Hugh wartete bereits auf sie.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit ins Haus zu kommen und sich mit Mrs. Fossder zu unterhalten?«, fragte er. »Sie ist natürlich niedergeschlagen, aber es … sie ist mächtig tapfer. Ziemlich gefasst. Obwohl, um ehrlich zu sein, ist sie wahnsinnig wütend. Sie gibt Simith die Schuld an dem Ganzen. Nun, es ist ja wirklich etwas merkwürdig, oder nicht?«
»Durchaus«, sagte Mrs. Bradley.
»Wo führt der hin, dort, auf der anderen Seite des Hauses?«, fragte sie, während sie einen Moment am Tor stehen blieben. Sie deutete mit der Hand auf den kleinen Weg, der um das Gebäude herumführte.
»Das ist eine Abkürzung zum Fluss hinunter«, antwortete Hugh. »Der untere Abschnitt des Wegs ist im Frühling immer überflutet und momentan fürchterlich versumpft. Ich glaube nicht, dass Fossder in diese Richtung … Nein, natürlich hat er das nicht getan. Er ist ja am Auto vorbeigekommen und muss den Fluss bei der Mühle überquert haben – beziehungsweise dort, wo früher einmal die Mühle stand. Diesen Weg haben Jenny und ich ebenfalls genommen, als wir ihm später gefolgt sind.«
Sie gingen zum Haus, und Jenny, die sie aus einem der Fenster hatte kommen sehen, öffnete ihnen die Tür, bevor sie klingeln konnten.
Mrs. Fossder war blass und sah sehr unwohl aus. Ihre Stimme jedoch klang ebenso kräftig und entschlossen wie in der Nacht zuvor, als sie Hugh fortgeschickt hatte.
»Mein Gatte ist ermordet worden«, sagte sie.
»Nun, es war zumindest Totschlag«, sagte Mrs. Bradley forsch. »Was haben Sie gegen Mr. Simith, den Nachbarn meines Neffen Carey?«
»Die beiden haben sich nie verstanden. Edmund hat einen Fall verloren, bei dem er Simith vertreten hat, und Simith hat ihm das nie verziehen. Er wusste, dass Edmund ein schwaches Herz hatte – das wusste jeder, er litt schon seit Jahren darunter und musste immer vorsichtig sein. Er fuhr deswegen auch nie Auto, weil er ja einen Anfall hätte haben können, während er am Steuer saß.«
»Wissen Sie, warum Ihrem Gatten so sehr daran gelegen war, die Verabredung mit Mr. Tombley einzuhalten?«
»Ja. Das war wegen so einer absurden Wette, bei der es um den Geist von Sandford ging. Dort sollte er Geraint Tombley treffen. Falls die beiden hingingen, würden sie sich die Summe von zweihundert Pfund teilen können. Der arme Junge! Er hat es so schwer mit diesem bösartigen alten Mann.«
»Sie hegen also Tombley gegenüber nicht dieselben Gefühle wie gegenüber Simith?«, fragte Mrs. Bradley. Mrs. Fossder riss die Augen auf.
»Du liebe Güte, nein! Das ist ein himmelweiter Unterschied! Simith ist eine gemeine, niederträchtige, gewöhnliche Person. Tombley ist ein Gentleman. Aber weil er Simiths Neffe ist, wollte mein Gatte nicht seine Zustimmung zu dessen Verlobung mit Fay geben, obwohl sie es selbst gewollt hätte.«
»Es scheint mir doch sehr viel wahrscheinlicher«, sagte Mrs. Bradley unverhohlen, »dass jemand in Tombleys Alter Ihren Mann den Treidelpfad entlanggejagt hat – falls dies überhaupt jemand getan hat.«
»Sie kennen Simith offenbar nicht«, entgegnete Mrs. Fossder. »Er hat mehr als einmal versucht, seinen eigenen Neffen zu ermorden. Er ist ein fürchterlich rachsüchtiger alter Mann und hat auch in anderer Hinsicht einen überaus schlechten Ruf.«
Mrs. Bradley dachte an die Auseinandersetzung zwischen Onkel und Neffe, deren Zeugen sie und George bei ihrer Ankunft in Stanton St John geworden waren. Da war tatsächlich Simith der Angreifer gewesen. Tombley hatte mit seinem Eimer wenig mehr getan als sich zu verteidigen.
Sie nickte.
»Dürfte ich den Brief sehen, den Ihr Gatte aus Reading erhielt? Ich habe gehört, er sei anonym gewesen«, sagte sie. Mrs. Fossder verließ den Raum. »Ich kann nicht glauben, dass es Simith war«, flüsterte Mrs. Bradley. Hugh verzog das Gesicht.
