Verwundete Gegner

Von William Shick

Die Nyschatha-Berge, Khador

Nikolai hatte das kleine Dorf Skorev Druggan vor drei Tagen verlassen. Diese drei Tage lange hatte er den vier Männern, die ihn verfolgten, die Möglichkeit gegeben, es sich anders zu überlegen und nach Hause zurückzukehren. Er hatte gehofft, dass wenn er die Nyschatha-Berge hinaufstieg, er sie von ihrem Vorhaben abbringen würde. Der Aufstieg war nicht einfach und er war sich sicher, dass die angehenden Kopfgeldjäger nicht auf die bittere Kälte der Nächte im Bergland vorbereitet waren oder die große Kraftanstrengung, die lange Tage des Wanderns in den Bergen erforderten.

Er musste zugeben, dass der beschwerliche Pfad, den er sich bahnte, auch ihm zusetzte. Er konnte den leichtesten Anflug von Müdigkeit in seinen kräftigen Gliedern verspüren und er merkte, dass er jeden Tag eine geringere Strecke zurücklegte als den Tag zuvor. Aber die Männer blieben ihm trotzdem direkt auf den Fersen. Das neueste Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt war, musste in der Tat hoch sein.

Er schüttelte seinen Kopf. Er schätzte, dass es hoch sein musste – er hatte vor kurzem sechs von Oliv Borgis besten Männern getötet, darunter auch einer seiner Söhne. Ein kluger Mann hätte das zum Anlass genommen, von seinen kleinlichen Rachegelüsten abzulassen. Doch Oliv Borgir war kein kluger Mann. Es wäre eine Sache, wenn die Männer, die ihn jagten, Kayazy-Untergebene oder »professionelle« Kopfgeldjäger gewesen wären. Doch es war offensichtlich, dass dem nicht so war; sie waren nur ein Haufen törichter Einheimischer, die darauf aus waren, sich durch ein wenig Gewalt Reichtümer zu verdienen und die Gunst des mächtigen Kayazy erwerben. Zu ihrem Pech hatte Nikolai Erfahrung darin, aus törichten Männern Leichen zu machen.

Er schlug sein Lager früh auf, machte ein kleines Feuer, um die Kälte des Berges fernzuhalten, kaute dabei auf zähem Trockenfleisch aus Wildbret und dachte beim Warten still nach. Die Männer, die ihm nachsetzten, waren alle kräftig und zäh. Er vermutete, dass sie von Geburt her Holzfäller waren, Männer, die glaubten, dass ein Leben harter Arbeit sie zu etwas Besserem gemacht hatte. Tavernenschlägereien aufgrund der einen oder anderen Meinungsverschiedenheit hatten sie wahrscheinlich davon überzeugt, dass sie gegenüber Gewalt abgehärtet waren. Vielleicht hatten einige von ihnen tatsächlich schon einmal einen Mann getötet. Nikolai unterdrückte ein Schmunzeln bei dem Gedanken.

Er blickte zu seinen Äxten; sie standen in seiner unmittelbaren Reichweite. Die schweren Eichengriffe waren mit abgenutztem Kuhleder umwickelt und der kalte Stahl der Klingen war im Feuerschein beinahe sichtbar. Obwohl er ihre Schneiden messerscharf hielt, war das letzte, was ein Raubtier benötigte, Licht, dass zufällig reflektiert wurde und so seine Beute vorwarnte. Nein, spiegelblank polierte Waffen waren ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Träger wenig Erfahrung darin hatte, die Waffe für ihren eigentlichen Verwendungszweck zu nutzen. Das Knacken von Ästen riss ihn aus seinen Gedanken. Ruhig wandte er seinen Kopf in Richtung des Geräusches. »Ihr beide könnt genauso gut herauskommen«, rief er. »Und es gibt keinen Grund für die anderen beiden, sich weiter bei der Fichte zu verstecken. Heute überrumpeln sie niemanden mehr.«

»Wer sagt, dass hier noch irgendwer außer uns beiden ist, Gesetzloser?« Der Mann, der sprach, tat sein Bestes, um einschüchternd zu klingen, aber Nikolai konnte darunter seine Furcht und Unsicherheit heraushören. Vielleicht waren sie doch nicht so töricht, wie er angenommen hatte.

