Zweimal ging Hugh zur Wagenremise hinüber, um nachzuschauen, wie die Reparaturtruppe vorankam. Beim zweiten Mal klang der Bericht optimistisch.
»Ich werde doch fahren können«, sagte er, als er ins Wohnzimmer zurückkam. Carey saß vor dem Schachbrett, auf dem er in eine hoffnungslose Lage geraten war, während Mrs. Bradley ihn über die Figuren hinweg teuflisch angrinste.
»Gut«, sagte sie. Carey grunzte, gab das Schachspiel auf und fischte eine Pfeife samt Tabak aus der Tasche.
»Du wirst von Glück sagen können, wenn du nicht schuld daran bist, dass man Jenny des Hauses verweist und sie auffordert, nie wieder einen Fuß hineinzusetzen«, sagte er und griff nach den Streichhölzern.
»Du denkst, Mr. Fossder wird nicht wollen, dass sie uns besuchen kommt? Ach, verdammt, das wäre ein Pech!«, sagte Hugh. »Aber die alte Dame mag mich, weißt du?«
»Ja«, sagte Carey. »Und wäre es ihr nicht auch viel lieber, wenn Tombley ihr Schwiegersohn würde? Ich glaube, sie kann Pratt auf den Tod nicht ausstehen.«
»Und der alte Fossder kann Tombley nicht ausstehen. Aber ich finde, das kann man ihm eigentlich nicht übelnehmen. Der alte Simith hat ihm nämlich einmal eine leere Flasche über den Kopf gezogen. Simith wurde dafür eingelocht, und seitdem hasst er Fossder. Außerdem ist er davon überzeugt, dass Fossder ein Gerichtsverfahren von ihm verpfuscht hat, in dem es um irgendeine Brücke oder so ging.«
»Interessant«, sagte Mrs. Bradley, die sich gern Klatsch und Tratsch anhörte, wenn auch eher passiv, ohne sich groß einzubringen. Sie stand im Begriff, die beiden aufzufordern, mit ihrer Erzählung fortzufahren, als die Türglocke mit lautem Scheppern in Gang gesetzt wurde und das ganze Haus aufschreckte. Das Geräusch fuhr Mrs. Ditch, die in der Küche saß, durch alle Glieder. Sie ließ sich zurück in ihren Windsor-Stuhl fallen, umklammerte die Tischkante mit ihrer dunkel verfärbten Hand – sie war gerade damit beschäftigt gewesen, die Innereien aus einem Kapaun zu entfernen – und sagte:
»Walt, lass bloß niemand rein, das wäre sehr unklug!«
Woraufhin Walt, Mrs. Ditchs jüngster Sohn, beschwichtigend antwortete:
»Aber, aber, Mutter, woher willst du denn wissen, wer es ist? Warte hier, ja? Dann kann ich’s dir gleich sagen.«
Mit diesen Worten ging er zur Tür, um sie zu öffnen.
Das Geräusch hatte auch Carey aufgeschreckt.
»Gute Güte, wer ist denn das?«, verlangte er zu wissen und schwang seine Füße vom Sofa, während Hugh zur Tür ging, die vom Wohnzimmer in die Eingangshalle führte.
»Wer ist da, Walt?«, rief er.
Oben in seinem Zimmer hatte sich Denis aufgesetzt und lauschte. Dann schlüpfte er aus dem Bett, zog sich seinen Morgenmantel und seine Pantoffeln an und machte sich auf, um die Lage zu erkunden. Die Geschicklichkeit, die er dabei an den Tag legte, hatte er sich durch jahrelange Übung daheim erworben, bei zahlreichen Raubzügen in die Küche, um die Keksdose zu plündern. Er schlich die Hälfte der Treppe hinunter, und als er Hugh entdeckte, dessen Silhouette sich in der geöffneten Wohnzimmertür vor dem dahinter brennenden Licht abzeichnete, kauerte er sich hinter das Treppengeländer. Dort wartete er die weiteren Entwicklungen ab.
Selbst Mrs. Bradley konnte sich bei diesem scheppernden Missklang so spät am Heiligen Abend einer gewissen Beanspruchung ihres Nervenkostüms nicht erwehren.
»Wer ist da?«, fragte Hugh erneut, als Walt durch die Eingangshalle auf ihn zukam.
»Es ist ein Gentleman namens Pratt. Er will wissen, ob Sie nun nach Iffley fahren oder nicht«, sagte er.
»Pratt? Bitte ihn herein«, sagte Carey. Ein hochgewachsener dünner Mann mit leicht gebückter Haltung trat in den Lichtschein der Lampe, die im Wohnzimmer brannte.
»Man dachte, man sei womöglich falsch informiert worden«, sagte er. »Man hatte von seiner Verlobten die Information erhalten, dass man eine Person aus Ihrer Gesellschaft um halb elf Uhr heute Abend zu erwarten hätte.«
»Man hat das ganz richtig verstanden«, sagte Carey kühl. »Unglücklicherweise hat das Auto seinen Geist aufgegeben. Ich fürchte, Hugh wird seinen Besuch auf morgen früh verschieben müssen.«
»Man bedauert das Missgeschick«, sagte Pratt. Er blinzelte zu Mrs. Bradley hinüber. Carey stellte sie einander vor.
»Nun«, sagte Mrs. Bradley mit dem liebevollen Lächeln einer Boa Constrictor, der es gelungen war, ihre Beute mit der geringstmöglichen Anstrengung in ihre Fänge zu bekommen. »Also das ist Mr. Pratt! Wie geht es Ihnen, Kind?«
»Man befindet sich wohlauf«, sagte Pratt. Er warf einen vagen Blick in die Runde. »Man hatte eigentlich erwartet, dass …«
»Ja, das ist richtig«, sagte Carey. »Und es tut uns wirklich furchtbar leid, aber es stimmt tatsächlich etwas mit dem Auto nicht. Es wird sich gerade darum gekümmert. Und ich meine es ganz ehrlich, wenn ich sage, dass ich nicht weiß, ob Hugh es heute Abend noch schaffen wird. Sie können hierbleiben und abwarten, wenn Sie möchten, und mit ihm zurückfahren, falls er überhaupt noch aufbrechen sollte.«
»Man hatte eigentlich vorgehabt, unverzüglich wieder zurückzukehren. Man ist auf einem Fahrrad gekommen, das Jenny gehört«, sagte Pratt, während er sich entschuldigend Richtung Ausgang schob.
