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Winter flog um 13:06 Uhr vom Airport Landvetter ab. Der Himmel war immer noch unbegreiflich blau. Zwischenlandung in München. Der Flughafen war immer noch neu, die Wände waren aus Glas.

Die Lufthansa-Maschine kreiste einen Moment über Málaga. Das Meer unter ihm war blau, winterblau. Die verbrannte Erde an den Bergen war vorübergehend zu einem kurzen Frühling ergrünt. Nicht lange, und sie würde wieder rot sein, rot gefärbt von der versinkenden Sonne. Er fühlte sich ruhig. Eine Ruhe, die die entscheidende Phase einleitete. Er war schon lange unterwegs. Es war kein plötzlicher Aufbruch gewesen, die Reise hatte er längst gebucht, ehe er sich dessen bewusst war.

Vor dem Flughafen wartete ein Mietwagen. Er fuhr bei Churriana auf die Autobahn und dann weiter westwärts. Die Wolkenkratzer in Torremolinos waren schwarze Silhouetten vor dem Himmel. Türme. Kreuzfahrertürme, dachte er. In Fuengirola blitzte ein Kirchturm wie rotes Gold. Hier haben wir geheiratet. Links glitzerte das Meer. Auf der anderen Seite der Calahondabucht lag Marbella. Die Stadt sah aus wie ein Fahrzeug, das alle Lichter auf das Meer richtete. Er ließ die Autoscheibe herunter. Die Luft war kühl. Es roch nach Salz, Tang, Benzin. Und nach dem Unbestimmbaren, das es nur in der Fremde gibt.

Er fuhr über die Avenida Svero Ochoa in die Stadtmitte und bog links auf die Calle del Fuerte ab, eine vorübergehende Verkehrsumleitung. Die vorübergehenden Verkehrsumleitungen im zentralen Marbella waren permanent.

Er parkte in einer Lücke vor dem Hotel auf der Avenida Antonio Belón. Das Alte Hotel Lima. Einmal war es neu und hübsch gewesen, jetzt war es nur noch hübsch.

Er checkte ein und fuhr zu Zimmer Nummer 553 hinauf, öffnete die Tür, trat ein und ließ die Reisetasche fallen. Hier hatten sie gewohnt, als Angela das erste Mal in Marbella gewesen war. Damals hatte man noch Meerblick gehabt. Einige Jahre später war auf der anderen Straßenseite ein Gebäude errichtet worden, das die Aussicht versperrte. Trotzdem waren sie in das Zimmer Nummer 553 zurückgekehrt.

Er öffnete die Balkontür, und während er hinaustrat, tippte er seine Telefonnummer von zu Hause ein. Hier war der Duft nach Salz noch stärker und der Duft nach gegrilltem Fisch, der in der Dämmerung überall im alten Marbella aufstieg. Rauch hing in der Luft, Verunreinigungen von Benzin mit niedriger Oktanzahl und Holzkohle. Er atmete das Parfum der Sonnenküste. Hier hatte er kein Bedürfnis zu rauchen.

Angela meldete sich.

»Ich bin im Hotel«, sagte er. »Ich stehe gerade auf dem Balkon.«

»Ist es kalt?«

»Nicht besonders.«

»Was hast du jetzt vor?«

»Ich muss etwas essen.«

»Geh essen und komm nach Hause, Erik.«

»Ich muss es wissen. Das weißt du. Wir haben darüber gesprochen.«

»Du hast darüber gesprochen. In Marbella gibt es auch Polizei. Ach, ich will nicht wiederholen, was ich gesagt habe.«

»Ich auch nicht, Angela. Auf Information von der spanischen Polizei muss man ziemlich lange warten.«

»Ist das nicht überall so?«

Er antwortete nicht. Es gab keine Antwort. Es gab keine Zeit. Herman Schiöld würde nie nach Schweden zurückkehren. Herman Dahlquist, Erik Lentner vielleicht auch nicht. Möglicherweise würde er wegen Dahlquist bleiben. Vielleicht konnte Winter einen letzten Einsatz leisten. Eine Art letzte Tat.

»Morgen um 18:30 Uhr geht mein Flug nach Hause«, sagte er. »Mit Air France. Um halb zwölf treffen wir uns am Flughafen.«

»Dann ist der Fall morgen also gelöst? Das weißt du schon jetzt?«

Unten auf der Belón fuhr ein Auto vorbei. Von links hörte er Stimmen, von der Avenida Miguel Cano. Das Lima hatte die Form eines Bügeleisens. Er stand fast an der Spitze.

