Das erotische Kapital der erwachsenen Frau
Eine attraktive, alleinerziehende Mutter berichtet, dass ihr Teenager-Sohn ihr verboten hat, ihn – wie bei den beiden seit Jahren üblich – mit dem Auto bis vors Tor der Schule zu fahren. Stattdessen steigt der Sohn neuerdings in einer Seitengasse aus. »Ich bin ihm peinlich«, stellt die Mutter fest. Die kleine Frauenrunde, der sie die Episode erzählt, lacht laut und amüsiert sich köstlich. Die Teenager-Mutter, eine schöne, stolze Amazone, ist wahrlich kein Mensch, an dessen Seite sich irgendjemand schämen müsste. Natürlich weiß sie das auch. Und trotzdem erlebt sie – wie wir alle gelegentlich – Momente, in denen sie auf die kleinen Kränkungen, die das Leben bereithält, nicht ganz so souverän reagieren kann, wie sie es an diesem Abend im Kreis der Freundinnen tut.
Manchmal hat auch die Seele der lebenslustigsten Frau einen Durchhänger. Dann ist es hilfreich, wenn man auf eine kleine Hausapotheke mit wirksamer Medizin zurückgreifen kann. Gemeint ist hier nicht etwa stimmungsaufhellendes Johanniskraut – sondern Bücher, Musik-CDs und Filme, die uns die kleinen Demütigungen, die wir in der Lebensmitte kassieren, vergessen lassen. Und die uns eine Ahnung davon geben, welche Abenteuer uns noch bevorstehen könnten.
Ich empfehle für solche Fälle den Film »Was das Herz begehrt« mit Diane Keaton, Keanu Reeves und Jack Nicholson. Die Komödie handelt von der geschiedenen Theaterautorin Erica Barry (Diane Keaton), deren Tochter Marin (Amanda Peet) ihren wesentlich älteren Freund Harry (Jack Nicholson) mitnimmt ins Strandhaus der Mutter. Dort erleidet Harry einen Herzinfarkt, Erica begleitet ihn ins Krankenhaus und lernt dort den Arzt Julian (Keanu Reeves) kennen. Der ist ein großer Fan ihrer Stücke und beginnt, Erica heftig zu umwerben. Dass sie fast 20 Jahre älter ist als er, scheint ihn nicht zu stören.
Am Ende tut sich Erica zwar unverständlicherweise mit dem stark verwitterten Harry zusammen. Doch sie hätte den gut aussehenden, kultivierten Julian haben können. Und allein diese Botschaft des Films entfaltet eine wunderbar tröstliche und ermutigende Wirkung. Doch wäre die Dramaturgie eines solchen Hollywoodmärchens auch im wirklichen Leben vorstellbar?
Hält man sich an die Statistik, fällt die Prognose für alleinstehende Frauen mittleren Alters ernüchternd aus. Die schlechtesten Chancen auf dem Heiratsmarkt haben demnach nämlich zwei Gruppen von Menschen: junge Männer mit wenig Bildung und mit geringer Körpergröße sowie nicht mehr ganz junge Frauen mit höherer Bildung.
Einfach unwiderstehlich Die Sängerin Lotte Lenya war bekannt für ihr bis ins hohe Alter hinein reges außereheliches Liebesleben. Um für ihre meist wesentlich jüngeren Gespielen so lange wie möglich attraktiv zu bleiben, ließ sie sich noch im Alter von etwa 60 Jahren den Busen straffen. Doch es lag offenbar nicht am Busen, warum die Männer nach dieser Femme Fatale verrückt waren. Ihr New Yorker Nachbar und Liebhaber Quentin Anderson erklärte ihre Anziehungskraft folgendermaßen: »Bei allem, was sie tat, investierte sie jede erdenklichen Reserven an Energie. Was immer Lenya auf dieser Welt begehrte, nahm sie sich und genoss es in vollen Zügen.« Keine schlechte Strategie. |
Warum aber haben erwachsene Frauen weniger Chancen, nach Scheidungen/Trennungen neue Partner oder als Singles die große Liebe zu finden als mittelalte Männer in derselben Situation? In dem Film »Was das Herz begehrt« bringt Zoe, die Schwester der Hauptfigur Erica, bei einer abendlichen Tafelrunde im Strandhaus die Sache auf den Punkt. Sie fragt Harry, ob er jemals verheiratet war. Als er verneint, stellt sie fest: »Sie sind 63 und waren nie verheiratet. Für eine Frau wäre das der Supergau. Sie würde als alte Jungfer wahrgenommen. Sie dagegen werden in Zeitungsartikeln als berühmter Junggeselle gefeiert. Dagegen meine Schwester: Sie ist über 50, schön und begabt. Aber sie sitzt jeden Abend allein zu Hause. Die Kontaktszene der Über-50-Jährigen blendet ältere Frauen aus.« Als Folge davon, fährt Zoe fort, arbeiteten die Frauen an der Entfaltung ihrer Talente, würden immer produktiver und interessanter. »Aber was nützt ihnen das? Nichts! Denn Männer haben Angst vor produktiven und interessanten Frauen. Alleinstehende ältere Frauen haben demographisch betrachtet die Arschkarte gezogen.«
Eine These, die der Film in seinem weiteren Verlauf zwar widerlegt. Das ändert jedoch nichts daran, dass Produktivität und Begabung auf dem Partnerschaftsmarkt offenbar keine harten Währungen sind. Was hier zählt, sind vor allem zwei Ressourcen: Schönheit und Sex-Appeal.