Er hob einen Stein aus dem Dreck zu seinen Füßen auf und schleuderte ihn in Richtung des Baumes, von dem er gesprochen hatte. Dem dumpfen Aufprall von Stein auf Fleisch folgte eine Reihe von Flüchen. »Es spricht einiges dafür«, antwortete Nikolai, zufrieden mit dem, was er da hörte. »Hauptsächlich jedoch die Tatsache, dass ihr Vier mehr Lärm macht als eine Herde Büffel in einer Kathedrale von Morrow. Jetzt kommt schon heraus.«

Schließlich antwortete die Stimme und rief den anderen zu: »In Ordnung, Jungs, kommt raus. Brauchen eh nicht Schleichen. Ist nur ein einziger Typ.«

Nikolai beobachtete, wie die vier Männer langsam aus der Deckung des Waldes jenseits der Lichtung traten. Jeder von ihnen war in abgetragenes Winterleder gewandet, das mit schwerem Pelz besetzt war. Jeder führte eine Holzfälleraxt mit langem Stiel. Sie alle waren riesig, mindestens einen halben Kopf größer und breiter als Nikolai, ihre Körper gestählt von Jahren der harten Arbeit für die Holzunternehmen von Skorev Druggan. Nikolai mache sich nicht die Mühe, ihre Gesichter zu studieren; hiernach würde er sich nicht an sie erinnern müssen. Stattdessen achtete er aufmerksam darauf, wie sich jeder einzelne Mann bewegte. Einer hinkte leicht, vermutlich verursacht durch eine alte Verletzung an seinem linken Bein. Ein anderer nahm mit seiner ein wenig zu fest umklammerten Axt eine unbeholfene Kampfstellung ein. Dieser Mann, entschied Nikolai, war wahrscheinlich noch nie an einem echten Kampf beteiligt gewesen. Der Mann, von dem Nikolai mutmaßte, dass er ihr Anführer war, bewegte sich mit einer Bestimmtheit, die Nikolai wiedererkannt hatte. Militär. Während jeder fähige Mann in Khador seinen Dienst leisten musste, war dieser Mann wohl bis in den Rang eines Feldwebels aufgestiegen. Es würde seine jetzige Rolle als Anführer erklären.

Allerdings ertappte sich Nikolai dabei, dass es der letzte der vier Männer war, dem er besondere Beachtung schenkte. Er erkannte einen Mörder, wenn er einen sah, und dieser Mann hatte sicherlich mehr als einmal gemordet. Trotzdem, beschwichtigte er sich selber, war es eine Sache, einen nichts ahnenden Mann in einer Kneipenschlägerei zu töten, und eine ganz andere, einen Mann umzubringen, der damit rechnete.

Nikolai rieb seine Hände übertrieben aneinander und hielt sie in Richtung des Feuers, als ob er sich aufwärmen wollte. Er hatte sich trotz des Auftauchens seiner Verfolger nicht bewegt. »Also, ihr seid hier, um euch Olivs Kopfgeld zu schnappen, nehme ich an?« Er schaute zu dem Anführer hinauf. »Denkt ihr, dass das Geld euer Leben wert ist?«

Der Mörder der Gruppe lachte auf. »Es ist dein Leben wert, Wurm.«

»Das bezweifle ich. Es ist gerade – wie viel? Einhundert Koltina hoch?«

»Fünfhundert«, meldete sich der Nervöse zu Wort, was ihm einen strengen Blick des Anführers einbrachte.

Nikolai stieß einen Pfiff aus. »Das ist ziemlich hoch. Aber ich verspreche euch, es ist nicht genug.« Er tat als würde er zittern. »Kalt hier oben.«

Er sah zum Himmel hinauf. »Und es wird noch kälter werden. Sicherlich ein Tag, den man besser zuhause verbringen sollte, statt hier oben, oder nicht?« Er starrte dem Anführer direkt in die Augen und sein Blick ließ den Mann sich beunruhigt hin und her verlagern. »Das ist eure einzige Chance. Geht nach Hause zurück. Ich verspüre heute nicht das Bedürfnis, das Blut von irgendwem zu vergießen.«

»Wir sind zu viert–«, setzte der Mörder an, doch der Anführer schnitt ihm mit einem Wink seiner Hand das Wort ab.