»Wer weiß, womöglich schon heute Abend«, sagte er.

»Du weißt nicht, wo sie sind.«

Er schwieg.

»Bertil hat eben angerufen«, sagte Angela. »Gerda Hoffner ist inzwischen ansprechbar.«

»Das macht mich froh.«

»Es war knapp. Sie hatte nicht mehr viel Zeit.«

Er wusste es. Er war dort gewesen.

»Viel hat er nicht aus ihr herausbekommen, jedenfalls noch nicht. Keine direkten Antworten. Sagst du nicht immer, dass es nie genug Antworten gibt?«

»In diesem Fall fehlen uns aber noch einige«, sagte er. »Deswegen bin ich hier.« Er spürte die Abendbrise im Gesicht. Er fühlte sich stark. »Ich rufe heute Abend noch einmal an.«

»Sei vorsichtig.« Er hörte einen Laut, vielleicht ein kurzes Lachen oder ein Einatmen oder etwas anderes. »Dass ich das sagen muss.«

»Ich liebe dich, Angela«, sagte er und drückte auf Aus.

Es war nicht weit. Er verließ das Hotel, bog nach rechts ab, ging an zwei Häuserblocks entlang, bog wieder nach rechts ab in die Notario Luis Olivier und ging hundert Meter weiter bis zu dem Restaurant an der Ecke von Norte. Vor dem Timonell standen einige Tische, doch die Luft war kühl, nachdem die Sonne untergegangen war. Auch hier war es Winter.

Enrique nickte ihm zu, als wäre Winter erst am vergangenen Abend zuletzt hier gewesen. Ein Kellner lehnte an der Bartheke und verfolgte ein Fußballspiel auf einem Monitor, der an der Decke über dem Eingang zur Toilette hing. Winter war der erste Gast des Abends. Wenn er das Restaurant wieder verließ, würde es immer noch einige Stunden dauern, bis der zweite Gast kam.

Winter und seine Familie waren in dem Winterhalbjahr, das sie hier verbracht hatten, Stammgäste im Timonell gewesen. Das Essen war immer ausgezeichnet und wurde mit einem bescheidenen und selbstverständlichen Gespür für Qualität serviert. Das Ambiente dagegen war einfach, etwas streng, weiße Tischdecken, auf eine Art authentisch, die die wenigen Winterurlauber veranlasste, nach einem flüchtigen Blick in das Lokal weiterzugehen. Selbst im Sommer fanden nur wenige ausländische Gäste zu diesem ruhigen Straßenrestaurant. Als wäre es eine geheime Straße. Hatte Angela das nicht einmal an einem lauen Frühlingsabend gesagt?

»Allein?«, fragte Enrique und löste sich von der Bar, um Winter mit Handschlag zu begrüßen. Sie waren etwa gleich alt. Der Kellner hatte einmal erzählt, dass er aus Cádiz stammte.

»Diesmal ja«, antwortete Winter. Das Spanische schmeckte fremd, wie etwas, das man eine Weile nicht gekostet hatte. »Ich habe leider auch nur wenig Zeit.«

Enrique hob die Augenbrauen.

»Ich suche jemanden«, fügte Winter hinzu. »Heute Abend fange ich an. Ich bin gerade gelandet und habe Hunger.«

»Soll ich den Koch bitten, dir einen lenguado zu braten?«

»Ausgezeichnet.«

»Wein?«

»Ein Glas bitte, wähl für mich. Und Wasser.«

Enrique nickte, ging zur Bar zurück und sagte etwas zu dem Barkeeper, der weiter das Fußballspiel auf dem Bildschirm verfolgte. Die Stimme des Kommentators klang erregt, was nicht bedeuten musste, dass auf dem Fußballfeld etwas Aufregendes passierte. Winter verstand, dass es um das Madrid-Derby ging, Atlético gegen Real. Aber das war oben im Norden, weit von hier entfernt.

Enrique brachte den Weißwein in einem beschlagenen Glas, ein Wasserglas und eine kleine Flasche Mineralwasser.

Einige Minuten später kam er wieder mit einem Teller anchoas, Brot in einem Korb und einem Schälchen mit gebratenen Paprika. Winter probierte den Wein. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war noch immer früh am Abend. Er kostete die Speisen, brach das Brot, er brauchte das Salz der Sardellen, es half gegen die Müdigkeit nach der Reise.