»Alles klar. Dann bis später«, sagte Hugh leichthin.
»Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich Fays Geschmack bewundere«, sagte er, als Pratt verschwunden war. Sie kehrten alle wieder zu ihren jeweiligen Beschäftigungen zurück, und Stille war eingekehrt, als sie plötzlich einen Schrei hörten und dann das Geräusch eines schweren Körpers, der gegen die Tür krachte.
»Du lieber Gott!«, sagte Hugh. »Was war das denn?« Er setzte sich starr auf und sah zur Tür hinüber. Carey ging und öffnete sie.
»Alles in Ordnung«, sagte eine mürrische Stimme, die Mrs. Bradley sofort wiedererkannte. »Ich bin durch den Hintereingang gekommen. Tut mir leid, Sie um diese Uhrzeit noch zu stören. Bin im Flur ausgerutscht. Wollte nicht darauf warten, dass Mrs. Ditch eine Lampe bringt.«
»Na, kommen Sie schon rein, Tombley«, sagte Carey nicht besonders herzlich. »Was ist los? Ich hoffe, es ist nichts passiert?«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Tombley. »Es sind alle daheim, nehme ich an?«
»Ja, das sind wir«, antwortete Hugh. »Warum? Ist irgendetwas Schlimmes vorgefallen?«
»Nein, ich denke nicht. Zumindest nicht, wenn Sie meinen Onkel hier zu Besuch haben. Wenn er aber nicht hier ist, dann habe ich etwas Angst, dass … Sein Herz spielt manchmal ein bisschen verrückt, und dann hat er heute auch noch ordentlich dem Alkohol zugesprochen …«
»Es tut mir leid, aber Mr. Simith ist nicht hier«, sagte Carey. »Was denken Sie denn, was passiert sein könnte?«
»Nun, ich weiß nicht recht. Es ist gut möglich, dass gar nichts passiert ist«, antwortete Tombley. Mittlerweile war er eingetreten, sodass er im Licht der Wohnzimmerlampe stand.
»Mein lieber Claudius!«, rief Mrs. Bradley. Sie stand im Schatten, und beim Klang ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme machte der junge Mann unwillkürlichen einen Schritt in ihre Richtung.
»Wie bitte?«, sagte er. Plötzlich erschien Mrs. Bradley im Lichtkreis, das Strickzeug noch in der Hand, und Tombley fuhr vor Schreck zusammen. Er war sich sicher gewesen, dass sie weiter von ihm entfernt war, und hatte deshalb nicht damit gerechnet, sie so unerwartet vor sich auftauchen zu sehen.
»Ich unterteile die Menschen in verschiedene Klassen«, sagte sie mit einem Winken ihrer Klauenhand. Im Licht der Lampe hatte ihre Haut eine seltsame schmutzige Farbe angenommen. Ihre schwarzen Augen glänzten wie die einer Hexe oder eines Wolfs, und als sie weitersprach, glich ihr Lächeln eher einem heimtückischen Grinsen. »Haben Sie nicht Aldous Huxleys Buch Eine Gesellschaft auf dem Lande gelesen, insbesondere die Stelle, wo der bemerkenswerte Mr. Scogan sich über das äußerst faszinierende Thema der Cäsaren auslässt? Typen. Typen. Wir sind alle Typen, mein liebes Kind. So etwas wie ein Individuum gibt es nicht, verstehen Sie? Sie hatten doch nicht etwa geglaubt, so etwas gäbe es, und Sie wären eines? Na, machen Sie sich nichts draus.«
Carey fing an zu lachen.
»Beachten Sie meine Tante nicht«, sagte er. »Sie ist Irrenärztin und verfügt über zahlreiche ausgefallene akademische Grade. Dagegen können wir nichts tun. Und wir versuchen es auch gar nicht erst.«
»Setzen Sie sich doch«, sagte Hugh. »Und erzählen Sie uns, was passiert ist.«
»Nun, es klingt vielleicht ein bisschen albern«, sagte Tombley. »Aber die Sache ist die: Mein Onkel ist nach Oxford gefahren und hat unser Haus heute Morgen um neun Uhr verlassen. Ich hatte ihn zur Teestunde zurückerwartet, und jetzt ist er noch immer nicht wieder da. Ich kann es mir nicht erklären, außer vielleicht, dass er irgendwelche Freunde getroffen hat. Das Problem ist, sein Herz ist nicht mehr das allerkräftigste. Deshalb mache ich mir immer ein wenig Sorgen, wenn er nicht zu seiner üblichen Zeit zurückkehrt. Und diesmal ist es zudem auch noch so, dass …«
»Ein sehr löbliches Verhalten.« Erneut kam Mrs. Bradley aus der Dunkelheit herausgeschossen, in der nervenaufreibenden Manier eines Kuckucks, der aus seiner Uhr springt. »Das ehrt Sie, junger Mann!«, sagte sie und zog sich wieder zurück in den Schatten, gefolgt von einem verwunderten Schweigen. Dann führte Tombley seinen Satz zu Ende.
»Die Sache ist die, ich habe einen Termin bei meinem Anwalt, Fossder, in Iffley, und werde nun nicht mehr in der Lage sein, ihn einzuhalten, fürchte ich. Ich hatte den Eindruck gewonnen, jemand aus Ihrer Gesellschaft würde vielleicht dorthin fahren, und da habe ich mich gefragt, ob Sie ihm womöglich die Nachricht überbringen könnten, dass ich nicht werde kommen können. Es ist wegen dieser dummen Wette, Sie wissen schon.«
»Mein Automobil ist momentan nicht fahrtüchtig«, kam Mrs. Bradley den Männern zuvor. Dies war ein so deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl, dass der Besucher ihn nicht ignorieren konnte. Während Hugh Tombley zum Ausgang begleitete, ging Carey zur Wohnzimmertür und schloss sie. Er grinste Mrs. Bradley an, deren Echsenlächeln im Licht der Lampe aufblitzte, setzte sich wieder und nahm sein Buch zur Hand.