»Mir ist das alles schleierhaft«, erwiderte er. »Und ich sage Ihnen noch was …«
Aber bevor er das tun konnte, war Mrs. Fossder bereits zurück.
Mrs. Bradley las den Brief. Außer den Bedingungen der Wette und dem Vorschlag, dass Fossder und sein Zeuge sich nach Mitternacht an der Kirche von Sandford treffen sollten, stand nichts darin. Mrs. Bradley schaute auf ihre Karte. Die Kirche lag am nördlichen Ende einer kleinen Straße, die von der Hauptstraße zum Stauwehr und zur Papiermühle führte.
»Es kam noch eine weitere anonyme Nachricht – mit kleinen Wappensymbolen«, sagte Mrs. Fossder. »Sie haben bestimmt das Kreuz auf dem Tor bemerkt.« Sie hielt Mrs. Bradley einen zweiten Umschlag entgegen. Auf den Papierbogen, der sich darin befand, hatte jemand mit Bleistift zwei Wappen gezeichnet, von denen das eine ein Kreuz trug und das andere ein rautenförmiges Gittermuster.
»Ein Kreuz und ein Gitter«, sagte Mrs. Fossder. »Nur, das Kreuz ist nicht das christliche Symbol!«
»O doch, ich denke schon«, sagte Mrs. Bradley. »Es ist ein heraldisches Kreuz, von der Sorte, die man, wie ich glaube, als Tatzenkreuz bezeichnet. Aber was Mr. Simith angeht …«
»Hugh hat uns erzählt, dass Simith letzte Nacht nicht zu Hause war«, sagte Mrs. Fossder. Sie biss sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. »Mrs. Bradley, ich weiß, dass er etwas mit dem Tod meines armen Edmund zu tun hat. Ich bin mir sicher, dass er dort war. Hugh hat erzählt, er sei erst um halb drei Uhr morgens heimgekehrt. Ist das nicht ein unumstößlicher Beweis?«
»Nun, ich fürchte, nein«, sagte Mrs. Bradley. »Aber tatsächlich möchte ich einmal ein paar Uhrzeiten überprüfen. Also, Jenny, fangen wir mit Ihnen an.«
Jenny rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her, sah Mrs. Bradley an und sagte dann unsicher:
»Es schlug gerade zwölf Uhr, als ich Hugh im Garten traf.«
»Erzählen Sie weiter«, sagte Mrs. Bradley.
»Wir haben uns ein bisschen unterhalten, und dann sind wir ins Auto gestiegen. Der Chauffeur ist losgefahren, und diesseits von Rose Hill haben wir für ein oder zwei Minuten haltgemacht – also auf der Steigung, dort, wo man vom Dorf aus abbiegt, um nach Littlemore zu fahren.«
»Was meint ihr?«, sagte Hugh. »Könnte es nicht sein, dass sich da irgendein Wahnsinniger einen Scherz erlaubt hat? Oder sich selbst für den Geist von Sandford hält?«
»Das ist wohl das Unwahrscheinlichste, das man sich nur vorstellen kann«, sagte Mrs. Fossder. »Geisteskranke halten sich nie für vollkommen unbekannte Leute wie diesen George Napper, der ein harmloser, freundlicher Priester war. Sie halten sich für jemanden, den alle Welt kennt – Weltengestalter, oder vielmehr Weltenzerstörer. Es sind immer Menschen mit Macht und Einfluss. Sie halten sich zwar oft für Märtyrer, aber nicht für die Art von Märtyrer, die später nur in den Legenden kleiner Dorfgemeinden vorkommen. Dennoch – die entsprechenden Institute werden uns sicher mitteilen, ob sämtliche, ihnen anvertraute Personen letzte Nacht nachweisbar auf ihren Zimmern waren. Mein Gatte interessierte sich für Geisteskranke und hatte ziemliche Angst vor ihnen«, fügte sie hinzu. »Ich finde, dieses Interesse hatte selbst etwas Krankhaftes. Gelegentlich ging er sogar auf Besuch in die Irrenanstalt. Wir haben mit einem der Ärzte dort Bekanntschaft geschlossen. Er kam ab und zu zum Tee vorbei. Armer Mann! Er ist letztes Jahr gestorben. Er war wirklich ein sehr netter Mensch und hatte viel Interessantes über seine Arbeit zu berichten.«
Mrs. Bradley sah Jenny an.