In ihrem Buch »Erotisches Kapital. Das Geheimnis erfolgreicher Menschen« schreibt die britische Soziologin Catherine Hakim über ihre Beobachtung, dass die Maßstäbe, nach denen körperliche Attraktivität bemessen wird, sich unablässig nach oben verschieben. »Inzwischen wird von allen Altersgruppen eine attraktive Erscheinung erwartet, nicht nur von jungen Leuten, die sich soeben anschicken, auf dem sexuellen Beziehungsmarkt zu debütieren. Steigende Scheidungsraten und ein nur noch auf bestimmte Lebensphasen beschränktes monogames Dasein schaffen für jedermann Antrieb genug, das eigene erotische Kapital nicht nur vor der ersten Eheschließung, sondern ein gesamtes Leben hindurch zu pflegen und weiterzuentwickeln.«
Der Sex-Appeal nimmt zwar mit zunehmendem Alter bei Angehörigen beider Geschlechter gleichermaßen ab. Männer können diesen Mangel jedoch leichter durch andere Ressourcen ausgleichen, etwa durch ihr ökonomisches oder soziales Kapital (Geld, Kontakte, Status).
Frauen bewegen sich als Mitspielerinnen und Beobachterinnen auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten und versuchen, dort ihren Platz zu finden. Dabei ist es sehr hilfreich, sich gelegentlich zurückzulehnen, das Treiben mit innerer Distanz zu betrachten und zu überprüfen, ob man tatsächlich Lust hat, nach den Spielregeln, die dort gelten, zu spielen. Oder ob man sich, um sich selbst treu zu bleiben, gewissen Bräuchen besser verweigern sollte.
Muss man zum Beispiel einen ganzen Abend lang mit schmerzenden Füßen in High Heels verbringen, nur um optisch eine bestimmte Form von Sexyness zu verkörpern? Zu dieser dekorativen Variante des Masochismus bin ich nicht mehr bereit. Deshalb applaudierte ich begeistert, als ich in dem Katalog zur Münchner Ausstellung »Frauen. Picasso, Beckmann, de Kooning« eine Beobachtung der Regisseurin Doris Dörrie fand, die über das Tragen von flachen Schuhen als Akt des zivilen Ungehorsams räsoniert.
»Bei einer Preisverleihung oder einer ähnlichen Veranstaltung kam eine Frau auf mich zu und sagte zu mir: ›Das ist ja sehr mutig, Frau Dörrie, dass Sie flache Schuhe tragen.‹ Das war unglaublich, ich konnte das erst gar nicht verstehen. Und dann fiel mir auf, dass es inzwischen auf diesen Veranstaltungen tatsächlich keine Frauen mehr gibt, die nicht unglaublich hohe High Heels tragen. Das ist eine überdeutliche Sexualisierung. (…) Mir war vorher nicht bewusst, dass es inzwischen ein Sonderfall ist, wenn ich flache Schuhe trage und auf diese öffentliche Sexualisierung verzichte. Ich komme da wirklich aus einer anderen Generation. Und ich staune über diese freiwillige De-Emanzipation.«
Manche Komponenten erotischen Kapitals werden im mittleren Alter erst richtig interessant – etwa Lebendigkeit und Wärme
Es spricht nichts dagegen, dass Frauen sich zu Super-Barbies stylen, wenn sie sich so gefallen und es genießen, in High Heels zu gehen. Doch dies ist nicht der einzige Weg, um sich im mittleren Alter in seinem Körper wohlzufühlen und von anderen wahrgenommen zu werden. Die 40-jährige Witwe, die sich in einen Jugendfreund verliebt, die geschiedene Friseurmeisterin, die auf einer Party einen Mann kennenlernt, der perfekt zu ihr passt: Wir alle kennen Menschen, die auf andere eine enorme Anziehungskraft ausüben – auch wenn ihr Körper nicht hundertprozentig den gängigen Schönheitsnormen entspricht und sie ihre Haare ungefärbt lassen.