»Du magst Sir Geraint von der Schweinefarm nicht«, bemerkte er.
Mrs. Bradley antwortete nicht darauf. »Ich frage mich, wie George und die Ditches mit dem Auto vorankommen«, sagte sie stattdessen und blickte dem lachenden Carey direkt ins Gesicht.
Um elf Uhr war das Auto endlich einsatzbereit, und George fuhr los, mit Hugh auf dem Beifahrersitz. Auf die Rückbank hatten sie ein paar Decken gelegt. Das Auto glitt in vorsichtigem Tempo über den Feldweg und von dort auf die Straße. Außer ihnen war niemand unterwegs. In den Cottages brannte kein Licht, und das Murmeln des Baches ging im Motorengeräusch unter. Bald schon hatten sie den Hügel erklommen, kamen an der Kirche und dem Gasthof vorbei und brachten die wenigen Meilen hinter sich, die sie von der Landstraße von Headington nach Oxford trennten.
Es dauerte nicht lange, bis sie den Stadtrand von Oxford erreichten, wo sie die Cowley Road überquerten und dann im höchsten Gang weiter Richtung Iffley fuhren.
Kurz hinter der Kirche machte Hugh den Chauffeur mit einer Geste darauf aufmerksam, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten. George verlangsamte das Tempo und hielt vor einer dichten Lorbeerhecke. Hugh stieg aus.
»Warten Sie hier bitte einen Moment, George. Ich nehme an, man rechnet nicht mehr mit unserem Kommen. Ich werde wohl das ganze Haus aufwecken müssen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte George.
»Es könnte mindestens eine halbe Stunde dauern, also rauchen Sie eine oder tun Sie, was auch immer Sie wollen. Haben Sie Zigaretten und Streichhölzer?«
»Ja, Sir, das habe ich, danke.«
»Schön. Reichen Sie mir doch bitte mal das Päckchen für Mrs. Fossder.« Mit dem Päckchen bewaffnet, ging er an der Lorbeerhecke vorbei, zwischen den Rasenflächen hindurch und klingelte an der Haustür. Ein kleiner Mann mit grauem Schnurrbart ließ ihn eintreten. Es war Fossder, der Rechtsanwalt. Er hatte sich die Jacke über den Arm gehängt und trug seine Schuhe in der Hand.
»Verdammt noch mal, wir hatten Sie schon aufgegeben!«, sagte er. »Kommen Sie herein und trinken Sie etwas. Die anderen sind schon zu Bett gegangen! Hätten Sie nicht um halb elf hier sein sollen, junger Mann? Jetzt ist es Mitternacht! Mitternacht!«
»Ja, das ist richtig, fast Mitternacht, Sir, fürchte ich«, sagte Hugh so demütig wie möglich. »Bitte verzeihen Sie mir. Wir hatten ein wenig Ärger mit dem Automobil, aber jetzt ist es wieder in Ordnung. Doch leider hat uns das ziemlich in Verzug gebracht.«
»Das will ich meinen! Das will ich wohl meinen! Nun, kommen Sie herein, kommen Sie schon herein! Auch wenn ich nicht eine Sekunde, nicht eine einzige Sekunde glaube, dass meine Frau es den Mädchen erlauben wird, jetzt noch zu fahren!«
»O, ich bitte Sie, es ist doch alles schon arrangiert«, protestierte Hugh und folgte seinem Gastgeber ins Esszimmer.
»Das ist ein großes Ärgernis. Ein sehr großes Ärgernis!«, sagte Mr. Fossder zornig. »Ich denke, Sie sollten besser wieder heimfahren! Ja, wirklich, wirklich! Ich bin beschäftigt. Äußerst beschäftigt. Ich muss mich dringend um meine Geschäfte kümmern. Tut mir leid, mein Junge!«
Hugh zog ein bekümmertes Gesicht und sagte unwillkürlich zu früh »Danke«, als Mr. Fossder ihm Whisky einschenkte.
»Aber sehen Sie doch, Sir …«, sagte er. Er stand da, mit dem Glas in der einen und dem in braunes Papier eingeschlagenen Päckchen in der anderen Hand, unschlüssig, wütend und enttäuscht, während Mr. Fossder sich Jacke und Schuhe anzog, das Zimmer verließ, sich seinen Mantel und einen grauen Filzhut von einem Haken in der Diele holte und schließlich wieder ins Esszimmer zurückkehrte.
»Jetzt trinken Sie mal Ihren Whisky aus und fahren brav nach Hause«, sagte Mr. Fossder. Bevor Hugh begriff, was da gerade passiert war, fand er sich zusammen mit seinem Gastgeber draußen vor dem Haus wieder, nachdem sich die Eingangstür hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich muss meine Verabredung einhalten, wissen Sie.«
»Also das schlägt doch dem Fass den Boden aus«, sagte Hugh. Er blickte der kleinen, steifen Gestalt nach und hörte, wie sich das Tor mit einem Klicken schloss. Die Schritte entfernten sich auf der sandigen Straße, entschieden und regelmäßig, wenn auch nicht besonders schnell. Hugh lauschte, bis er sie nicht mehr hören konnte. Unschlüssig drehte er sich wieder dem Haus zu. In zweien der Fenster im ersten Stock brannte Licht. Er ging die Straße hinunter, um sich mit George zu besprechen.
