Der letzte Abend

Winter nahm nicht den 18:30-Uhr-Flug der Air France, und er landete auch nicht um Mitternacht in Landvetter.

Als alles vorbei war, stand er mit einem Stein in der Hand am Meer.

In seinem Kopf war ein Rauschen. Kein Meeresrauschen. Das Meer lag ganz still da, die Brandung rollte lautlos heran, als gehörte die Lautlosigkeit zu der Morgendämmerung, die über dem Meer aufzusteigen schien. Rundum war es ruhig, nur in seinem Kopf hörte er ein Geräusch. Der Strand hinter ihm war leer, das Meer vor ihm war leer. Er ließ den Stein fallen.

Angela Winter-Hoffmann begegnete Herman Schiöld in den Wolken irgendwo über Holland. Sie sah ihn nicht und auch nicht das Flugzeug, in dem er saß, sie sah nur den unbegreiflich blauen Himmel vor dem Fenster.

Die Lufthansa-Maschine kreiste eine Weile über Málaga. Das Meer unter ihr war blau. Es war der kurze Frühling. Hier ist der Winter schon vorbei, dachte sie. Für uns ist er auch vorbei.

Winter wartete in der Ankunftshalle. Angela flog die letzten Meter, wie man nur einem Mann entgegenfliegen kann, der ein Idiot ist und der überlebt hat, um die Geschichte erzählen zu können, wie er zu einem Idioten wurde, und wie es ihn fast umgebracht hätte. Ihr Mann. Ihr Idiot.

»Ich habe das Gefühl, als hätten wir uns den ganzen Winter nicht gesehen«, sagte er, als er sie in die Arme schloss.

»Du hast anscheinend überhaupt nichts kapiert«, sagte sie.

Er fuhr bei Churriana auf die Autobahn und weiter in westlicher Richtung. Die Wolkenkratzer in Torremolinos waren schwarze Silhouetten vor dem Himmel. In Fuengirola funkelte ein Kirchturm wie Gold. In der Kirche hatten sie geheiratet.

»Ich habe das Gefühl, als wäre es hundert Jahre her«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf die Kirche. Als die Sonne auf dem Weg zum Meer an den Bergen an ihr vorbeistrich, erstrahlte die Kirche in ihrem unbegreiflichen Weiß. Plötzlich wirkte es kalt. Dabei war es immer ein warmes Weiß gewesen.

»Das geht vorbei«, sagte er.

»Was geht vorbei?«

»Dieses Gefühl, dass es so lange her ist«, er lächelte sie von der Seite an, »dass hundert Jahre vergangen sind.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich möchte, dass es vorbeigeht«, sagte sie.

»Okay. Dann sagen wir eben, es ist hundert Jahre später.«

Auf der anderen Seite der Bucht von Calahonda sah sie Marbella, das wie ein hellerleuchtetes Schiff all seine Lichter auf das Meer zu streuen schien.

»Hier hat sich anscheinend gar nichts verändert«, sagte sie, den Blick weiter auf die Bucht gerichtet.

»Abgesehen von der Straße, über die wir fahren, die ist neu«, sagte er, »und auch die meisten Häuser auf der rechten Seite.« Er zeigte zu einer bedrohlichen Silhouette auf einem Hügel. »Und der Stier aus Blech ist doppelt so groß geworden.«

»Vielleicht habe ich das Meer gemeint«, sagte sie.

»Du kannst nie zweimal in dasselbe Meer tauchen«, sagte er.

»Bullshit«, sagte sie.

Sie betraten das Timonell. Enrique nickte ihnen zu, als sei Winter gestern Abend zuletzt hier gewesen. Was ja auch stimmt, dachte er. Glaube ich. Es fühlt sich nicht an wie gestern Abend oder vorgestern. Es fühlt sich an wie vor hundert Abenden. Und ich bin nicht einmal müde. Sonderbar. Hundert Abende Wachsein und ich bin nicht müde.

Enrique löste sich von der Bar und umarmte Angela.

»Ich bin froh, dass du da bist, Angela.« Er lächelte. »Erik hat so einsam gewirkt, als er hier war.«

»Das ist jetzt vorbei«, sagte Winter. »Ich bin nicht mehr allein.«

»Freut mich für dich«, antwortete Enrique und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es ist nicht gut, allein zu sein.«

»Ich bin auch froh«, sagte Winter.

»Hast du den gefunden, den du gesucht hast?«, fragte Enrique.

»Ja.«

»Ist es gut?«

»Wie meinst du das?«

»Dass du ihn gefunden hast.«

Winter antwortete nicht. In diesem Moment wusste er nicht, was er antworten sollte. Es war ein sehr langer Moment. Er sah viele Bilder in seinem Kopf. Dieser Moment enthält mein ganzes Leben.

»Ich meine, für dich.« Enrique sah ernst aus. »War es gut für dich?«

»Schließlich ist alles gut geworden«, sagte Winter und machte einen Schritt auf seinen Tisch zu. »Jetzt ist alles gut.«

»Wir haben einen sehr guten rodaballo, nur für Angela und dich«, sagte Enrique.

Sie kamen an dem alten Campo de Futbol vorbei. Das Rauschen in Winters Kopf war zu einem Säuseln geworden, das von einem Windhauch herrühren mochte, der durch die Baumkronen über ihnen strich.

»Mir gefällt der Winter in Spanien«, sagte Angela. »Oder besser gesagt der Frühling.«

»Nur wir sind hier«, sagte er.

»So kommt es mir auch vor«, sagte sie.

Sie überquerten die Uferpromenade und stiegen die Treppe zum Strand hinunter. In der Beleuchtung von der Avenida Duque de Ahumada hinter ihnen schimmerte er schwach wie Goldstaub. Näher am Wasser wurde er schwarz. Das Meer war schwarz.

