen, bevor sie verschwand? War sie heiter gewesen? Er wusste es nicht. Er musste fragen. Ihr Kollege schien ein fröhlicher Zeitgenosse zu sein. Johnny. Er würde sich nicht umbringen.
»Ich möchte Sie etwas fragen, worüber Sie mit Ihrem Sohn gesprochen haben«, sagte Winter.
»Mir gefällt nicht, dass Sie dort waren«, sagte Näver. »Sie hätten nicht zu ihnen fahren sollen.«
»Wir haben nach Ihnen gesucht.«
»Die beiden haben nichts damit zu tun.«
»Womit?«
»Das Ganze ist meine Schuld.«
»Was ist passiert?«
»Wie meinen Sie das?«
»Aus welchem Grund sind Sie obdachlos geworden?«
»Der Schnaps natürlich. Zuerst nimmste einen Schluck zur Brust, dann nimmt der Schluck dich zur Brust. So ist das.«
Winter nickte.
»Und dann hatte ich Probleme mit den Knien. Ich war Fliesenleger und hab auf dem Bau gearbeitet, aber mein Körper hat versagt.« Näver bewegte einen Arm, wie um eine besondere Bewegung zu demonstrieren. »Es war wie mit dem Hockey. Mein Körper war nicht dafür geeignet. Weder für den Job noch fürs Hockey. Verstehen Sie?«
Winter nickte.
»Sie haben Ihrem Sohn von einer Person erzählt, die ermordet wurde«, sagte er.
Näver hatte seinen Arm unablässig bewegt, jetzt hörte er auf. Er schaute ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Was haben Sie gesagt? Können Sie das noch mal wiederholen?«
»Johan hat erzählt, Sie hätten über diesen Mann gesprochen.«
Näver schwieg. Er schien an etwas zu denken, das schon lange her war. Oder sehr nah.
»Es war blöd, darüber zu reden«, sagte er.
»Worüber?«
»Über die Sache. Den Mann … der verschwunden ist. Er ist ja auch verschwunden.« Nävers Blick glitt zum Fenster hinaus. Draußen floss der Fattighusån vorbei. »Dann habe ich etwas über ihn gelesen, und da ist er mir wieder eingefallen.«
»Inwiefern?«
Näver sah Winter an.
»Wie er vorbeigegangen ist. Er ist hin und wieder vorbeigekommen.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Das hat sich manchmal ergeben. Ich quatsch doch alle an. Das wissen Sie ja.«
Winter nahm das Foto von einem Stapel Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Anders Dahlquist lächelte ihm vorsichtig entgegen.
»Ist er das?«
Näver betrachtete das Bild und schaute auf. »Ja. Das ist der, den ich meine.«
»Er heißt Anders Dahlquist.«
Näver nickte.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Keine Ahnung.« Näver hob einen Arm. »So weit reicht mein Gedächtnis nicht zurück.«
»So weit liegt das gar nicht zurück«, sagte Winter.
»Wenn Sie es schon wissen, brauchen Sie mich doch nicht zu fragen.«
»Warum haben Sie Johan von ihm erzählt?«
»Ich weiß es nicht. Es war verdammt dämlich von mir. Ich wollte wohl … Ich weiß nicht.« Näver verstummte und sah wieder aus dem Fenster. Der Fluss auf der anderen Seite des Parks wurde von sämtlichen Lichtern der Nacht beleuchtet. Das Wasser glänzte wie Eisen. »Ich hab ihm ja kaum was … zu erzählen.« Sein Gesicht verzog sich, als hätte er plötzlich schreckliche Schmerzen. Schwere Tränen rollten über seine Wangen. Wie Eisen. Wie Eisen auf einer rauen Oberfläche. Näver versuchte nicht, sie wegzuwischen. »Scheiße«, sagte er. »Verdammte Scheiße.«
Winter wartete. Er hörte Nävers Verzweiflung, sie war wie ein Ruf aus dem tiefsten Innern seines Körpers. Sein ganzer Körper schien jetzt vor Schmerzen zu zittern. Vielleicht war er allzu lange nüchtern gewesen.
Näver putzte sich die Nase. Von irgendwoher hatte er ein Taschentuch gezaubert.
»Entschuldigung«, sagte er.