Enrique kam mit der gegrillten Seezunge, halbierten Zitronen und Olivenöl.

Winter ging an dem alten Campo de Futbol vorbei, der, solange er hier gewesen war, nie als Fußballplatz benutzt worden und nichts weiter als ein leerer, staubiger Platz mitten in der Stadt war. Ein langes Warten auf urbanización. Er dachte an Heden im zentralen Göteborg.

Er blieb bei Rot auf der Avenida Ricardo Soriano stehen und kreuzte dann die Paradestraße. An diesem Abend fand keine Parade statt. An der Costa del Sol war Nachsaison.

Er ging geradeaus weiter und bog dann rechts in die Benavente ein, die er Hunderte von Malen entlanggegangen war, meistens zusammen mit seinen Kindern. Sie waren auf dem Nachhauseweg zu der Wohnung in der San Francisco oben am Plaza Santo Cristo gewesen oder unterwegs in die Stadt. Es war ein beruhigendes Gefühl gewesen, neben einem Kreuz zu wohnen. Bis dorthin würde er nicht gehen. Hier war die Corrales Altos, und gleich darauf erreichte er die Calle Aduar, eine der schmalsten Gassen von Marbella. Er schaute nach oben. Auf den Dachterrassen waren immer noch Sonnenschirme aufgespannt. Es war ein sonniger Tag gewesen. Es würde ein neuer sonniger Tag kommen.

Er bog nach links ab und ging die Aduar weiter in nördlicher Richtung. Aus einem Fenster im Erdgeschoss hörte er den Fußballkommentator. Das Spiel ging weiter. Auch das beruhigte ihn, wie das Kreuz am Christusplatz.

Er stand vor der Haustür und schaute hinauf. Zwei Fenster im obersten Stock waren erleuchtet. Gegen den Abendhimmel zeichnete sich ein weißer Zipfel ab, der Sonnenschirm auf der Dachterrasse. Hier wurde der Himmel nie schwarz. Es war wie in Göteborg, wie am Meer. Er legte die Hand auf die schwere Türklinke, auch sie war wie in Göteborg, Chalmersgatan, Götabergsgatan, Teatergatan. Aber die Straße hinter ihm war schmaler, unglaublich schmal. Im vergangenen Winter hatte es hier ein kleines Restaurant gegeben, aber das war nicht mehr da, oder er hatte vergessen, wo es wirklich lag.

Er hätte Erik Lentner in diesen Gassen begegnen können. Und Gloria. Eriks Eltern.

Vielleicht Madeleine.

Er stieg die Treppen hinauf. Derselbe muffige trockene Geruch nach Feuchtigkeit, Schimmel, Sonne und Schatten schlug ihm entgegen. Beleuchtung gab es keine, jedenfalls konnte er keine Lampen oder Lichtschalter entdecken. Hier herrschte dasselbe Mittelalter wie überall. Das einzig Moderne an diesem Ort war seine eigene Hoffnung auf die Zukunft. Plötzlich sehnte er sich nach der Zukunft, wie man sich nach dem Sommer sehnt. Er konnte sie kaum erwarten. Nur noch dies hier erledigen, dies war seine letzte Reise.

Er hörte die Musik im Treppenhaus. Sie war nicht laut, dröhnte nicht direkt aus der Wohnung. Sie war eher wie ein leises Sausen, wie das Rauschen des Meeres. Der obere Teil der Flügeltür war hübsch farbig verglast, alt und hübsch, dachte er. Wie in einer Kirche. Die Treppen waren aus altem Stein, der weich wie Haut geworden war. Das Haus mochte dreihundert, vierhundert Jahre alt sein. Familie Lentner hatte gut gewählt. Das Namensschild an der Wohnungstür war diskret, an der Grenze zur Unsichtbarkeit. Winter war klar, dass sich dahinter eine riesige Wohnung verbarg, unsichtbar und riesig.

Er sah einen Schatten hinter dem blauen Glas.

Die Tür wurde geöffnet.

»Ich habe die Haustür gehört«, sagte Erik Lentner. Er betrachtete Winters Gesicht, als suchte er darin etwas, was es beim letzten Mal nicht gegeben hatte.