»Dann hat Ihr Chauffeur George das Auto gewendet, und wir sind zur Schleuse gefahren. Wir haben den Fluss überquert und sind Richtung Sandford gelaufen. Wir waren nicht besonders weit gekommen, als ich … als ich über ihn gestolpert bin.«
»In welche Richtung zeigte sein Kopf?«, fragte Mrs. Bradley. Die Antwort musste Hugh übernehmen, denn Jenny wurde von ihren Gefühlen übermannt.
»Er lag mit dem Gesicht nach unten, der Kopf zeigte zur Folly Bridge.«
»Aber das sieht doch ganz so aus, als wäre er von Sandford zurückgekommen und nicht auf dem Weg dorthin!«, rief Mrs. Fossder.
»Wir müssen versuchen, den Geist aufzuspüren, falls es tatsächlich einen gegeben haben sollte«, sagte Mrs. Bradley.
»Mrs. Bradley«, sagte Mrs. Fossder und sah ihr dabei direkt ins Gesicht. »Ich habe gehört, Sie seien eine sehr kluge Frau. Sie treten dieser abscheulichen Geschichte mit großer Unvoreingenommenheit entgegen. Würden Sie mir eine Frage beantworten?«
»Gerne«, sagte Mrs. Bradley ernst. »Ich glaube, dass Ihr Gatte vorsätzlich ermordet wurde. Ich habe durchaus nicht vor, das abzustreiten.«
»Woher wussten Sie, was meine Tante Sie fragen wollte?«, fragte Jenny, als sie an der Haustür standen.
»Das war offensichtlich, mein Kind. Aber wie ich es wissen konnte, kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sollten wir dann nicht vielleicht besser die Polizei hinzuziehen?«
»In dieser Hinsicht kann ich Ihnen keinen Rat erteilen, mein Kind. Was hat denn Ihr Arzt gesagt?«
»Er hat bereits den Totenschein ausgestellt. Er meinte, es habe stets die Gefahr bestanden, dass mein Onkel wegen irgendeiner Überanstrengung oder wegen eines plötzlichen Schocks tot umfallen würde. Deshalb wird es auch keine gerichtliche Untersuchung geben.«
»Dann, fürchte ich, handelt es sich zu diesem Zeitpunkt eher nicht um einen Fall für die Polizei. Ein gefährlicher Streich, das wäre wohl das Einzige, was man geltend machen könnte, selbst wenn es Ihnen gelänge, denjenigen zu finden, der für diesen Streich verantwortlich ist. Und wenn ich Ihre Tante richtig verstehe, dann möchte sie jemanden dafür hängen sehen. So wie der arme George Napper«, fügte sie noch hinzu.
»Ich glaube, er wurde nur gestreckt und gevierteilt«, sagte Hugh. Mrs. Bradley sah ihn an und erschauderte.
»Übrigens«, sagte sie dann. »War Mr. Fossder taub?«
»Taub? Nein, nicht im Geringsten«, antwortete Jenny.
»Er hatte ein sehr scharfes Gehör«, sagte sie später zu Hugh, als sie sich voneinander verabschiedeten, bevor er sich zu Mrs. Bradley ins Auto setzte. »Careys Tante scheint sich mehr über die Dummheit dieses Verbrechens aufzuregen als über dessen moralische Verwerflichkeit.«
»Mir kommt es nicht besonders dumm vor«, sagte Hugh. »Ich für meinen Teil würde es eher als ziemlich ausgeklügelt bezeichnen. Übrigens, Mrs. Fossder scheint die Sache ganz gut zu verkraften. Das hat mich ziemlich überrascht.«
»Hugh, was glaubst du, wer es war?«, fragte Jenny nach einem kurzen Schweigen.
»Ich würde ohne lange nachzudenken auf Tombley setzen«, antwortete Hugh. »Wenn ich nur beweisen könnte, dass er zwischen halb elf Uhr abends und ein Uhr morgens letzte Nacht nicht in Roman Ending war. Aber weißt du, um das beweisen zu können …«
»Müsste es Ihnen gelingen, Tombley und Simith getrennt voneinander zu befragen, und vielleicht auch Priest, den Gehilfen«, sagte Mrs. Bradley, die den Kopf aus dem Autofenster gesteckt hatte und sie angrinste wie eine Seeschlange. »Gehen Sie zurück ins Haus, mein Kind, sonst erkälten Sie sich noch.« Jenny gehorchte und winkte ihnen nach, bis das Lorbeergebüsch ihre Gestalt verdeckte. »Ich nehme an«, sagte Mrs. Bradley dann, »Ihr Argument für eine Schuld Tombleys lautet, dass er trotz der Nachricht, die er Sie zu überbringen bat, die Verabredung eingehalten haben könnte – wenn auch nicht gerade auf eine akzeptable Art und Weise, aus der Perspektive des armen Mr. Fossder betrachtet.«
»Genau«, antwortete Hugh ernst. »Die arme kleine Fay!«
»Ich mag Ihre Verlobte«, sagte Mrs. Bradley freundlich. »Irgendwann mal muss ich auch ihre Schwester kennenlernen.«
»Na ja, eigentlich ist sie gar nicht ihre Schwester«, sagte Hugh. »Aber die Fossders behandeln beide vollkommen gleich. Wen Sie meines Erachtens aber auf jeden Fall kennenlernen müssen, ist Pratt.«
»Den habe ich doch schon kennengelernt«, sagte Mrs. Bradley. Hugh nickte und lachte.