»Möchten Sie etwas trinken? Wasser? Kaffee?«
»Nein, nein. Ich muss los.« Er sah Winter an. »Darf ich jetzt gehen?«
»War Dahlquist allein?«
»Was?«
»Der Mann, von dem wir reden, Anders Dahlquist. Haben Sie ihn mit einer anderen Person zusammen gesehen?«
Näver verstaute sein Taschentuch. Er strich sich über die Augen und dann über das Haar. Er richtete einen Ärmel seines karierten Hemdes, als bereitete er sich auf die Rückkehr in die Welt vor.
»Haben Sie meine Frage gehört, Herr Näver?«
»Ja, ich habe sie gehört.« Er sah Winter an. »Ja, er hatte wohl einen Freund.«
»Freund?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, ist er einige Male mit jemandem vorbeigekommen.«
»Wo vorbei? Beim Tvåkanten?«
»Ja. Und auch auf der Kristinelund.«
»Der Kristinelundsgatan?«
»Ja.«
»Wie sah der Freund aus?«
»Tja … hübscher Kerl. Gut gekleidet. Oberschicht. Sonnengebräunt.«
»Wie alt?«
»Vielleicht vierzig. Aber das ist schwer zu schätzen.«
»Hatten Sie den Eindruck, sie wären Freunde?«
»Sie haben sich jedenfalls unterhalten.«
»Haben Sie sich schon einmal Gedanken über die beiden gemacht?«
»Was? Nein …«
»Sie wussten, dass Dahlquist ermordet wurde. Sie haben ihn mehrere Male mit jemandem zusammen gesehen. Haben Sie nicht daran gedacht?«
»Ob ich zwei und zwei zusammengezählt habe, meinen Sie? Hab ich nicht. Ich bin kein Kommissar oder wie das heißt. Das ist nicht mein Job. Aber selbst wenn, hätte ich ihn nicht mehr, da ich ihn versoffen hätte. Erst jetzt, wo Sie es sagen, geht mir ein Licht auf. Zähle ich zwei und zwei zusammen. Verstehen Sie? In den Wochen vor Weihnachten hab ich ziemlich wacker gebechert.«
»In der Zeit sind wir uns begegnet. Einmal waren Sie betrunken.«
»Ach? Daran kann ich mich nicht erinnern. Da können Sie mal sehen. Ich kann mich nicht erinnern!«
»Aber Sie erinnern sich an Dahlquists Freund.«
»Ja.«
»Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht. So was kann ich nicht erklären. Ich weiß nicht, ob es sich überhaupt erklären lässt.«
»Haben Sie ihn einmal mit einer anderen Person zusammen gesehen?«
»Nein … nicht soweit ich mich erinnere.«
»Sie haben ihn also nur allein gesehen?«
»Ja.«
»Und wann zuletzt?«
»Allein, meinen Sie?«
»Ja.«
»Daran … kann ich mich nicht erinnern. Das …« Näver verstummte.
Winter wartete auf die Fortsetzung.
»Es kann Heiligabend gewesen sein«, fuhr Näver fort. »Derselbe Tag, an dem ich mit ihr im Streifenwagen gefahren bin. Ihrer … Polizistin. Sie heißt Gerda Hoffner, nicht?«
»Sie haben diesen Mann Heiligabend gesehen?«, fragte Winter.
»Ich glaube ja.«
»Haben Sie ihn danach noch einmal gesehen?«
»Nein.«
»Würden Sie ihn erkennen, wenn Sie ihm noch einmal begegnen?«
»Ja.«
Winter nickte.
»Sie sahen sich übrigens ein bisschen ähnlich«, sagte Näver.
»Wie bitte?«
»Die beiden. Dahl… Dahlquist und der andere. Sie sahen sich ähnlich.«
»Inwiefern?«
»Das lag nicht nur an ihrer Kleidung … es war etwas anderes. Sie sahen sich ein bisschen ähnlich. Jetzt erinnere ich mich, dass mir das aufgefallen ist. Ähnlich, als wären sie verwandt. Vielleicht Brüder. Oder Halbbrüder. Ich habe auch einen Halbbruder.«
Der Wasserkrug war leer. Er hatte einen Strohhalm hineingesteckt, sie saugte daran, aber es kam kein Wasser mehr. Ihr Hals war trocken. Sie konnte nicht schlucken, es gab nichts mehr zu schlucken.