»George«, sagte er. »Ist ein Herr hier vorbeigekommen?«
»Ja, Sir, aber er ging nicht besonders schnell. Er hat im Licht unserer Scheinwerfer auf seine Uhr geschaut, Sir.«
»Also gut, ich muss noch mal zurück, George. Es könnte länger dauern, als ich dachte. Halten Sie sich bereit, schnell loszufahren. Ich werde eine der Damen entführen.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte George. »Ich werde den Motor laufen lassen.«
»Erst möchte ich aber dem alten Herrn noch ein paar Schritte folgen, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich freie Bahn habe. Ich gebe ihm auf jeden Fall erst einmal einen guten Vorsprung. Falls Sie ihn danach wieder hier vorbeikommen hören, drücken Sie doch bitte kurz auf die Hupe. Du liebe Güte! Jetzt erinnere ich mich wieder, ich sollte ihm ja eine Nachricht von Mr. Tombley ausrichten! Gut, dass mir das noch eingefallen ist! Ich muss versuchen, ihn einzuholen!«
»Sehr wohl, Sir. Ich werde auf der Hut sein«, sagte George. Er ließ Hugh vorbeigehen und wendete dann den Wagen. Als Hugh zurückkehrte und sich dem Auto näherte, drückte George plötzlich auf die Hupe. Hugh blieb stehen und rief erschrocken und mit scharfer Stimme: »Aber, aber! Nicht doch!« Dann drückte er zum zweiten Mal das Tor auf und ging den Kiesweg zwischen den beiden in dunklen Schatten liegenden Rasenflächen entlang. Das Haus war größer, als es die bescheidene Auffahrt vermuten ließ. Im Erdgeschoss brannte noch immer kein Licht, aber im ersten Stock war nun ein drittes Fenster erhellt. Das Fenster öffnete sich und eine Mädchenstimme sagte in einem erschreckten Tonfall, der schon fast an Panik grenzte:
»Wer ist da?«
Hugh, der beim Klang der Stimme freudig aufhorchte, erklärte Jenny so leise wie möglich die Situation.
»Wir haben dich um halb elf erwartet«, sagte das Mädchen. Sie lehnte sich weiter aus dem Fenster heraus. »Und jetzt ist es Viertel vor zwölf! Wo warst du so lange, du Wahnsinniger?«
»Es gab Ärger mit dem Wagen«, antwortete Hugh. »Zieh dir ein Kleid an, o holde Maid, und dann lass uns fahren!«
»Was?«, kiekste das Mädchen. »Aber ich bin doch schon seit Stunden im Bett! Und kann unmöglich jetzt mit dir zurückfahren! Außerdem, was würden Tante und Onkel dazu sagen? Ich kann jetzt nicht mit dir fahren, auf gar keinen Fall!«
»Warum nicht? Nun sei doch nicht so dickköpfig! Wo ist Fay?«
»Sie schläft, nehme ich an, du Idiot! Verschwinde! Wir müssen euch eben morgen besuchen kommen.«
»Aber jetzt hör doch mal zu!«, sagte Hugh.
»Also gut, was willst du? Mach rasch. Mir wird allmählich kalt!«
»Komm runter, dann erzähle ich es dir«, sagte Hugh, über dessen freibeuterisches Verhalten Carey ebenso erstaunt wie entzückt gewesen wäre.
»O, na klar!«, sagte Jenny lachend, gab dann aber plötzlich doch nach. »Also gut, warte! Ich komme runter!«
In diesem Augenblick wurde ein zweites der erhellten Fenster geöffnet und die Stimme einer älteren Frau sagte scharf und deutlich:
»Also wirklich, junger Mann! Was glauben Sie denn, was Sie da tun, um diese Uhrzeit! Sie hätten früher da sein sollen!«
»Es tut mir leid, Mrs. Fossder«, sagte Hugh. »Wir hatten ein kleines Problem mit dem Automobil. Es tut mir wirklich ganz entsetzlich leid, aber ich bin gekommen, sobald ich konnte.«
»Ich nehme an, Sie sind meinem Gatten unterwegs nicht begegnet?«
»Nun, doch, in gewisser Weise schon«, sagte Hugh vorsichtig.
»Hatte er seinen Mantel angezogen? Ach, was soll’s, da lässt sich nichts mehr daran ändern. Nun, gut, Sie sollten besser rasch wieder heimfahren. Die Mädchen werden morgen früh vorbeikommen. Ich hoffe, Mr. Lestranges Tante ist tatsächlich bei Ihnen zu Besuch. Er hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie da sein würde. Dieses Vorhaben, dass die Mädchen auf dem Alten Hof übernachten, ist ganz und gar nicht in meinem Sinne. Es gibt nicht das Geringste, was dafürsprechen würde. Irgendwie hat das alles einen Beigeschmack von …«
»Ja, Careys Tante ist bei uns. Aber jetzt hören Sie doch bitte mal, Mrs. Fossder …«
»Machen Sie sich von dannen! Gute Nacht. Frohe Weihnachten. Kommen Sie morgen früh wieder«, sagte Mrs. Fossder, ohne eine weitere Widerrede zu dulden. Sie knallte das Fenster zu, und im nächsten Moment erlosch auch das Licht in ihrem Zimmer. Es folgte eine lange Stille. Hugh ging zu dem Lorbeergebüsch zurück und versteckte sich dort. Nach etwa drei Minuten glitt das helle Licht einer Taschenlampe suchend über die Zweige, hinter denen er kauerte. Er hatte seine Handschuhe angezogen und zudem die Vorsichtsmaßnahme ergriffen, sich die Mütze vors Gesicht zu halten. Nach einer geduldigen und gründlichen Suche wurde die Taschenlampe schließlich ausgeschaltet. Hugh wartete weitere zwei Minuten, rannte dann auf Zehenspitzen über die Rasenfläche zur Eingangstür und stellt sich unter das Vordach. Er rechnete fest damit, dass es Jenny schon irgendwie gelingen würde, nach unten zu kommen und mit ihm zu reden.
Als weitere fünf Minuten vergangen waren, öffnete sich leise die Haustür, und Jenny trat heraus.
»Hugh?«, flüsterte sie. Irgendwo schlug eine Uhr zwölfmal.
»Hier bin ich!«, sagte Hugh. Er trat hervor und küsste sie. Jenny umarmte ihn, küsste ihn aufs Ohr und löste sich dann wieder.