»Aber nicht in seiner ganzen Pracht«, bemerkte er.
»Nun, das war ja mal ein sehr seltsamer erster Weihnachtsfeiertag«, sagte Carey, als sie sich um sechs zum Tee an den Tisch setzten. Denis nahm sich eine Selleriestange.
»Mehr will ich gar nicht«, sagte er und biss mit feierlichem Ernst ein Stück davon ab. »Ich habe keinen großen Appetit.«
»Den sparst du dir wohl fürs Abendessen auf, was, Scab?«, meinte Hugh.
»Er hat den ganzen Nachmittag irgendwelches Zeug in sich hineingestopft«, sagte Carey. »Kinder sind abscheulich, wirklich abscheulich!« Er boxte Denis sanft in die Rippen, der wand sich kurz und biss dann noch einmal in seine Selleriestange.
»Und was habt ihr beide so gemacht?«, fragte er und hörte einen Moment mit dem Kauen auf, um sie anzustarren.
»Wir haben Mrs. Fossder besucht«, antwortete Hugh.
»Ich habe heute Nachmittag dem alten Simith davon erzählt«, sagte Denis. »Er war total überrascht. Er meinte, er hätte noch nie an Geister geglaubt und dass ich ihn auf den Arm nehmen würde. Also habe ich gesagt: ›Na, das müssten Sie doch besser wissen! Wo waren Sie denn letzte Nacht, Mr. Simith? Das würden wir ganz gerne herausfinden.‹ Das kam nicht besonders gut bei ihm an. Er ist schrecklich rot im Gesicht geworden und hat mich mit seinen grässlichen blauen Augen angestarrt. Dann hat er mir einen fiesen Hieb mit seinem Stock verpasst und mir dieses Schimpfwort an den Kopf geworfen, das sie hier in der Gegend benutzen, wenn sie jemanden beschreiben wollen, der …« Er warf Mrs. Bradley einen kurzen Blick zu und formulierte es dann rasch ein wenig anders. »Sich gern in die Angelegenheiten anderer Leute einmischt. Ich habe mich dann natürlich so schnell ich konnte davongemacht, und Tombley stand in der Nähe und hat sich kaputtgelacht, dieser dumme Tölpel. O, und ich habe drei graue Pferde gesehen … Falls der Geist seine Kutsche benutzt hat, versteht ihr?«
Er legte seine Selleriestange auf den Tisch, zog ein Blatt Papier aus der Tasche und breitete es auf dem Tisch aus. Er genoss, mit welch schmeichelhaftem und geradezu atemlosem Interesse man seiner Erzählung lauschte. Es geschah nur äußerst selten, dass er von seinen Verwandten ernst genommen wurde. Erst beugte sich Hugh über das Papier, dann Mrs. Bradley. In einer groben, aber bemerkenswert gut ausgeführten Skizze der Gegend waren die drei Pferde mit Fragezeichen gekennzeichnet. Eins davon war auf Simiths Farm.
»Großartig!«, sagte Mrs. Bradley.
»Und gleich drei!«, sagte Hugh.
»Man braucht nichts weiter zu tun«, sagte Denis eifrig, »als sie durchs Hoftor hinauszuführen.«
»Aber nachts stehen sie doch bestimmt im Stall?«
»Ich denke, der Geist würde mindestens eines der Pferde noch am Tag aus dem Stall holen, meinst du nicht, Tante Bradley? Ich habe Priest gefragt, wie er darüber denkt, und er hat gesagt, er würde es so machen.«
Mrs. Bradley fing über den gesenkten Kopf des Jungen hinweg Hughs Blick auf. Hugh hob die Augenbrauen. Mrs. Bradley nickte.
»Er hat sehr gute Arbeit geleistet«, sagte Hugh.
»Taugt es was? Wirklich?«, fragte Denis.
