Kapitel 16

Carmen konnte es nicht fassen.

Auf der Victoria Street hatte sich trotz der morgendlichen Kälte eine Schlange gebildet, die um halb zehn bereits bis zum Grassmarket reichte. Eine Schlange von Leuten, die in ihre Buchhandlung wollten! So etwas hatte es noch nie gegeben!

Die meisten Wartenden waren Frauen, und die wenigen Männer hielten den Blick gesenkt oder starrten aufs Handy, um bloß von niemandem erkannt zu werden. Die Frauen hatten sich mit Tweedmantel und schickem Schal herausgeputzt, und man hörte die Absätze von Stiefeln auf dem Pflaster klappern.

Doch bevor Carmen die Buchhandlung öffnete, ging sie erst einmal zu einem Café am Grassmarket, um sich dort einen guten Kaffee zu holen. Das kleine Lokal war wunderschön dekoriert – alles stand im Zeichen von Schnee. Flocken aus Papier hingen von der Decke, und die Schaumhäubchen der Getränke wurden mit einer kleinen Schneeflocke aus Schokolade versehen.

Carmen kaufte auch einen Cappuccino für Mr McCredie, konnte seiner Schneeflocke aber nicht widerstehen und hatte sie verspeist, noch bevor sie oben am Laden ankam.

Jetzt klingelte ihr Handy.

»Hi, also, wir sind im Hotel«, sagte eine äußerst beschäftigt klingende Publicity-Managerin. »Sind Sie startklar?«

»Äh, nein«, antwortete Carmen und schluckte den Rest Schokolade herunter. »Ich habe noch nicht einmal aufgemacht.«

Am anderen Ende erklang enttäuschtes Seufzen. »Wir haben einen ziemlich straffen Terminplan.«

»Das ist mir klar«, sagte Carmen. »Ich bin schon dabei. Kommen Sie, wenn es bei Ihnen passt.«

Vor dem Eingang stampften die Mitglieder eines Kamerateams in der Kälte mit den Füßen und begannen bereits mit dem Aufbau. Carmen kannte sich gut genug aus, um zu wissen, dass hier die Frau mit dem Klemmbrett das Sagen hatte.

»Die Aufnahmen für die Fernsehsendung werden als Erstes gemacht«, versuchte Carmen den Leuten in der Schlange zu erklären. »Und das wird dauern … Am besten gehen Sie jetzt noch einmal und kommen später wieder.«

Sie starrte in unerbittliche Mienen. Hier würde niemand gehen und später wiederkommen.

»Aber ich fürchte, dass ich Sie nicht reinlassen kann, bis die hier fertig sind.«

Der Wind pfiff durch die Stadt, über all die Treppen hinweg, über den Hügel und die Dächer der Reihenhäuser. Wolken jagten über den Himmel und ließen gelegentlich etwas Licht durch. Doch vor allem erinnerten sie daran, dass es erst um halb neun hell geworden war und um halb vier wieder dämmern würde. Die Sonne würde sich heute wohl kaum blicken lassen, sodass man sich am besten irgendwo drinnen ein warmes, gemütliches Plätzchen suchte.

Die resoluten Frauen machten allerdings keinerlei Anstalten, ihren Platz in der Schlange aufzugeben. Daher lächelte Carmen nur entschuldigend und ging hinein, während sich ihr messerscharfe Blicke in den Rücken bohrten.

Die Kameraleute stellten irgendwelche geheimnisvollen Sachen mit Scheinwerfern an, verlegten Kabel und versuchten, dabei nicht mehr Bücherstapel umzuwerfen als unbedingt nötig.

Die Frau mit dem Klemmbrett sprach lächelnd in ihr Walkie-Talkie und bat schließlich darum, dass die Modelleisenbahn ausgemacht wurde.

Carmen rief Mr McCredie in Erinnerung, dass sie den Superstar durch die Hintertür hereinbringen würden, also durch die kleine Gasse, die oben zu seinem Haus führte.

Ihr Chef lächelte matt und hatte die ganze Sache sofort wieder vergessen.