»Ich muss jetzt wirklich zurück«, sagte sie. »Frohe Weihnachten, mein Schatz! Ich sehe dich dann morgen früh. Wir können den alten Bidster aus dem Dorf bitten, uns rüberzufahren. Mach dir nicht die Mühe herzukommen. Ist Careys Tante wirklich da? Mrs. Bradley? Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen! Das geht uns allen so – besonders Maurice! Gute Nacht, Liebster!« Sie küssten sich erneut. Jenny unterdrückte ein Kichern und murmelte dann: »Du solltest über Sandford zurückfahren und schauen, ob du nicht meinen Onkel und den Geist entdecken kannst!«
»Deinen Onkel und den Geist?«, fragte Hugh. »Wie meinst du das? Ist er denn allen Ernstes losgezogen, um den Geist zu sehen?«
»Ja, genau. Mein Onkel und dieser Geraint Tombley jagen den Geist von Sandford.«
»Du liebe Güte!«, sagte Hugh und kicherte leise. »Natürlich! Die Verabredung, die Tombley nicht einhalten konnte.«
»Nicht einhalten konnte? Wie meinst du das? Wird Tombley nicht dort sein? Also das ist ja wirklich ein böser Streich, meinen Onkel dazu zu bringen, ganz umsonst dorthin zu laufen, Hugh! Wie schade! Er ist nämlich ganz verrückt auf das Geld! Und Tombley bekäme die Hälfte der zweihundert Pfund, wenn er ihn als Zeuge begleitete.«
»Komm und setz dich mit mir ins Auto und erzähle mir alles«, sagte Hugh. »Das Ganze scheint mir ein wenig verrückt zu sein!«
»Natürlich ist es verrückt«, sagte Jenny. Sie schlichen wie zwei Katzen zum Tor und gingen dann zum Auto hinüber. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gehört, das auch nur halb so dumm gewesen wäre.«
Hugh half ihr ins Auto, setzte sich neben sie, hüllte sie in eine Decke ein und hielt deren Enden fest, damit sie nicht verrutschte. Jenny schmiegte sich an ihn.
»Der Brief kam vergangenen Dienstag oder Mittwochmorgen. Genauer gesagt war es eher ein Päckchen als ein Brief. Es enthielt zweihundert Pfund in nicht registrierten Schatzwechseln. Und in dem beigefügten Brief hieß es, das Geld sei ein Wetteinsatz, und Tombley und mein Onkel könnten sich es teilen, falls sie nach Sandford gingen, um sich den Geist anzusehen. Und dann waren da noch diese kleinen Wappen …«
»Aber ich bin ihm nachgegangen und habe ihm gesagt, dass Tombley nicht kommen würde. Er hat überhaupt keine Notiz davon genommen, obwohl er mich verstanden haben muss. Man stelle sich nur vor – da verschwindet er heute Nacht einfach so nach Sandford. Das kommt mir wirklich seltsam vor, Wette hin oder her.«
Sämtliche Warnungen, die Mrs. Ditch in den letzten Tagen ausgesprochen hatte, schossen ihm durch den Kopf. Wenn man hinaus in die Stille und die Dunkelheit schaute, kam es einem tatsächlich so vor, als gehörte ein Geist in diese Landschaft. Als wäre er eine reale Möglichkeit und kein Ammenmärchen. Es schauderte ihn, und er steckte seine Hand unter Jennys Arm, die sie daraufhin trostspendend an sich drückte.
»Natürlich ist das Ganze kompletter Unsinn – aber er ist trotzdem losgezogen«, sagte sie. Dann legte sie die Decke wieder an ihren Platz. »Hugh, ich sollte jetzt besser gehen.« Es entstand ein kurzes Schweigen, das Hugh nutzte, um sie zu küssen.
»Ich fürchte, mein armer Onkel wird schrecklich frieren. Und sein Herz ist doch in einem so furchtbaren Zustand, da könnte die Kälte schlimme Auswirkungen haben«, sagte Jenny.
»Aber sie werden sich doch sicher in einem Haus treffen«, meinte Hugh. Er presste Jenny an sich, wickelte erneut die Decke um sie und drückte ihr einen Kuss aufs Kinn. »Du kommst mit«, sagte er. »Mrs. Ditch kann dir ein Nachthemd leihen. Fahren Sie los, George!« Das Auto fuhr dröhnend in die Dunkelheit hinein und bei der Iffley-Abzweigung Richtung Rose Hill hinauf. »Hör mal, vielleicht hast du doch recht. Es ist in der Tat eine ziemlich kalte Nacht. Wir könnten ihn suchen gehen, wenn du möchtest«, sagte Hugh plötzlich.
»O ja, lass uns das tun«, sagte Jenny. »Darf ich durch das Sprechfenster mit deinem Chauffeur reden?« Sie öffnete das Fenster und bat George, den Wagen hinter der nächsten Kurve anzuhalten. »Wir könnten bis zum Fluss runterfahren, den Wagen dort stehen lassen und ihm zu Fuß folgen. Er wird sicher den Treidelpfad entlanglaufen. Das ist bei Weitem der schnellste Weg nach Sandford, weißt du. Und er hat bestimmt die Schleuse überquert.«
»Alles klar«, sagte Hugh und gab die nötigen Anweisungen. George wendete den Wagen, und sie fuhren den Hügel hinunter zurück nach Iffley und dann in langsamem Tempo Richtung Schleuse. Auf der Iffley-Seite befand sich eine Mautstation, und zwar genau an der Stelle, wo früher einmal eine Mühle gestanden hatte. Nach elf Uhr abends wurde keine Maut mehr erhoben, und der Weg war frei, sodass Reisende die Schleuse nach Belieben passieren konnten.
»Hier ist früher mal jemand ertrunken, eine Frau, glaube ich«, sagte Jenny. »Sie hat versucht hinüberzugelangen, als die Schranke geschlossen war. Deswegen lassen sie sie jetzt die ganze Nacht offen. Onkel ist bestimmt hier entlanggekommen, und sein Herz ist so schwach, dass er garantiert sehr langsam gegangen ist. Es sollte mich nicht wundern, wenn wir ihn noch diesseits von Kennington Island einholen würden.«
Sie überquerten die Schleuse, wobei sie zunächst über die Brücke mit den Holzplanken gingen, die sich über den rauschenden Wasserarm spannte, der früher einmal das Mühlrad angetrieben hatte, und dann über den Hauptarm der Themse, wo das Wasser ruhig dahinströmte. Hugh ging voraus und wartete auf Jenny, sobald er das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte. Danach setzten sie ihren Weg Seite an Seite fort, wobei sie in ihrer Hast mehr rannten als gingen, vorbei an großen Feldern, die den schmalen Pfad säumten. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein Wald bis zum Ufer hinunter, und seine Silhouette zeichnete sich düster und drohend vor dem matten Nachthimmel ab.