»Das ist unglaublich hilfreich«, antwortete Mrs. Bradley. »Darf ich die Skizze behalten, bitte?«
Sie nahm sie sogleich an sich, und Denis beschäftigte sich wieder mit seiner Selleriestange. Später schaffte er dann aber doch noch zwei Stück Weihnachtstorte und ein halbes Dutzend Schokoladenkekse.
»Schon besser, Scab«, sagte Carey. »Ich will dich ja schließlich nicht vollkommen abgemagert nach Hause schicken.« Denis lächelte höflich und ging zusammen mit Carey in die Galerie im ersten Stock, um Darts zu spielen. Hugh zündete sich eine Zigarre an, und nachdem Mrs. Ditch den Tisch abgeräumt und den Raum verlassen hatte, sagte er zu Mrs. Bradley:
»Nicht wirklich hilfreich, oder? Aber der kleine Teufel ist beileibe nicht auf den Kopf gefallen.«
»Ja«, sagte Mrs. Bradley. »Und es ist durchaus interessant, dass Simith ein graues Pferd besitzt. Er hat letzte Nacht zweifellos etwas Ungewöhnliches, um nicht zu sagen, etwas Gesetzwidriges unternommen. Und Priest hat für keinen seiner beiden Arbeitgeber besonders viel übrig, würde ich meinen.«
»Eins hat Scab auf jeden Fall bewiesen: Es scheint keinen Mangel an grauen Pferden zu geben und … das mit der Kutsche ist natürlich absurd, aber wenn der Kerl geritten ist …«
»Das stimmt.« Mrs. Bradley sah nachdenklich aus. »Ist Ihnen heute bei den Fossders irgendetwas aufgefallen?«
»Nichts Bestimmtes, nein. Mrs. Fossder ist eine sehr mutige Frau, finde ich.«
»Oder eine sehr rachsüchtige«, sagte Mrs. Bradley. »Übrigens, es gibt da etwas, was Sie für mich tun könnten.«
»Ich persönlich?«
»Niemand sonst. Ich möchte, dass Sie von Jenny herausfinden, was in Fossders Testament steht, sobald es verlesen worden ist.«
»O, Sie meinen, es könnte ein Motiv für das Verbrechen liefern?«
»Das meine ich in der Tat. Obwohl …« Sie runzelte leicht die Stirn.
»Was denn?«, fragte Hugh. »Im Übrigen kann ich Ihnen jetzt schon sagen, was im Testament steht, es sei denn, es wäre kürzlich geändert worden.«
»Ob Fossder wirklich sterben sollte?«, sagte Mrs. Bradley sinnierend und mehr zu sich selbst.
»Sie meinen, es war vielleicht doch kein Mord, sondern einfach nur ein Scherz mit unvorhergesehenen Folgen? Das ist sehr viel wahrscheinlicher, wissen Sie. Und in diesem Fall kann man dann selbstverständlich diejenigen nicht mehr verdächtigen, denen bekannt war, dass er ein schwaches Herz hatte. Diese Personen würden ihm dann nämlich eher keine Streiche spielen.«
»Ich wünschte«, sagte Mrs. Bradley, während sie zu stricken begann, »ich hätte irgendeinen Vorwand, um Fossders Herz zu untersuchen.«
»Das würde eine Obduktion erfordern, und der Arzt hat ja bereits den Totenschein ausgestellt.«
»Exakt. Was für ein Glück für den Mörder …«
»Falls es Mord war!«
»Was, wenn jemand das Ganze gesehen hätte?«
»Unmöglich. Es war stockdunkel.«
»Oder etwas gehört hat.«
»Könnte man dadurch irgendetwas beweisen?«
»Natürlich könnte man das. Warum nicht?« Sie grinste ihn boshaft an. »Es sind schon Leute aufgrund sehr viel fadenscheinigerer Beweise gehängt worden.«
»Das stimmt vermutlich. Ich würde sagen, wir sollten die Leute in Roman Ending befragen und herausfinden, was sie letzte Nacht getan haben. Simith und Tombley waren beide zu bestimmten Zeiten nicht zu Hause. So viel steht fest. Tombley ist sogar hierhergekommen und wollte wissen, wie die Dinge stehen, was meine Fahrt nach Iffley angeht. Gut möglich, dass es Tombley war, der das Auto beschädigt hat. Ich schlage vor, wir gehen alle zusammen rüber, so als wollten wir sie besuchen. Ihr Chauffeur soll sich ein Weilchen den Gehilfen zur Brust nehmen, Carey und ich könnten Onkel und Neffe voneinander trennen und Sie die Runde machen und Ihre Fragen stellen.«
»Das müssen wir auf morgen verschieben. Wir können sie unmöglich am ersten Weihnachtsfeiertag noch einmal stören, dafür haben wir nicht den geringsten Vorwand. Denis und ich sind heute früh über ihre Ländereien gelaufen, und Denis war heute Nachmittag noch einmal alleine dort. Wir müssen wirklich bis morgen warten, denke ich.«
»Also gut«, sagte Hugh. »Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Wissen Sie, einen Moment lang habe ich mich gefragt, ob Mrs. Fossder ihren Mann selbst umgebracht hat, aber man möchte so etwas natürlich lieber nicht unterstellen, ohne irgendwelche definitiven Hinweise in der Hand zu haben.«
Mrs. Bradley zuckte mit den Schultern.