»Wir gehen ohne dich nirgendwo hin. Pieter, Ivan.« Er gab dem Nervösen und dem Hinkenden ein Zeichen. Man musste ihnen hoch anrechnen, dass sie nicht zögerten, sondern langsam auf Nikolai zuschritten, als ob sie sich einem gefährlichen Tier näherten, ihre Äxte erhoben.

Sofort warf er seinen schweren Pelzmantel über die beiden, wodurch er sie einige wenige kostbare Sekunden lang blind machte. Das reichte dem Kopfjäger, um sich seine beiden Äxte von der Stelle, an der sie lagen, zu schnappen und vorwärts zu springen, sich dabei abzurollen und so hinter die beiden panischen Männer zu bewegen. Sobald er wieder auf die Beine kam, wich er dem Schlag des Hinkenden aus und nutzte seinen Schwung, um auf die verkrüppelte Seite des Mannes zu wirbeln. Als der Mann versuchte sich umzuwenden, versagte sein Bein. In derselben Sekunde grub Nikolai seine erste Axt in das Rückgrat des Mannes direkt unterhalb seines Kopfes, durchtrennte Knochen und Nerven und schickte den Mann mit einem erstickten Aufschrei zu Boden. Nikolai ließ seine Axt mit seinem Opfer fallen und ging gleichzeitig auf den Nervösen zu, der beim Tod seines Kameraden erstarrt war. Ein rascher Hieb mit Nikolais verbleibender Axt und der Mann starb in einer Fontäne aus Blut; der Schlag hatte ihn zwischen seinem Hals und seinem Schlüsselbein getroffen und seine Halsschlagader durchtrennt.

Nikolai riss seine Axt wieder heraus, drehte sich beim Klang schwerer Fußtritte herum und rollte sich zugleich unter dem Schlag des Anführers hinweg. Vom Boden aus trat Nikolai mit seinem rechten Bein hart nach oben, wobei er den Mann direkt unter dem Knie traf. Der Knochen gab mit einem h ässlichen Knacken nach und der Anführer fiel mit einem Schmerzensschrei hin. Nikolai sprang wieder auf die Füße und stürmte zu seiner anderen Axt, die im Rücken des toten Mannes steckte, der gehinkt hatte. Als er sie herauszerrte, sprang er zurück, um de m Hieb des Mörders auszuweichen, dann schoss er nach vorne und schwang beide Äxte über seinen Kopf hinweg nach unten, um sie zusammen mit einem lauten, nassen Geräusch in die Brust des Mörders zu graben.

Das Chaos des Kampfes war so schnell vorüber, wie es begonnen hatte. Nikolai zog seine Äxte aus der Leiche des Mörders und begab sich zum Anführer hinüber, der verzweifelt versuchte, seine Äxte als Krücken zu nutzen, um sich aufzurichten. Nikolai trat dem Mann die Waffe aus den Händen; der Anführer sackte schwerfällig auf die kalte Walderde.

» Bitte. Du musst mich nicht töten. Ich schwöre, ich werde dir nie wieder nachstellen. « Die Worte des Mannes wurden zwischendurch unterbrochen von schmerzerfülltem Keuchen, während er sich bemühte, sich wieder aufzuraffen.

Nikolai tat einen tiefen Atemzug, als er zu dem Mann herabblickte, die Schneiden seiner Äxte dampfend von dem geronnenen Blut, mit dem sie verkrustet waren. »Ein verwundeter Feind ist für immer dein Feind. Ein toter Feind ist nicht länger dein Feind.«

Der Möchtegern-Kopfgeldjäger betrachtete ihn einen Moment lang und senkte anschließend seinen Kopf, um seinen Hals dem Schlag preiszugeben, der bald darauf folgte.