Denn selbstverständlich besitzen auch diejenigen, deren Schönheit und Sex-Appeal sich nicht auf plakative Weise offenbart, Ressourcen, die sie begehrenswert machen. »Erotisches Kapital« nennt die Soziologin Catherine Hakim diese Qualitäten. Eine besondere Form von Reichtum, die viele Facetten hat. Was genau versteht die Wissenschaftlerin unter erotischem Kapital? Hakim knüpft an einen Aufsatz des französischen Soziologen Pierre Bourdieu an, der in den 80er-Jahren drei Aktivposten identifiziert hat, die einen Menschen für andere interessant machen: sein wirtschaftliches Kapital (Besitztümer, Geld), das kulturelle Kapital (Bildung, Manieren) und das soziale Kapital (Kontakte und Beziehungen). Hakim stellt diesen Aktivposten mit dem erotischen Kapital eine vierte, bisher wenig beachtete Qualität zur Seite.
»Erotisches Kapital ist das komplexeste dieser vier Attribute und hat viele verschiedene Facetten: Schönheit, Sex-Appeal, soziale Kompetenz, Charme und Charisma, die Fähigkeit, die eigene Person in Bezug auf Kleidung und äußere Erscheinung ansprechend zu präsentieren, Fitness und Lebendigkeit sowie sexuelle Kompetenz (im Privatleben von Erwachsenen) und in manchen Umfeldern auch Fruchtbarkeit.«
Manche diese Eigenschaften entfalten, wenn man im mittleren Alter angekommen ist, erst ihre ganze Verführungskraft. Das konnte ich an verschiedenen Beispielen in meinem Bekanntenkreis beobachten. Und vermutlich kennt jeder ähnliche Fälle, die das Urteil der Statistik auf sympathische Weise widerlegen. Eine dieser vielen unbekannten Frauen, deren Lebensgeschichte Mut macht, ist Maria. Die Physiotherapeutin und Mutter dreier Kinder wurde mit Mitte 40 von ihrem Mann verlassen. Maria, eine hingebungsvolle Mutter, hatte mit allen Mitteln um diese Ehe gekämpft. Auch weil sie es ihren drei Töchtern ersparen wollte, als Scheidungswaisen aufzuwachsen.
Die Beziehung brach dennoch auseinander, ihr Partner zog aus. Maria brauchte lange, um über diese Kränkung hinwegzukommen. Auch war es für sie sehr ungewohnt, keinen Mann mehr an ihrer Seite zu haben. Seit ihren Teenager-Jahren war sie fast immer in Beziehungen gewesen. War eine Liebe am Ende, fand sich bald darauf ein neuer Bewerber. Aber wie würde es nun weitergehen? War sie als Mittvierzigerin und Mutter dreier Töchter für Männer überhaupt noch begehrenswert?
Noch bevor sie sich mit den neuen Dating-Usancen im Internet vertraut gemacht hatte, ersparte ihr – wie so oft in ihrem Leben – der Zufall das mühsame Casting geeigneter Kandidaten aus den einschlägigen Online-Börsen. Bei einem Klassentreffen begegnete sie einem früheren Schulkameraden. Horst war ihr in der Schulzeit gar nicht aufgefallen. Jetzt erlebte sie seine Seriosität und Verlässlichkeit als angenehmen Kontrast zur Sprunghaftigkeit und Unzuverlässigkeit ihres Exmanns. Außerdem hatte Horst ein großes Herz, in dem neben Maria auch ihre Töchter Platz fanden.