»Ehefrauen töten ihre Ehemänner – das kommt durchaus vor«, sagte sie. »Und Ehemänner töten ihre Ehefrauen. Aber erzählen Sie mir doch erst einmal, was in dem Testament steht.«
»Kurz gesagt: Pratt bekommt die Anwaltspraxis – er war Fossders Partner, müssen Sie wissen. Und die drei Frauen bekommen das Geld, zu gleichen Teilen, glaube ich. Ich weiß nicht, wie groß die Summe ist, aber ich würde sagen, es ist herzlich wenig.«
»Aha«, sagte Mrs. Bradley. »Das ist sehr interessant. Wenn also Geraint Tombley dringend ein paar hundert Pfund braucht, dann müsste er nur – nachdem er Mr. Fossder zu Tode erschreckt hat – Fay heiraten und hoffen, dass sie gewillt ist, ihm das Geld zu überlassen.«
»Schon, aber ich glaube nicht, dass die Summe hoch genug ist, um das zu rechtfertigen«, wandte Hugh ein. »Ein Provinzanwalt kann unmöglich so viel zu vererben haben, und der alte Fossder hat auch ab und zu mal ein wenig an der Börse spekuliert, wissen Sie. Auf diese Weise kann man rasch ein Vermögen verlieren.«
Er wandte sich seinem Buch zu. Mrs. Bradley fuhr mit ihrer Strickarbeit fort und las währenddessen mit leicht gerunzelter Stirn in einem zeitgenössischen Lyrikband.
Denis und Carey gesellten sich wieder zu ihnen.
»Kommt, lasst uns was trinken. Scab, du darfst einen Cocktail haben, wenn du versprichst, es deiner Mutter nicht zu erzählen. Was meint ihr?«, fragte Carey. »O, und übrigens, Hugh, hier ist eine Nachricht für dich aus Roman Ending. Tombley hat sie gerade vorbeigebracht. Er wollte nicht lange bleiben, weil er seinen Onkel nicht mit dem Whisky allein lassen wollte.«
Hugh las die Nachricht.
»Sie bieten uns an, uns morgen den ganzen Tag ihr Grammophon zu leihen«, sagte er. »Ich habe ihnen erzählt, dass wir ein paar neue Platten haben. Wenn wir das Grammophon zurückbringen, sollten wir ihnen im Gegenzug die Platten leihen, das wäre nur fair.«
Beim Abendessen thronte der Eberkopf in der Mitte der Tafel. Hugh begrüßte ihn feierlich und murmelte dann etwas, das klang wie »nettes kleines Bartholomäus-Schweinchen«.
»Sehr hübsch«, bemerkte Mrs. Ditch.
»Schneiden Sie sich doch auch etwas für sich ab«, sagte Mrs. Bradley. »Wie viele sind Sie insgesamt?«
»Fünf, wenn man Linda mitzählt, Ma’am«, antwortete Mrs. Ditch.
»O, haben Sie eigentlich noch ein Bett für Linda gefunden?«, fragte Carey.
»Danke, Master Carey, sie bekommt ein hübsches kleines Notlager bei uns. Wir haben zwei Matratzen auf unserem Bett und dann noch ein paar Federbetten oben drauf, also kann Linda eine Matratze von uns bekommen. Das reicht ihr vollkommen.«
Sie nahm ein paar Scheiben vom Eberkopf mit und auch eine Flasche Port, die Carey aus der Anrichte geholt hatte.
Um Mitternacht wurde Denis ins Bett geschickt, und Mrs. Bradley, die noch nie besonders viel davon gehalten hatte, lange aufzubleiben, zog sich um halb eins ebenfalls zurück. Bald darauf folgten Carey und Hugh ihrem Beispiel.