»Viel Stein hier«, sagte Winter. »Stein leitet Schall.«

»Die Straße ist auch nicht gerade lärmisoliert.«

»Aber Sie haben die Terrasse«, sagte Winter. »Und einige Zimmer nach hinten hinaus.«

»Das stimmt.«

»Darf ich hereinkommen?«

»Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte Lentner. Einladend öffnete er die Tür und trat einen Schritt zurück. Der Fußboden war aus Marmor, wahrscheinlich durchzogen von Wärmespiralen. In Marbella froren im Winter nur die Einheimischen. Es war eine offene Wohnung, ohne Flur, die Küche war mitten im Raum, wie eine Insel. Durch die großen Fenster hinter einem Esstisch, der offenbar von House war, sah Winter die Lichter der Stadt. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wein. Sie war ungefähr halbvoll oder halbleer.

»Möchten Sie ein Glas Wein?«, fragte Lentner.

»Im Augenblick nicht, danke.«

Lentner ging auf die Dachterrasse. Winter folgte ihm. Lentner nahm ein Weinglas von einem Tisch und trank einen Schluck. Seine Hand zitterte leicht. Er stellte das Glas ab, und die Hand zitterte immer noch. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe.

Von der Terrasse hatte man einen Blick nach Westen und Süden, der von Sierra Bermeja bis Málaga reichte. Unten lag die Altstadt, die heute Abend mit ihrer spärlichen Beleuchtung verlassen wirkte. Der Apfelsinenplatz war nur ein Platz. Hinter den schwarzen Fassaden von Mediterraneos und El Fuertes sah er den Strand. Das Meer war jetzt schwarz, genauso schwarz wie der Himmel über Afrika. Auf der Meeresoberfläche blinkten nur wenige Lichter.

Winter schaute nach Osten. Über Puerto Banús zuckten Lichter, als würden sie sich bewegen. Aber auch über Nueva Andalucia lag ein stiller Abend.

»Ich glaube, er ist im Augenblick da drüben.« Winter wies mit dem Kopf auf die Lichter. Er wusste, dass Lentner seinem Blick gefolgt war.

»Woher wissen Sie das?«

»Es gibt keinen anderen Ort.«

»Haben Sie nicht Ihre Kollegen in dieser Stadt hinzugezogen?«, sagte Lentner. »Werden nicht alle verdächtigen Orte bewacht?«

»Dann hätten Sie heute Abend nicht hier gesessen«, sagte Winter nach einer Weile.

»Nein, das ist wohl wahr.«

»Sie haben mich gar nicht gefragt, wer ›er‹ ist«, sagte Winter.

»Ich brauche Sie doch nicht nach etwas zu fragen, was ich weiß«, antwortete Lentner. »Das wäre Zeitverschwendung.«

Er hob wieder sein Glas, schien jetzt ruhiger zu sein. Das Licht der Petroleumlampe brach sich im Wein und färbte ihn schwarz. Winter sehnte sich nach einem Glas Wein. Später, in einigen Stunden, würde er etwas trinken.

»Herman hat ein Problem mit der Zeit«, sagte er.

Lentners Hand zitterte wieder. Er stellte das Glas ab.

»Ich glaube, er ist der Meinung, dass Sie ihm Zeit gestohlen haben«, fuhr Winter fort. »Sehr viel Zeit.«

Lentner sagte etwas, das Winter nicht verstand.

»Was haben Sie gesagt?«

»Er weiß, wo ich bin.«

»Warum ist er dann nicht hergekommen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum hat er nicht auch Sie umgebracht?«

»Vielleicht hat er mir geglaubt«, sagte Lentner.

»Was geglaubt?«

»Dass ich mich nicht daran erinnern kann, was passiert ist.« Lentner sah Winter an. »Dass ich mich nie erinnern werde.« Er schaute weg, nach Nueva Andalucia hinüber. »So was nennt man Erinnerungslücken.«

»Woran erinnern Sie sich nicht?«

»Zum Beispiel daran, was passiert ist, nachdem Peder Holst mich gewürgt hat. Als er begriff, dass ich es gesehen habe. Er hat es nicht gleich bemerkt, erst nach einer Weile. Am Pool gab es Pflanzen. Sie waren wie eine Mauer. Normalerweise war das gut für ihn. Dort konnte er mit mir machen, was er wollte.«

»Was hat er getan?«

»Wie ich schon sagte, er hat mich gewürgt. Das ist das Einzige, woran ich mich erinnere. Sonst kann ich mich an nichts erinnern, weder vorher noch nachher.«

»Das glaube ich Ihnen nicht. Mensch, Lentner, erzählen Sie endlich, was passiert ist!«

Lentner zuckte zusammen. Er streckte sich nach dem Weinglas, zog die Hand jedoch wieder zurück.