Am Ende sah die Buchhandlung so schön aus, wie man es sich nur vorstellen konnte. Die Fernsehleute hatten zusätzliche Stechpalmen-Girlanden mitgebracht und sie zusammen mit funkelnden kleinen Lichterketten an den Regalen aufgehängt. Das war wirklich hübsch, würde es aber unmöglich machen, ein Buch herauszunehmen, um es durchzublättern oder zu kaufen.

Die Leute, die von draußen hereinzuschauen versuchten, wurden höflich vom Fenster weggescheucht, und um 10:45 Uhr war alles fertig vorbereitet.

»Er ist auf dem Weg hierher«, hörte man durch ein Walkie-Talkie, und Carmen huschte nach hinten zur Gasse, um den prominenten Gast durch Mr McCredies Haus und den Raum mit den Stapeln hindurchzugeleiten.

Die junge Publicity-Managerin, schlank, blond und hübsch wie ein Model, marschierte strahlend voran.

»Na, ist das nicht urig? «, rief sie aus. »Guck mal, Blair, da sind wir auch schon.«

Die Gestalt, die hinter ihr herschlurfte, hatte so gar nichts mit dem großkotzigen, überselbstbewussten Typen aus der Werbung zu tun.

Blair Pfennings Haar war verwuschelt, er trug eine kauzartige Brille, und weil er die Lippen aufeinanderpresste, waren seine strahlend weißen Zähne gar nicht zu sehen.

Er stieß einen Seufzer aus.

»Es dauert nicht lange«, sagte die junge Frau. Sie klang, als wollte sie ein kleines Kind aufmuntern.

Ein weiterer Seufzer. »Okay«, sagte Blair.

»Ist alles vorbereitet?«, fragte die junge Frau und lächelte enthusiastisch. »Ich bin übrigens Emily. Schön, euch alle kennenzulernen! Und das hier ist Blair.«

Matt hob Blair die Hand. Carmen fragte sich, ob er wohl einen Kater hatte. Aber das würde so gar nicht zu seinem Image des in sich selbst ruhenden Strahlemanns passen.

»Okay, Blair«, sagte Emily, während die Fernsehleute herantraten und sich einer nach dem anderen vorstellten.

Eine Frau mit einer großen Tasche kam hinzu. »Haare und Make-up«, sagte sie. »Ich hab mir dahinten ein Eckchen freigeräumt.«

Weil sich dieses Eckchen direkt hinter der Kasse befand und auch überall Kabel im Weg lagen, konnte Carmen leider nicht viel mehr tun, als rumzustehen und zuzugucken.

Mr McCredie war beim Anblick des ganzen Theaters und all der Leute – wieder einmal – abgetaucht wie ein Maulwurf. Carmen dachte nicht zum ersten Mal, dass der mangelnde Erfolg dieses Geschäfts kein Wunder war, wenn den Besitzer die Anwesenheit vieler Personen beunruhigte.

Ein wenig konnte Carmen sich nützlich machen, indem sie mit dem ein oder anderen vom Filmteam nach draußen ging und ihm zeigte, wo es in der Nähe Kaffee gab. Dabei mied sie die Blicke der wütenden Kunden, die in der Kälte warteten und sich die Nase am Schaufenster platt drückten.

Das hätte ihr allerdings keine Sorgen zu bereiten brauchen: eine kleine, resolute Frau, bei der es sich offenbar um die Regisseurin handelte, marschierte hinaus und brüllte, dass die Aufnahmen den ganzen Tag dauern würden, wenn sich nicht alle sofort von der Scheibe zurückzogen. Kleinlaut rückten die Leute in der Schlange von den Geschäften ab, zum Nachteil des Zauberladens, aber zur Begeisterung des nächsten Cafés, das jetzt Lieferungen an die Wartenden anzubieten begann.

»Okay, Ruhe am Set!«, rief die Regisseurin schließlich, und Carmen trat einen Schritt vor, um zuzusehen.