Außer Carey schliefen am zweiten Weihnachtsfeiertag alle aus, und es war bereits zehn Uhr, als Mrs. Bradley und Denis, die am längsten geschlafen hatten, ihr gemütliches Frühstück beendeten. Mrs. Bradley las in einem Buch mit Gedichten, das sie aufgeschlagen auf den Tisch gestellt hatte, und trank noch zwei Tassen Kaffee, während Denis mit aufgestützten Ellbogen eine Detektivgeschichte verschlang. Um elf kam Mrs. Ditch und räumte den Tisch ab.
»Und?«, fragte Mrs. Bradley. »Was wollen wir jetzt unternehmen?«
»Ich will weiterlesen«, sagte Denis. Er hob kurz sein Buch hoch, damit Mrs. Ditch das Tischtuch abnehmen konnte, und ließ sich dann mit einem Seufzer in seinen Stuhl zurücksinken, dem Mörder dicht auf der Spur. In diesem Moment betrat Carey den Raum.
»Hallo, ihr Faulenzer«, sagte er und stellte sich vor das Feuer. »Selbst der alte Hugh war heute Morgen früher dran als ihr zwei! Er ist rüber nach Roman Ending gegangen, um Tombleys Grammophon abzuholen. Ich habe letzte Woche einige neue Platten aus Oxford mitgebracht.«
»Hast du denn keinen Radioapparat?«, fragte Denis.
»O doch. Sogar einen tragbaren. Für gewöhnlich steht er in der Küche, wo die Ditch-Jungs ihn immer wieder auseinandernehmen und mit den neuesten technologischen Verbesserungen ausstatten. Ich dachte, das Grammophon wäre mal eine nette Abwechslung. Wir könnten die Schwerttanz-Platten auflegen – Kirkby Malzeard und Flamborough –, ich liebe diese Lieder. Die könnte ich mir den ganzen Tag anhören. Hugh ist mit dem Motorrad losgefahren und hat den Beiwagen mitgenommen, damit er das Grammophon transportieren kann. Ich nehme mal an, der alte Simith hat ihm noch einen Drink angeboten. Tombley ist nicht zu Hause, er ist heute früh nach Iffley gefahren, um Mrs. Fossder und Fay zu besuchen.«
»Ach ja, schließlich würde Mrs. Fossder ihn viel lieber als ihren Schwiegersohn sehen als Pratt«, bemerkte Mrs. Bradley.
Als es Zeit fürs Mittagessen war, hatte Denis sein Buch ausgelesen. Für den Großteil des Nachmittags ließen sie das Grammophon laufen. Tombley und Simith kamen vorbei, gingen jedoch beide vor Einbruch der Dunkelheit wieder heim, um Priest dabei zu helfen, die Schweine in den Unterstand zu bringen. Am Himmel standen schwere, graue Wolken. Es sah aus, als könnte es jeden Moment anfangen zu schneien.
»Hören Sie, Master Carey«, sagte Mrs. Ditch, als Onkel und Neffe gegangen waren. »Wenn das Wetter wieder besser wird, könnten Sie dann nicht diesen Priest drüben bitten, dieses Jahr mitzutanzen?«
»Priest! Ich wusste gar nicht, dass er ein Morris-Tänzer ist«, sagte Carey.
»Ist er auch nicht«, erklärte Mr. Ditch ernst. »Aber wenn Mr. Tombley auf keinen Fall tanzen will, dann brauchen wir Ersatz, Master Carey.«
Carey rieb sich das Kinn.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er. »Bis Ostern ist es ja noch lange hin. Das kann problemlos bis dahin warten.«
»An Ostern beginnen die Proben, Master Carey, das haben Sie doch wohl nicht vergessen?«
»Nein, stimmt. Aber ich werde ihn schon überzeugen. Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Ditch. Wir bekommen sicher eine Truppe zusammen!«
Um zehn Uhr sagte Hugh, er sei müde, und wünschte ihnen eine gute Nacht. Um elf ging auch Denis ins Bett, der schon seit einer Weile gegen seine Schläfrigkeit angekämpft hatte. Mrs. Bradley begleitete ihn, und Carey folgte ihnen fast auf dem Fuße.
Bevor sie sich zu entkleiden begann, trat Mrs. Bradley ans Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus. Es war eine mondlose Nacht, und auch die Sterne versteckten sich hinter einer Wolkendecke. Während sie dort stand, geschah, wonach es schon den ganzen Tag ausgesehen hatte: Es begann zu schneien, in großen, dichten Flocken, und in weniger als einer Viertelstunde schimmerte der Boden weiß.
Sie trat vom Fenster zurück, zog sich langsam aus, wusch sich das Gesicht und die Hände mit eiskaltem Wasser und legte sich ins Bett. Die Wärmflasche erzeugte eine wohlige Temperatur. Auch im Zimmer war es warm, obwohl das Feuer heruntergebrannt war und sie nur noch ein schwaches rotes Glühen erkennen konnte, als sie mit einem Auge hinüberschielte.