Angela zog ihre Schuhe aus. Sie hatte keine Strümpfe an.

»Es ist gar nicht so kalt, wie ich dachte«, sagte sie.

»Am Wasser ist es wahrscheinlich kälter«, sagte er.

»Lass uns hingehen«, sagte sie.

Draußen auf dem Meer sahen sie die Lichter eines Schiffes, die im Weltraum zu schweben schienen. Er hörte die siebente Welle. Das Wasser erreichte ihrer beider Füße. Sie blieben stehen.

»Es ist gar nicht so kalt, wie ich dachte«, sagte er.

»Der Satz gehört mir«, sagte sie.

»Jetzt gehört er mir.«

Er bückte sich und strich über den Sand. Das Wasser hatte sich zurückgezogen. Er fand einen Stein und richtete sich auf. Der Stein war kalt. Er würde ihn werfen, wenn er sich in seiner Hand erwärmt hatte, bis zu den Lichtern weit draußen würde er ihn werfen.

»Ich kann nicht zurückgehen.« Er drehte sich zu Angela um.

Sie wartete schweigend ab, dass er ihr erzählen würde, wohin er nicht zurückgehen konnte und warum nicht, wartete auf all die Erklärungen, die vielleicht nötig waren, vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte sie es bereits verstanden.

»Ich bin jetzt ein anderer.« Der Stein in seiner Hand fühlte sich wärmer an.

»Du bist kein anderer. Du bist noch immer Erik.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Du bist immer noch mein Erik.«

»Wirklich?« Der Stein wurde wärmer, er wärmte seine Hand. »Bist du so sicher?«

»Darauf muss ich dir nicht antworten, Erik.«

»Dann verstehst du also, warum ich nicht zurückkann.«

»Erzähl!« Sie trat nah an ihn heran und schlang die Arme um seine Taille.

Er schaute zu den Lichtern, die sich in der Schwärze von links nach rechts bewegten. Heute Nacht gab es keinen Horizont.

Eigentlich müsste es einen geben.

»Ich konnte ihn nicht retten«, sagte er. »Ich war unfähig, mich zu rühren. Als Herman in der Tiefe versank und sich auf dem Boden ausstreckte, war ich wie gelähmt. Ich konnte nichts zu seiner Rettung tun, nicht von dort. Ich sah sein Gesicht. Und seine Augen. Sie lösten sich auf, er sah aus wie ein Blinder. Verstehst du? Wie ein Blinder.«

Sie schwieg. Er spürte ihren Körper an seinem. Aber ihm war immer noch kalt, wie erfroren, erfroren im Sand. Nur der Stein in seiner Hand war warm.

Er begann in seiner Handfläche zu brennen, als würde er sich langsam in glühende Kohle verwandeln.

»Dann ist Lentner ins Wasser gesprungen, und ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ich stand am Rand des Swimmingpools, aber ich habe das Wasser nicht berührt.«

»Das musstest du auch nicht«, sagte sie.

»Falsch. Das ist es ja gerade. Genau darum geht es. Es ist doch mein Job. Aber ich war wie erstarrt und dachte, das da unten ist nicht mein Kampf. Wenn es ein Kampf war. Mir ging plötzlich auf, dass ich nicht alle retten kann.«

»Das kannst du auch nicht, Erik. Kein Mensch kann alle retten.«

»Aber begreifst du denn nicht? So habe ich noch nie gedacht. Niemals, niemals, niemals. Der, der ich früher gewesen bin, hat nicht so gedacht. Ich habe mir eingebildet, ich kann alle retten. Ich muss so denken. Es ist zwingend nötig, so zu denken.«

Sie sagte wieder etwas, aber er hörte es nicht. Es ging unter in der siebenten Welle. Ihr Rauschen schlug über ihnen zusammen.

»Was hast du gesagt?«

»Es hat dich fast zerbrochen«, wiederholte sie.

»Wie meinst du das?«

»Du weißt, wie ich das meine, Erik.«

»Ich weiß nur, dass ich ihn nicht …«

Er konnte nicht weitersprechen. Tränen schossen ihm in die Augen, wie eine plötzliche Welle, die durch seinen Kopf rollte, eine siebente Welle. Die Tränen liefen ihm die Wangen herab. Er schmeckte Tränen, sie waren salzig, warm wie das Meer in der Sommersonne. Die stärkste Sonne der Welt, die wärmste, heißeste.

»Ich kann nie mehr zurückgehen«, sagte er.

Er fühlte eine Kopfbewegung, die wie ein Nicken war.

»Alles kommt mir vor wie ein anderes Leben, das ich nicht mehr verstehe. Oder ich bin … nicht mehr Teil dieses Lebens. Plötzlich gehöre ich nicht mehr dazu. Ich kann nicht dorthin zurückkehren, Angela. Jetzt weiß ich es. Eigentlich wusste ich es schon länger. Als ich am Swimmingpool gestanden habe, ist es mir bewusst geworden.«

»Du brauchst nicht zurückzugehen«, sagte sie.

»Wovon sollen wir leben?«, fragte er.

Sie lachte kurz auf. Lachte sie wirklich?

»Das brauchen wir doch nicht in diesem Augenblick zu entscheiden«, sagte sie. »Ich habe ja noch meinen Job. Das reicht eine Weile. Vorher hat es auch gereicht.«

Der Stein in seiner Hand wurde plötzlich schwerer, kühler, aber schwerer. Er löste sich von Angela, machte einen Schritt nach links und schleuderte den Stein hinaus ins All. Den Aufschlag hörte er nicht mehr. Da lief er schon mit seiner Frau durch den Sand, auf der Suche nach einer Bar, die noch geöffnet hatte.