»Es ist sehr seltsam, hier im Dunkeln entlangzugehen«, sagte Jenny leise. »Hör mal, am besten gehen wir direkt zur nächsten Schleuse und überqueren den Fluss wieder, falls wir ihn vorher nicht einholen. Und wir müssen uns verstecken, wenn wir ihn kommen sehen, und ihm dann folgen, ganz gleich, wo er hingeht. Falls er ein Haus betritt …«
»Ich kenne mich bei Nacht in Sandford nicht aus«, sagte Hugh. »Aber wir geben unser Bestes.«
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob er den Fluss überhaupt überqueren muss«, sagte Jenny.
»Die Straße führt auf der anderen Seite über eine kleine Brücke, dort, wo der Fluss unterhalb von Sandford Pool eine Schleife macht. Dort trifft sie dann auf der Höhe vom Radley Large Wood auf eine größere Straße«, sagte Hugh. »Gut möglich, dass er diesen Weg nimmt.«
»Ich dachte, du kennst dich in Sandford im Dunkeln nicht aus!«
»Ich meine damit, dass ich nicht weiß, welches die Temple Farm ist, und dort treibt doch der Geist sein Unwesen, nicht wahr?«
Während er noch redete, stolperte Jenny und stürzte. Sie stieß einen leisen Schrei aus.
»Ich bin hingefallen! O Hugh!« Sie stand langsam auf, doch im selben Moment stürzte auch Hugh fluchend zu Boden. Während er sich wieder aufrappelte, zog er eine Taschenlampe hervor. Das Hindernis, über das sie gefallen waren, war der Körper von Mr. Fossder.
»Um Himmels willen!«, rief Hugh.
»O Hugh! Der arme Onkel. Sein Herz!«, rief Jenny und begann laut zu weinen.
»Nun warte doch, Jenny, es ist alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung«, sagte Hugh, während er sich auf die Erde kniete und nach Fossders Herz tastete. Aber kein Zweifel, Mr. Fossder war tot. Hugh hob ein wenig die Stimme und sagte in knappem Befehlston:
»Jenny, geh zurück zum Auto und hol George!«
Auf der Heimfahrt saß Jenny vorne. Hugh hatte den Leichnam zum Auto getragen und hielt ihn nun auf dem Rücksitz fest, damit er nicht allzu sehr durchgerüttelt wurde.
George half Hugh, den Toten aus dem Auto zu hieven und über den Weg zwischen den beiden Rasenflächen zur Haustür zu tragen. Ein verängstigter Dienstbote kam zur Tür und rief ihnen durch den Briefschlitz zu:
»Wer ist da, zu dieser Zeit, mitten in der Nacht? Machen Sie, dass Sie fortkommen!« Aber der Dienstbote wurde schon bald von Mrs. Fossder verdrängt, die wach gelegen und darauf gewartet hatte, dass ihr Gatte heimkehrte.
»Es tut mir unendlich leid. Es gab einen Unfall«, sagte Hugh.
»Bringen Sie ihn herein!«, sagte sie. »Was ist passiert? War es sein Herz?« Sie machte einen außerordentlich gefassten Eindruck.
Hugh und George legten den Leichnam auf eines der Sofas im Salon.
»Es tut mir schrecklich leid«, wiederholte Hugh. »Ja, ich fürchte, sein Herz hat versagt. Er muss gerannt sein, vermute ich.«
»Er ist ermordet worden«, sagte Mrs. Fossder.
Er sah sie an, legte dann seinen Arm um ihre Taille und half ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen.
»Brandy, George! In der Anrichte im Nebenzimmer.« Er hatte die Flasche gesehen, als Mr. Fossder vor kaum zwei Stunden den Whisky hervorgeholt hatte.
»Nun?«, sagte Mrs. Bradley, als das Weihnachtsfrühstück vorbei war, und Carey zusammen mit Ditch und Denis losgezogen war, um die Schweine zu füttern. »Dann erzählen Sie mir mal alles schön der Reihe nach.«
Ihre schwarzen Augen leuchteten, und als sie ihre Hand auf die holzgeschnitzte Lehne des Stuhls legte, funkelte der gelbe Topas ihres Rings im Lichtschein des Kaminfeuers wie das Auge einer trägen Katze.
Hugh nickte und schob mit der Fußspitze einen Holzscheit ins Feuer. »Je mehr man über diese Sache nachdenkt, desto übler sieht sie aus, würde ich sagen. Dass Fossder ein schwaches Herz hatte, war kein Geheimnis, beileibe nicht. Das habe ich letzte Nacht von Mrs. Fossder erfahren. Es gab ein wenig Aufregung wegen der Mädchen, und der alte Fossder ist mitten in dieser Auseinandersetzung mit seiner Frau fortgegangen, um die Verabredung mit dem Geist einzuhalten. Wie Sie ja wissen, hat jemand eine ziemlich große Summe gegen Fossder gewettet, dass er es nicht wagen würde, nach Sandford zu gehen und sich den Geist anzuschauen. Dabei durfte er einen Zeugen mitnehmen, und er hat sich für Tombley entschieden. Keine Ahnung, warum. Nun, Fossder ist also losgezogen, und ich bin ihm hinterhergerannt, um ihm Tombleys Nachricht zu überbringen. Dann bin ich zurück zum Haus gegangen, habe Jenny rausgelockt, und wir haben beschlossen, durch Iffley nach Sandford zu laufen, um Fossder abzufangen, weil Jenny befürchtete, dass er in dieser kalten Nacht fürchterlich frieren würde. Und während wir so am Fluss entlanggingen und uns unterhielten, ist die arme Jenny über Fossders Leiche gestolpert. Ich kann mir das nur so erklären, dass jemand ihn über den Treidelpfad gejagt hat, bis er tot umgefallen ist. Das ist alles. Es kommt mir so vor, als wäre da was ziemlich faul. Ich meine, warum sollte Fossder sonst so schnell rennen, dass sein Herz versagt, wenn ihn nicht jemand verfolgt hat?«
Mrs. Ditch betrat den Raum.
»Mr. Simith ist wohlbehalten nach Hause gekommen«, sagte sie. »Mr. Tombley war gerade da und hat diese Nachricht hinterlassen. Er fragt, ob Sie vielleicht rüberkommen möchten.«
»Weiß man mittlerweile, was eigentlich passiert ist?«, fragte Hugh.