Wie absurd: Blair Pfenning schien sich in einen völlig anderen Menschen verwandelt zu haben. Der knurrig wirkende, verschlafene Mann, der vor einer halben Stunde hereingeschlurft war, war jedenfalls nirgends mehr zu sehen.

Stattdessen stand neben der zur Stille verdammten Modelleisenbahn und einem rasch aufgestellten Weihnachtsbaum nun eine schillernde, leuchtende Gestalt, die viel größer wirkte.

Blair Pfenning hatte schwungvoll nach hinten geworfenes braunes Haar und glänzende Augen. Seine unfassbar weißen Zähne blitzten, als durchlebe er hier gerade den glücklichsten Moment seines Lebens.

Die Regisseurin bat noch einmal um Stille, dann begannen die Kameras zu drehen.

Die rothaarige Ansagerin präsentierte ihren Gast in geradezu ehrfürchtigem Tonfall, und er setzte eine schmunzelnde »Jetzt mach aber mal halblang«-Miene auf.

»Hallöchen!«, sagte er mit selbstbewusster Stimme und mit einem Akzent, der exakt zwischen den amerikanischen und den britischen fiel. »Ich freue mich so sehr, in Edinburgh zu sein, einer der schönsten Städte der Welt.«

Die rothaarige Ansagerin kicherte. »Na ja, es ist wirklich toll, dich hierzuhaben. Kannst du uns etwas über dein neues Buch erzählen?«

»Natürlich, Caroline.«

Er lehnte sich vor und schien direkt in die Augen der Ansagerin zu schauen – oder vielleicht direkt in die Kamera.

»Es geht darin um dieses Gefühl, niemals gut genug zu sein – nie das Weihnachtsfest unserer Träume ausrichten zu können, nie die passenden, perfekten Geschenke zu finden. Um die Angst davor, dass der Truthahn zu trocken ist oder dass sich die Familie in Wirklichkeit gar nicht freut, uns zu sehen …« Er zeigte ein strahlendes Lächeln voller Mitgefühl und Wärme.

»Mit meinem Buch möchte ich euch allen einfach sagen, dass ihr gut genug seid. Ihr seid auf jeden Fall gut genug. Ihr werdet geliebt, und alles wird gut.«

Wieder lächelte er selig.

Carmen verzog das Gesicht.

»Ist er nicht unglaublich? «, fragte Emily, die neben Carmen stand und den hingebungsvollen Blick kaum von Blair lösen konnte.

»Das war’s?«, fragte Carmen. »›Alles wird gut‹ – mehr hat er nicht zu bieten?«

»Für manche«, sprach die unerbittlich heitere Stimme weiter, »klingt es vielleicht zu simpel, wenn ich schlicht behaupte, dass ›alles gut wird‹. Aber wisst ihr was? Manchmal reicht das schon. Und genau das ist meine Botschaft: Du und du – ihr alle, ihr seid gut genug.«

Carmen hätte ihm durchaus ein paar Takte dazu sagen können, dass so ein Spruch in ihrer Heimatstadt nicht sehr gut gekommen wäre. Dort waren alle früheren Beschäftigungsmöglichkeiten weggefallen, die Hälfte der Leute im erwerbstätigen Alter würde nie wieder vom Arbeitslosengeld wegkommen, und die andere Hälfte hatte wie sie wegziehen müssen. Aber Carmen riss sich zusammen.

»Selbst wenn einem … Wie sagt man hier noch gleich? … die Kartoffeln anbrennen«, sagte Blair Pfenning mit schottischem Akzent. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er genau wusste, wie übertrieben seine Imitation war.

»Wirklich eine tolle Botschaft!«, schwärmte die Ansagerin, deren Wangen glühten – er saß ganz schön nah neben ihr. »Und es ist so schön, dass du bei uns vorbeischaust!«

»Tja – Blair! Gibt es einen schottischeren Vornamen?«, fuhr er fort. »Es ist das wundervolle Land meiner Vorfahren, in dem ich so viele Menschen wie möglich kennenlernen möchte. Ich kann es kaum erwarten. Jetzt könnte ich sagen, ich hoffe, dass sie alle so hübsch sind wie du. Aber so etwas darf einem heutzutage ja im Traum nicht einfallen. Also hoffe ich, sie sehen alle so gut aus wie Kameramann Dean.«

Von den Crewmitgliedern war anerkennendes Lachen zu hören.