Er hatte diverse Beziehungen hinter sich, doch es hatte sich in seinem Leben nie ergeben, eine eigene Familie zu gründen. Was er intuitiv suchte, war Nestwärme. Nun genießt er die lebendige Atmosphäre in Marias offenem Haus, er bewundert ihr liebevolles und fürsorgliches Wesen, ihre feminine Schönheit und das Phänomen, dass sie 24 Stunden am Tag Wärme ausstrahlt.
Auch der Geist will spielen. Deshalb ist Klugheit so verführerisch
Maria verkörpert die Qualitäten, die Catherine Hakim als dritten Bestandteil des erotischen Kapitals beschreibt: »Anmut, Charme, die Fähigkeit zum sozialen Austausch, das Geschick, Menschen dazu zu bringen, dass sie einen mögen, sich mit einem wohlfühlen, Wert auf die Bekanntschaft mit einem legen.«
Es handelt sich dabei um Qualitäten, die viele Mütter im Übermaß besitzen und die für manche Männer ebenso attraktiv sind wie der Schmollmund von Scarlett Johansson. Eine Frau, die in der zweiten Lebenshälfte einen (neuen) Partner sucht, verlässt sich in der Regel nicht allein auf ihre Attraktivität und ihren Sex-Appeal. Sie wirft zusätzlich Qualitäten in die Waagschale, derer sie sich möglicherweise erst im Erwachsenenalter bewusst geworden ist oder die sie erst im Lauf der Zeit erworben hat.
Jackie Kennedy etwa umgab ihr Leben lang die Aura der Geheimnisvollen – eine Ressource, die in ihren späteren Lebensjahren genauso magisch wirkte wie in ihrer Zeit als Präsidentengattin. Und das Beispiel der WWF-Chefin Christine Lagarde zeigt: Nichts ist faszinierender als das Leuchtfeuer einer starken Persönlichkeit, die in einem interessanten, polyglotten Leben geformt worden ist.
Das Geheimnis von Lagardes Anziehungskraft: Smartness. Denn auch der Geist will spielen, braucht Ansporn, Glanz und Anregung. Deshalb lassen wir uns durch Klugheit so leicht verführen und sind so hingerissen von jenen, bei denen sie sich aufregend verheißungsvoll materialisiert.
Der Scheinwerfereffekt: Was man von Salondamen lernen kann
Eine Kollegin ist mit einer Münchner Schriftstellerin befreundet, die sie regelmäßig auf den Partys der Frankfurter Buchmesse trifft. »Diese Frau ist nun schon fast 60«, erzählte die Kollegin. »Und es ist nicht zu fassen, wie sie auf Männer wirkt. Kaum hat sie auf einem Barhocker Platz genommen, scharen sich schon mehrere Verehrer um sie.«
Bei einer Preisverleihung hatte ich dann selbst Gelegenheit, das Phänomen in Augenschein zu nehmen. Die Schriftstellerin erschien zu diesem Anlass in einem roten Kleid. Als sie zum Rednerpult schritt, um sich für den Preis zu bedanken, konnte man förmlich spüren, wie die Luft um sie herum zu flirren begann. Sie ist eine gut aussehende Frau, aber keine umwerfende Schönheit. Ihre Anziehungskraft hat vielmehr mit einer besonderen Form von Präsenz zu tun. Und mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie sich an diesem Abend inszenierte. Sie wusste, dass sie bei dieser Veranstaltung die Hauptperson war, sie nahm diese Rolle an und füllte sie aus – mit vibrierender Lebendigkeit, Energie und einer kräftigen Dosis Humor. So ähnlich verhält sie sich vermutlich auch in ganz alltäglichen Situationen.
Wer diesen Effekt einmal aus der Nähe studieren will, sollte in italienischen Urlaubshotels der gehobenen Klasse einmal das Verhalten der Gäste am Buffet beobachten. Die deutschen Touristen – in der Mehrzahl eher lässig gekleidet – marschieren mit hängenden Schultern zu den Tischen mit den Parmaschinken-Röllchen und gemischten Meeresfrüchten. Die Botschaft ihres Stylings: »Ich will nicht weiter auffallen.«
Für die Italiener – geschmackssicher herausgeputzt wie für einen Theaterabend – ist der Gang durch den Saal Teil der Gesamtinszenierung. Sie bewegen sich dabei so elegant über das Parkett und sind sich ihrer selbst so bewusst wie die Darsteller in einem Visconti-Film. Mit der gleichen Konzentration und Grandezza choreografieren sie auch ihre Auftritte am Strand oder in der Bar. Sie sind die Stars auf der Bühne des kleinen Welttheaters, das hier jeden Tag aufgeführt wird. Die Gäste aus den anderen Ländern applaudieren mit bewundernden Blicken.