Ich habe ihn verjagt. Es ist meine Schuld. Komm zurück, ich kann es erklären. Ich kann es von Anfang an erklären.
Sie versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, versuchte zu blinzeln. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie versuchte sich zu bewegen. Hatte er sie wieder auf eine andere Art gefesselt? Sie konnte sich nicht bewegen. Ich bin gelähmt. Ich bin total gelähmt.
Sie hatte etwas gehört. Vorhin. An der Tür hatte es geklingelt, es konnte nichts anderes gewesen sein. Wieso war das bis hierher zu hören? Lag sie in der Nähe der Wohnungstür? Oder war es eine andere Wohnung? War es die Nachbarwohnung? Aber dort klingelte bestimmt niemand an der Tür. Sie war doch noch abgesperrt? Oder war so viel Zeit vergangen, dass die Absperrung inzwischen entfernt worden war? Der Fall niedergelegt. In Vergessenheit geraten.
Womöglich hatte er sie vergessen. Er hatte sie irgendwo anders in der Wohnung noch besser versteckt und seinen Job so gut gemacht, dass er sie selbst nicht mehr fand! Das wäre Stoff für einen Film. Ich weiß, dass er mich verlegt hat, mindestens einmal. Und jetzt hat er vergessen, worum es überhaupt ging. Früher oder später falle ich ihm wieder ein, aber dann haben mich alle anderen vergessen, dann ist alles egal. Und jetzt habe ich keine Kraft mehr zum Denken. Ich will weiterschlafen.
Winter war allein im Zimmer. Die Straße vor dem Fenster war leer. Der Januarabend lag schwer wie ein Stein über der Stadt. Im Lauf des Tages war es kälter geworden. Jetzt waren es minus sieben Grad, ungewöhnlich kalt für Göteborg. Er musste an Spanien im Januar denken. In Andalusien war es abends kalt, aber das machten die Tage wett. Das Licht war ewig in jenen Tagen, als hätten sich alle Himmel des Erdballs vereint.
Costa del Sol. Sie ließ ihn nicht mehr los. Da unten war etwas passiert, was mit all dem zusammenhing, das ihn in den vergangenen Wochen beschäftigt hatte. Dieser Fall. Diese Fälle. Er wusste nicht, wie weit sie zusammenhingen, die Fälle, aber etwas hatten sie gemeinsam. Vielleicht war es ein Puzzle. Vielleicht war es gar kein Mysterium.
Winter dachte an Erik Lentner. Dem Jungen war etwas zugestoßen. Das war nichts oder alles. Jemand war dort gewesen. Holst? Ja, Holst. Aber auch noch eine andere Person. Er wählte die Telefonnummer und wartete.
»Ann Lentner.«
»Hallo, hier ist Erik Winter vom Landeskriminalamt. Wir haben uns ja schon einige Male getr…«
»Was wollen Sie denn nun schon wieder?«, unterbrach sie ihn.
»Ich möchte gern mit Erik sprechen.«
»Warum?«
»Ich muss ihn etwas fragen. Ist er zu Hause?«
»Nein.«
»Wann kommt er wieder?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann rufe ich sein Handy an.«
»Das hat er nicht mitgenommen.«
»Wohin nicht mitgenommen?«
»Nach Marbella.«
»Erik ist in Marbella?«
»Ja und? Ist er nicht aus den Ermittlungen gestrichen oder wie man das nennt?«
Winter antwortete nicht. Er sah den jungen Mann vor sich. Er sah einen Platz mitten in Marbella, Palmen, eine schmale Gasse, die sich den Berg hinaufwand.
»Hallo?«, hörte er Ann Lentners Stimme.
»Warum ist er nach Marbella gefahren?«
»Ist das so verwunderlich? Er wollte Abstand gewinnen. Und er wollte allein sein.«
»Ist er allein dort?«
»Ja, habe ich das nicht gesagt?«
»In der Wohnung in der Calle Aduar?«
»Ja, natürlich.«
»Wann ist er abgereist?«
»Das war … gestern.«
Winter hörte eine Stimme im Hintergrund.
»Ja«, sagte sie, »gestern Morgen ist er geflogen.«
Air France, dachte Winter, via Paris. Oder Lufthansa via München. Ankunft in Málaga zwischen zwölf und eins.