»Heute Nachmittag werde ich im Kinderkrankenhaus Exemplare von Fünf Minuten am Tag für ruhige, glückliche Kinder signieren und freue mich schon auf viele bereichernde Begegnungen.«

»Danke, dass du uns deine Zeit schenkst.«

»Machst du Witze? Es ist mir eine Ehre! Und mal im Ernst, ihr habt so ein Glück, im Herzen einer derart zauberhaften Region zu leben. Ich fühle mich hier wirklich inspiriert.«

»Und wir fühlen uns durch deinen Besuch geehrt. Und nun zurück ins Studio …«

Als die Kameras ausgeschaltet wurden, blieb Blair Pfenning wie erstarrt stehen, bis Emily sich in Bewegung setzte und ihn zum Signiertisch führte.

»Können wir jetzt die Leute reinholen?«, fragte sie, während die Kameraleute ihr Material abzubauen begannen und das Tonteam pelzige Hüllen von den Mikros pellte.

Dann eilte Emily zur Tür hinüber und brachte jeweils zwei Fans auf einmal herein, die mit erwartungsvoller und hoffnungsfroher Miene den Laden betraten. Die Exemplare von Blairs Büchern in ihren Händen waren offensichtlich viel gelesen und heiß geliebt.

Blair legte allen gegenüber die gleiche Mischung aus Charme und Distanziertheit an den Tag. Er hetzte nicht, nahm sich Zeit, vergewisserte sich, dass er die Namen der Leute richtig schrieb, und machte Komplimente über Hüte und Broschen. Für Fotos stand er gern zur Verfügung, zeigte dabei grinsend seine fantastischen Zähne und legte andeutungshalber einen Arm um die Frauen, berührte sie aber nicht.

Wenn jemand anfing, ihm ein Problem zu erzählen, schickte er die Person weiter zu Emily, die dann die Kontaktdaten aufnahm und versprach, dass sich jemand aus dem Team melden würde.

Gegen Mittag waren alle Bewunderer des Autors wieder aus dem Geschäft geleitet worden, auch das letzte Kabel war verschwunden, die zusätzliche Dekoration war weggepackt worden. Die Kasse war voll, da jedes vorhandene Exemplar von Blairs neuem Buch verkauft worden war, und für einen Moment herrschte im Laden Stille.

Es war wie bei einem Ballon, aus dem man die Luft ließ – wie Blair da vor Carmens Augen zu schrumpfen schien. Während der Körper in sich zusammensackte, verschwand auch das Lächeln mit all den Zähnen.

Blair legte das Harris-Tweedjackett mit den Ellbogenflicken ab und schlüpfte in einen grauen Kapuzenpulli, den Emily ihm hinhielt. Er zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch und setzte seine Brille auf. Dann ließ er den Kopf auf den Verkaufstresen sinken.

»Sind wir fertig?«

»Noch zwei lokale Radiosender und zwei nationale, das Kinderkrankenhaus und wieder die BBC

»Aber mit der sind wir doch gerade durch.«

»Das gerade war nur die schottische, der Termin nachher ist für die ganze BBC

Unter der Kapuze war ein schniefendes Geräusch zu hören. »Ach, du Scheiße.«

»Ich hol dir erst mal einen Kaffee.«

Es kam keine Antwort von der großen Gestalt, die sich nun mit dem kompletten Oberkörper auf der Glasvitrine ausstreckte.

»Äh«, sagte Carmen, »glauben Sie mir, wir sind Ihnen für den Auftritt wirklich dankbar.«

Und das konnte man laut sagen. Die Kasse hatte nur so geklingelt, während der Stapel von Blair-Pfenning-Büchern immer kleiner geworden war und sie jede Menge Geld eingenommen hatten. So etwas hatte Carmen noch nie erlebt, noch nicht einmal, wenn es bei Dounston’s nach Fernsehauftritten von Kirstie Allsopp gelegentlich einen Ansturm auf die Kurzwarenabteilung gegeben hatte.