Sie hätten Lust, auch mal wieder ein paar Komplimente einzuheimsen? Der Trick ist ganz einfach: Ziehen Sie ein Kleid an, in dem Sie sich rundherum wohl und sicher fühlen. Und dann bewegen Sie sich in einem öffentlichen Raum Ihrer Wahl, als sei ein imaginärer Scheinwerfer auf Sie gerichtet. Registrieren Sie, wie man Sie betrachtet und wie Sie sich dabei fühlen. Ein Selbsterfahrungstrip, der nichts kostet, aber gute Renditen für das Selbstbewusstsein bringt. Lebendigkeit, Sex-Appeal, ein verführerischer Intellekt oder die Aura der Geheimnisvollen: Wenn Sie sich nicht ganz sicher sind, aus welchen Komponenten Ihr erotisches Kapital zusammengesetzt ist, fragen Sie einen Freund oder eine Freundin, der oder die Sie schon lange kennt.
Eines steht jedenfalls fest: Erotisches Kapital besitzt jeder. Und es schadet nicht, in seine ganz individuelle Mischung aus sozialer, physischer und emotionaler Attraktivität zu investieren. Dann kann man Statistiken getrost ignorieren, die uns weismachen wollen, erwachsene Frauen seien auf den modernen Partnerschaftsmärkten schwer vermittelbar. Das Leben widerlegt diese Statistiken Tag für Tag. Denn manche Aspekte des erotischen Kapitals von Frauen – wie die Beispiele in diesem Kapitel zeigen – werden im mittleren Alter erst richtig interessant.
Der Arthrosen-Kavalier Es sind die letzten schönen Spätsommertage Ende August, ich habe mich im Hotel Alpenrose am See einquartiert, um zu baden, zu lesen und nachzudenken. Das Publikum: seriöse Damen und Herren mittleren Alters. Ein ebenfalls alleinreisender, um die 70 Jahre alter Mann fällt mir auf, weil er sehr asketisch aussieht, beim Laufen ein wenig hinkt und gebeugt geht. »Der protestantische Pfarrer im Ruhestand«, nenne ich ihn im Stillen. Abends sitze ich an einem Tischchen in einem benachbarten Restaurant, vor mir eine Renke und ein Glas Riesling. Ich betrachte gerade den Sonnenuntergang, als ich hinter mir auf dem Kies Schritte knirschen höre. Es ist der protestantische Pfarrer. Er packt den zweiten Stuhl neben meinem Tischchen und versucht einen Scherz: »Aha, das Hotel Alpenrose geht fremd! Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Ich erschrecke, weil der Mann offensichtlich in neckischer Stimmung ist und das Wort »fremdgehen« in dieser Situation allerlei sehr unbehagliche Assoziationen weckt. Kurz darauf weicht der Schreck einem Anflug von Zorn. Ich versuche, ihn zu seiner Quelle zu verfolgen. Ein mehr als 20 Jahre älterer Mann nähert sich mir in der augenscheinlichen Absicht zu flirten. Müsste ich mich – schon aus Solidarität mit allen Menschen meines Alters – nicht darüber freuen? Warum betrachte ich sein Interesse als Zumutung? Die Erklärung ist ganz einfach: Indem er sich mir zuwendet, so glaube ich, macht er mich älter, als ich bin. Er macht mich zu seinesgleichen. Ich aber sehe mich nicht als Frau, die theoretisch im Einzugsbereich seines Charmes liegt (und praktisch noch weniger). Ich finde, dass ich (noch) in einer anderen Liga spiele. Wochen später erzähle ich die Episode meiner 20-jährigen Nichte und frage sie: »Sei ehrlich: Sehe ich wie 70 aus?« Das sei nicht der Fall, versichert mir Hanna glaubhaft. »Und übrigens, liebe Tante, falls es dich tröstet: Auch ich bin schon öfter von 70-Jährigen angemacht worden. Männer halten offenbar jedes Wesen, das einen Busen hat, für eine potenzielle Beute.« |