»Nichts, hat Mr. Tombley behauptet«, antwortete Mrs. Ditch. »Er war losgegangen, um sich …«
»Um sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen?«, fragte Hugh kichernd.
»Nein, Master Hugh. Um sich einen Eber anzusehen.«
»Aber sie haben doch schon einen Eber. Genauer gesagt haben sie sogar zwei, wenn ich mich nicht irre. Einer ist ein wilder, der schon fast neun Jahre alt ist und nicht mehr besonders viel taugt, und der andere ist ein munteres junges Kerlchen von etwa zwei Jahren. Wollen die beiden den alten Nero denn ersetzen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Mrs. Ditch. »Er hat nur gesagt, ich soll Ihnen diese Nachricht ausrichten und Frohe Weihnachten wünschen!«
»Interessant«, sagte Mrs. Bradley abwesend. Sie stand auf und sammelte ihre Sachen zusammen – ein Buch, ihr Strickzeug und einen Füllfederhalter. »Erzählen Sie mir, was es mit diesen zweihundert Pfund auf sich hat«, sagte sie, als Mrs. Ditch wieder gegangen war.
»Die Geschichte ist ziemlich unglaublich, soweit ich das beurteilen kann. Aber ich werde versuchen, heute Nachmittag so viel wie möglich von Mrs. Fossder herauszufinden.«
»Ja, tun Sie das.« Mrs. Bradley nahm die Handglocke, die sie immer benutzte, um Mrs. Ditch herbeizurufen, und läutete sie energisch. Doch statt Mrs. Ditch erschien ihr Sohn Walt in Hemdsärmeln und grinste schüchtern.
»Meine Mutter schiebt gerade den Kapaun in den Ofen und lässt fragen, ob ich Ihnen vielleicht diesmal genüge?«
»Das tun Sie«, sagte Mrs. Bradley. »Zu welcher Uhrzeit ist Mr. Simith heimgekehrt?«
»Gestern Nacht, meinen Sie, Ma’am? Mr. Tombley sagte, es sei um halb drei Uhr morgens gewesen. Er und ein paar Freunde waren drüben in Witney, heißt es, weil sie dachten, sie könnten dort vielleicht einen Eber kaufen. Etwas Unwahrscheinlicheres habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört, und ausgerechnet am Heiligen Abend. Also so was!«
Der junge Walt schien sich über die Sache zu amüsieren. Mrs. Bradley betrachtete ihn prüfend. Er schien ein intelligenter junger Mann zu sein.
»Walt«, sagte sie. »Glauben Sie, dass Mr. Simith tatsächlich nach Witney gegangen ist?«
»Keine Ahnung. Das ist ziemlich nah bei Bampton. Und er kommt ja aus Bampton.«
»Wissen Sie, ob er Mr. Fossder kannte, der drüben in Iffley wohnt?«
»Fossder, den Rechtsanwalt? Natürlich kannte er den. Der alte Fossder hat doch nach ihm geschickt, damit er sein Testament bezeugt. Jedenfalls hat das unsere Linda erzählt.«
»Wie haben sich denn die beiden verstanden?«
»Die verstanden sich überhaupt nicht.« Walt lachte. »Obwohl ich das auch nur weiß, weil unsere Linda das erzählt hat. Die hassen sich und schenken sich gleichzeitig großes Vertrauen. Sieht man immer wieder, solche alten Kerle.«
»Ach ja? Danke, Walt. Um wie viel Uhr wird das Essen serviert, wissen Sie das?«
»Mutter sagt, um Viertel nach eins.«
»Dann werde ich jetzt mal einen kleinen Spaziergang machen«, sagte Mrs. Bradley. Sie ließ Hugh allein auf dem Sofa zurück, mit einem Buch auf der Brust, das er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, während ihm ganz sanft die Augen zufielen. Mrs. Bradley machte sich auf die Suche nach Denis und fand ihn vor Herewards Koben. Dort stand er und starrte den vor sich hin kauenden Eber an, der kampflustig zurückstarrte.
»Glaubst du, dass die Menschen sich in Tiere verwandeln, wenn sie sterben?«, fragte Denis, als sie sich neben ihn stellte.
»Nein, mein Schatz«, antwortete Mrs. Bradley, während sie Hereward wohlwollend betrachtete. »Das glaube ich ganz bestimmt nicht. Magst du vor dem Essen einen kleinen Spaziergang mit mir machen?«
»Klar«, antwortete Denis. Es war ein bewölkter Vormittag, aber es regnete nicht. Mrs. Bradley schaute zum Himmel hinauf und sagte dann:
»Geh und hol dir einen Mantel, mein Kind. Es ist kalt, und es wird bald schneien.«
Denis rannte ins Haus und kehrte gleich darauf mit seinem Mantel zurück, den er sich im Laufen überzog. Die Mütze saß bereits auf seinem Kopf. Mrs. Bradley nahm seine Aufmachung befriedigt zur Kenntnis, und so zogen sie los, den Feldweg entlang und dann die Straße hinauf.
»Wo gehen wir hin?«, fragte Denis.
»Hier entlang«, antwortete Mrs. Bradley. Sie verließen das Dorf und stapften den Hügel hinunter in Richtung des Stanton Great Wood. Die Straße näherte sich dem Wald bis auf hundert Meter, und von dort aus führte ein Fußweg am Rand von Simiths Ländereien entlang.
»Schau zu Simiths Farm hinüber«, sagte Mrs. Bradley. »Und wenn du jemanden siehst, dann winke. Deine Augen sind jünger als meine.«
Aber schärfer waren sie nicht, denn als Denis unsicher die Hand hob, winkte Mrs. Bradley bereits.
»Waren sie das? Ich war mir nicht ganz sicher«, sagte Denis. Eine Gestalt richtete sich auf und winkte zurück.