»Aber dürfte ich jetzt vielleicht an die Kasse?«

Mit stumpfem Blick schaute er zu ihr auf. »Ja, meinetwegen.«

Emily war losgezogen, um den besagten Kaffee zu holen, und sie waren in der Buchhandlung allein zurückgeblieben.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Carmen verwundert.

»Weist irgendetwas darauf hin, dass es mir nicht gut geht?«

»Vor zwei Minuten schien bei Ihnen alles in Ordnung zu sein, aber jetzt liegen Sie hier ausgestreckt auf unserer Ladentheke.«

»Öh, Jetlag?«

»Ich hatte schon mal einen Jetlag«, erwiderte Carmen. »Aber da konnte ich immer noch den Kopf heben.«

Blair seufzte. »Na, prima für Sie!« Plötzlich schaute er auf. »Gibt es hier vielleicht irgendwo ein schönes, gemütliches Restaurant?«

»Restaurants gibt’s hier jede Menge«, antwortete Carmen. »Und ich bin mir sicher, dass Emily die alle kennt.«

Er verzog das Gesicht. »Ich habe gerade fünfunddreißig Stunden am Stück mit Emily verbracht und habe noch vier Tage vor mir.«

Carmen zog die Augenbrauen hoch.

»Rein beruflich«, murmelte er in seine Kapuze. »Bitte, können wir nicht hier weg? Könnten Sie mich irgendwohin mitnehmen? Bevor Emily zurückkommt?«

»Äh, ich kann nicht einfach den Laden zumachen.«

»Vergessen Sie doch die blöden Öffnungszeiten!«, ertönte die Stimme. »Ich hab gerade Ihre Wocheneinnahme verdreifacht, und das wissen Sie auch.«

»Schon, aber …«

»Sagen Sie später einfach, dass ich Sie dazu gezwungen habe.«

»Ja, das werd ich wohl«, sagte Carmen, »da Sie genau das ja versuchen.«

Jetzt schaute er wieder auf. »Wollen Sie, dass ich meinen ganzen Blair-Pfenning-Charme einsetze?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Das mache ich aber jetzt. Ich bin unterzuckert, und wenn ich hier nicht bald verschwinden kann, werd ich einen Aufstand machen. Also versuchen wir es erst einmal so.«

Skeptisch schaute Carmen dabei zu, wie er schwungvoll aufstand, die Kapuze herunterzog und das Haar nach hinten warf. Dann lehnte er sich vor und starrte ihr direkt in die Augen.

»Es wäre wunderbar und der reinste Balsam für die Seele, von der Welt unbeachtete Buchhändlerin, wenn Sie mir ein gutes Restaurant zeigen und so ein wenig Glanz in diesen tristen grauen Tag bringen würden. Und natürlich …«, er setzte das charakteristische Grinsen auf, »wäre es mir ein Vergnügen und eine Ehre, wenn Sie sich von mir einladen lassen und mir beim Essen Gesellschaft leisten.«

»Das soll als charmant durchgehen?«

»Soll es nicht nur, es ist verdammt charmant. Mit diesem Charme hab ich sechs Millionen Exemplare verkauft!«

»Ich finde es unheimlich.«

»Ja, okay, es ist unheimlich, wie auch immer. Aber bitte, lassen Sie uns hier verschwinden. Haben Sie denn keinen Hunger? Ich hab seit zwanzig Stunden nichts gegessen.«

»Warum das denn?«

»Wegen eines Kalender-Shootings.«

Carmen lachte laut auf. »Im Ernst?«

»Ich weiß«, seufzte Blair. »Na ja.«

Er setzte sich die Kapuze wieder auf und zerfloss erneut auf dem Tresen.

»Moment mal – geben Sie unsere Kasse etwa nur frei, wenn ich mit Ihnen essen gehe?«

»Hm-hm«, bestätigte seine gedämpfte Stimme.