»Peder Holst hat sich lange Zeit an mir vergangen. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung.« Er ließ den Blick über die Stadt schweifen. Sie leuchtete plötzlich viel intensiver. Seine Stimme war kräftiger geworden. »Aber ich will mich nicht erinnern. Und ich hatte gedacht, ich hätte es vergessen.« Er sah Winter an. »Das mit den Erinnerungslücken ist keine Lüge. Sie hängen mit traumatischen Erlebnissen zusammen.«

Eins davon, dachte Winter. Und Erik Lentners Bericht war noch lange nicht beendet.

»Seine Frau hatte ein Verhältnis mit Herman«, fuhr Lentner fort. »Annica. Was für ein Paar. Peder und Annica Holst.« Lentners Blick wanderte wieder über die Stadt, das Meer, den Himmel. »Ich weiß nicht, wie alt Herman damals war, siebzehn, achtzehn. Zu der Zeit hieß er anders mit Nachnamen. Annica wusste jedenfalls, was vor sich ging. Und Peder wusste, was sie tat.«

»Und Madeleine? Was wusste sie?«

»Vielleicht mehr, als man geglaubt hat«, antwortete Lentner.

»Was bedeutet das?«

Lentners Kopf war nach vorn gesunken, als könnte er die Last der Erinnerung nicht länger tragen. Aber seine Stimme klang unverändert kräftig.

»Ich kenne nicht alle Details. Ich musste sie vergessen. Und lügen, selbst wenn ich es nicht als Lüge empfinde. Peder Holst hat gedroht, mich umzubringen, wenn ich die Wahrheit erzähle. Das, was er mit mir gemacht hat, aber auch das, was zwischen Herman und Annica war. Gott weiß, ob er sich nicht auch an Herman vergriffen hat. Und seine Frau wusste es. Mit beiden stimmte etwas nicht. Sie musste einen Preis zahlen, sie hatte ein eigenes Geheimnis, das sie bewahren wollte. Oder wie zum Teufel man das ausdrücken soll. Ich weiß nicht, was zwischen ihr und Herman passiert ist. Aber Herman musste einen noch höheren Preis zahlen.«

Preis. Winter sah den Pokal vor sich, Hermans Preis. Ein wertloser Preis. Er hatte versucht, die Erinnerung an ein Glückserlebnis abzukratzen.

Lentner schauderte im Wind, der jetzt richtig kalt geworden war. Er ließ sich jäh auf einen Stuhl fallen. Im Lampenlicht sah er plötzlich aus wie der Junge, der er damals gewesen war.

Er sprach von Lügen. Annica und Peder Holst hatten bis zuletzt an ihrer Lebenslüge festgehalten.

»Wir wurden beide missbraucht«, sagte Lentner. »Sie haben über uns verfügt. Ich weiß nicht, ob sie Madeleine hinters Licht geführt haben. Oder ob sie Bescheid wusste. Uns beide wollten sie jedenfalls ausnutzen. Sie wagten nicht mehr, so zu tun, als ob nichts wäre. Deshalb wollten sie Herman die ganze Schuld zuschieben an dem, was mir passiert war. Das war ein Fehler.«

Er hat deine Frau umgebracht, dachte Winter. Das war auch ein Fehler. Hier stimmte vieles nicht. Hier stimmte gar nichts.

»Warum haben Sie nicht eher von Herman erzählt?«, fragte er.

»War noch jemand anwesend? An dem Tag in Holsts Haus?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine gar nichts. Ich frage, ob Sie allein am Swimmingpool waren.«

»Ich … war wohl allein.«

»Ich wusste es nicht«, antwortete Lentner. »Ich habe den Zusammenhang nicht begriffen.«

»Ich glaube aber doch.«

»Meinen Sie, ich wollte die Rache selbst in die Hand nehmen?«, fragte Lentner.

Nein. Winter sah noch immer das Gesicht des Jungen in dem Gesicht des Mannes. Nein, Lentner hatte sich nicht von Rache antreiben lassen, als er beschloss, hierherzukommen. Ihn hatten Schuldgefühle getrieben, die stärker waren als Rachsucht. Schuldgefühle verschwanden nie.

»Kommen Sie mit?« Winter wies mit dem Kopf auf die Berge.

Lentner antwortete nicht. Winter drehte sich um und ging.

»Ich komme mit«, hörte er Lentners Stimme hinter sich. »Soll ich ein Taxi rufen?«

»Ich habe ein Auto unten am Ufer«, sagte Winter.