»Komm«, sagte Mrs. Bradley. »Das ist Mr. Tombley.« Sie verließen den Fußweg und gingen quer über das angrenzende Feld. Tombley kam ihnen entgegen. »Frohe Weihnachten«, sagte er. »Wissen Sie, ob Lestrange die Nachricht über meinen Onkel bekommen hat?«
»O ja. Oder vielmehr, Hugh und ich haben die Nachricht erhalten. Ich bin froh, dass Ihr Onkel wohlbehalten heimgekehrt ist«, sagte Mrs. Bradley. »Haben Sie schon gehört, dass Mr. Fossder tot ist? Ich glaube, Sie kannten ihn, nicht wahr?«
»Fossder? Tot? Aber … wie um alles in der Welt ist das passiert? Ich habe erst neulich einen Brief von ihm bekommen.«
»Ging es darin um den Geist von Sandford?«
»Aber ja! Woher wussten Sie das?«
»Hugh hat mir von der Wette erzählt. Und Sie selbst haben sie auch erwähnt.«
»O, habe ich das? Sehr geheimnisvoll, meinen Sie nicht?«
»Ja, in der Tat, sehr geheimnisvoll«, sagte Mrs. Bradley. Sie schwieg einen Moment. »Letzte Nacht ist Mr. Fossder allein nach Sandford gegangen. Auf dem Weg wurde er von einer oder mehreren Personen gejagt und musste rennen, was zur Folge hatte, dass er zusammenbrach und starb.«
»Um Himmels willen! Wie furchtbar! Wo genau ist das passiert? Er ist gar nicht bis Sandford gekommen, sagen Sie? Sie glauben doch nicht … also wirklich! Das ist ja furchtbar!« Tombley schien ehrlich bestürzt zu sein. »Wie furchtbar!«, wiederholte er.
»Das ist es in der Tat«, sagte Mrs. Bradley. »Der Geist muss unbedingt gefunden werden.«
»Das will ich meinen! Aber es kommt einem alles so ungewöhnlich vor. Ist Hugh eigentlich noch nach Iffley gefahren? Wenn er das getan hat, dann bedeutet das, dass er Fossder meine Nachricht überbracht hat! Hugh sollte ihm doch mitteilen, dass ich nicht würde kommen können, wegen meines Onkels, wissen Sie noch? Aber hat Hugh nicht gesagt, dass das Auto nicht fahrtüchtig sei …«
»Mein Chauffeur und Ditch haben es am Ende doch noch reparieren können, und Hugh ist sehr spät noch losgefahren. Er hat erzählt, er sei hinter Mr. Fossder hergelaufen, um ihm Ihre Nachricht zu überbringen, aber anscheinend hat ihn das nicht von seinem Plan abgebracht. Wie sah eigentlich die Vereinbarung zwischen Ihnen und Mr. Fossder genau aus?«
»Wir wollten uns bei der Schleuse treffen, den Fluss überqueren und über den Treidelpfad nach Sandford laufen.«
»Sind Sie sicher, dass Sie das verabredet hatten?«
»Absolut sicher. Zehn vor zwölf war die ausgemachte Zeit.«
»Ah«, sagte Mrs. Bradley. Sie klang befriedigt. »War Fossder ein nervöser Mensch, Mr. Tombley?«
»Rechtsanwälte sind für gewöhnlich nicht nervös. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt! Ich habe dem Pastor versprochen, dass ich in den Gottesdienst komme.«
»Haben Sie Ihr Weihnachtsessen schon auf dem Herd?«, fragte Denis unvermittelt.
»O ja. Mrs. Parsons ist bei uns. Wir werden schon klarkommen. Auch wenn das mit Linda natürlich sehr ärgerlich ist. Nichts ist mehr so, wie es früher war!«, sagte Tombley, wenn auch eher freundlich als übellaunig.
Da Mrs. Bradley im Moment keine passende Antwort dazu einfiel – zumindest keine, die für Denis’ Ohren geeignet gewesen wäre –, drehte sie sich um und ging zum Fußweg zurück. Der Junge lief neben ihr her, und sie waren rechtzeitig zum Weihnachtsessen wieder daheim. Hugh kam kurz nach ihnen zu Tisch.
»Und, genug geschlafen?«, fragte Mrs. Bradley lächelnd. Hugh senkte den Blick und fing dann an zu lachen.
»Geschlafen? Ach so, ja, danke. Ich habe es mir dann aber doch anders überlegt und einen Spaziergang unternommen. Ich denke, ich sollte heute Nachmittag wohl wirklich besser nach Iffley fahren«, fügte er hinzu. »Schließlich wäre der alte Knabe ein Verwandter von mir geworden, wenn er bis zu meiner Hochzeit überlebt hätte.«
Mrs. Bradley wirkte interessiert. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mitkäme?«, fragte sie, bevor jemand anderes etwas sagen konnte. »Natürlich nicht mit ins Haus, sondern nur bis nach Iffley. Ich denke, eine kleine Ausfahrt täte mir gut.«
»Darf ich auch mitkommen?«, fragte Denis. Mrs. Bradley warf Carey einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Ich hatte eigentlich gehofft, Scab würde mit mir Tischtennis spielen«, sagte er daraufhin. Also blieb der stets entgegenkommende Denis zurück, während Mrs. Bradley und Hugh zusammen im Auto fortfuhren. Mrs. Bradley setzte sich selbst ans Steuer. Sie hatte eine Generalstabskarte mitgenommen, und während Hugh Mrs. Fossder besuchte, fuhr sie mit dem Wagen durch die Gegend. Die Route, die sie nahm, zweigte bei Littlemore ab, überquerte die Hauptstraße unterhalb von Cowley, machte einen kleinen Bogen über Garsington und führte am Coombe Wood vorbei nach Wheatley. Dort traf sie wieder auf die Hauptstraße, folgte dieser bis nach Hill House, durch Forest Hill hindurch und dann noch ein oder zwei Meilen Richtung Norden zurück nach Stanton St John. Anschließend fuhr Mrs. Bradley auf direktem Weg bis nach Headington Quarry und von dort aus zurück nach Iffley. Sie ließ den Wagen vor dem Wirtshaus stehen und machte einen kurzen Spaziergang den Treidelpfad entlang. Es gab keinerlei Hinweise darauf, wo Fossders Leiche gelegen hatte. Als sie dann zum Haus zurückkehrte, verbrachte sie einige Augenblicke damit, das Kreuz auf dem Tor zu betrachten.