»Oh, Emily ist im Anmarsch.«

Emily kam mit klappernden Absätzen die Straße entlang und trug ein Papptablett mit mehreren Bechern Kaffee.

»Mist! Ich sitze in der Falle! Bitte bewahren Sie mich vor den lokalen Radiosendern!«

»Aber ich liebe Lokalradio!«

»Wen interessiert’s? Na los, bringen Sie mich durch den Hintereingang raus. Jetzt. Sofort. Schnell!«

Er schenkte ihr eine spöttische Version seines albernen Lächelns, während Emily immer näher rückte, den Blick allerdings nicht vom Handy löste.

»O mein Gott, gleich wird sie mir sagen, dass sie noch einen zusätzlichen Termin angenommen hat. Und ich muss mir vor dem Krankenhaus wirklich ein bisschen Mut antrinken. Los, auf geht’s! Bitte! « Als er wieder aufschaute, blickte er sie nicht mit diesem übertrieben beseelten Ausdruck an. Stattdessen lag in seinen braunen Augen ein Flehen, das echt zu sein schien.

»O Gott«, stöhnte Carmen.

In diesem Moment schlurfte ein verwirrt wirkender Mr McCredie in den Verkaufsraum. »Ah, Carmen …«

»Mittagspause!«, rief Blair. »Wir verschwinden kurz in die Mittagspause.« Er sprang aus seiner in sich zusammengesunkenen Haltung auf. »Ich bringe Ihre Mitarbeiterin … in etwa einer Stunde wieder zurück.«

»Eine Mittagspause?«, brachte Mr McCredie in so verwundertem Tonfall vor, als hätte er »Im Aquarium schwimmen?« gesagt.

Carmen war zu dem Schluss gekommen, dass er wohl nicht verstand, warum andere eine Pause brauchten, da er selbst den Laden ja nie verließ.

Das gab den Ausschlag. Carmen trat vor und sah Blair an.

»Echt jetzt?«, sagte er und wirkte überhaupt nicht mehr wie der selbstbewusste Showman von vorhin.

»Schnell!«, drängte Carmen.

Er griff nach ihrem Arm und rannte mit ihr durch die Buchhandlung, während das Türglöckchen bereits Emily ankündigte, die weiter auf ihr Handy schaute.

»Dieser Laden ist verrückt«, murmelte Blair und zog sie in der Dunkelheit mit.

Carmen kam nicht dagegen an, dass ein Kichern in ihr aufstieg. Es war total albern, so vor jemandem wegzurennen.

Eilig huschten sie nach hinten, und Blair hielt einen Moment inne, um Mr McCredies Lesezimmer zu bewundern, das er auf dem Hinweg offenbar kaum bemerkt hatte.

»Das sieht ja aus wie eine Batcave«, keuchte er. »Allerdings voll mit schimmelnden alten Büchern. Echt cool!«

Dann liefen sie viele Treppen hinauf, um durch Mr McCredies Haus hindurch die obere Straße zu erreichen.

Einmal im Freien, schaute Blair hoch und betrachtete die Gebäude, die sich in den Himmel reckten. »Diese Stadt ist der Wahnsinn. Hat die eigentlich jemand gebaut, oder ist die einfach so gewachsen?«

Weil Carmen keine Restaurants in unmittelbarer Nähe kannte, gingen sie in das von Blairs Hotel, ein edles Fischlokal in einer Art Glaskasten, von dem aus man die ganze Straße im Blick hatte.

Beklommen sah sich Carmen die große Auslage mit Hummer und Austern auf Eis an.

»Meeresfrüchte?«, fragte Blair.

»Ich weiß nicht so recht«, sagte Carmen. »Fisch kenne ich eigentlich nur aus der Dose oder knusprig braun und brutzelnd heiß. Das da sieht überhaupt nicht heiß aus.«

Blair schenkte dem Kellner sein breites Promi-Lächeln. »Wir hätten gern einen Platz am Fenster, eine Flasche Louis Roederer und für den Anfang ein Dutzend Austern.«