Sie war noch wach, als eines der Schweine plötzlich anfing zu quieken. Sofort taten es ihm mehrere andere nach. Doch schon bald verstummten die Tiere wieder. Mrs. Bradley drehte sich auf die Seite und schlief ein. Carey dagegen, der sich im Nachbarzimmer befand, war hellwach und in Alarmbereitschaft. Auch er hatte die Schweine gehört. Er stand auf und ging zu seinem Fenster, das zu den Ställen hinausschaute. Aber es war zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können. Er zog seinen Schlafrock an und ging nach unten. Dort tauschte er den Schlafrock gegen einen Mantel, zog statt der Pantoffeln Schuhe an, nahm sich einen kräftigen Stock aus dem Ständer und machte sich in Richtung der Schweineställe auf. Der Schnee fiel in dicken Flocken auf seine Haare, durchnässte seine Schultern und bedeckte seine Schuhe und Ärmel. Er versuchte, die Flocken im Gehen abzuschütteln, aber sie kamen immer wieder zurück, ohne Hast, mit weicher Beharrlichkeit, benetzten sein Gesicht und ließen sich mit abscheulicher Präzision in seinem Kragen nieder.
Als Erstes ging er zu Herewards Koben, denn der lag dem Haus am nächsten. Von dem Eber war kein Laut zu hören, obwohl Carey eine Weile vor dem Gehege stehen blieb. Herewards Koben war der einzige separate Stall auf der Farm, denn Tom war im größeren der Schweineställe untergebracht, in einem Koben direkt neben der Abferkelbucht. Dort ging Carey als Nächstes hin. Nachdem er den Stall betreten hatte, hob er die Laterne von dem Nagel neben der Tür und zündete sie an. Dann ging er den Mittelgang entlang und nahm eine gründliche Inspektion vor. Die jungen Ferkel in den Aufzuchtställen schienen sich wieder beruhigt zu haben, aber zwei der Säue waren sehr unruhig. Auch Tom war wach. Er zottelte hoffnungsvoll zum Futtertrog, gähnte, blinzelte seinen Besitzer an und scharrte mit seinen adretten kleinen Vorderfüßen auf dem Boden.
»Das kannst du vergessen«, sagte Carey. Die Abferkelbucht, die doppelt so groß war wie ein normaler Koben, war zurzeit leer, doch in der Entwöhnungsbucht, die sich direkt daneben befand, tummelten sich mehrere hübsche kleine, pinkfarbene Bewohner. Carey sah sie vorwurfsvoll an.
»Also, wer von euch hat denn eben gequiekt?«, sagte er. »Und warum bloß, ihr Trottel!« Die Ferkel waren hellwach und purzelten beim Klang seiner Stimme übereinander. Ihr Verschlag befand sich fast direkt an der Außenwand des Gebäudes. Dazwischen war nur noch ein schmaler Gang. Gegenüber befand sich noch eine zweite Entwöhnungsbucht, doch die war momentan leer. An diese Bucht grenzte der Koben, in dem Sabrina untergebracht war, die übel gelaunte, angriffslustige alte Sau. Sie machte einen wesentlich nervöseren Eindruck als ihre Nachbarin Buttercup, grunzte laut, rieb ihre gewaltige Flanke an der Stallwand und schnaufte anklagend.
»Was ist denn los?«, fragte Carey. »Hast du dich über den Krach geärgert? Aber warum haben die Kerlchen denn überhaupt gequiekt, Sabrina? Das war doch sehr ärgerlich! Und jetzt bist du ganz aufgebracht!« Er streckte die Hand aus und gab ihr einen mitfühlenden Klaps. Dann ging er zu dem kleineren Stallgebäude hinüber, das ähnlich gebaut, aber knapp sechs Meter kürzer war. Es lag weiter vom Haus entfernt, und die darin befindlichen Schweine schienen nicht gestört worden zu sein.
Carey trat wieder ins Freie und schwenkte die Laterne im Kreis, aber es gab nichts zu sehen außer Schnee, der bereits eine so dicke Schicht auf der Erde gebildet hatte, dass die Spuren ausgelöscht worden waren, die er auf dem Weg vom Haus zu Herewards Koben hinterlassen hatte. Auch seine jetzigen Spuren verschwanden sofort wieder. Er senkte den Kopf und eilte zum Haus zurück. Dort angekommen, musste er jedoch feststellen, dass er die Eingangstür hinter sich geschlossen und keinen Schlüssel dabeihatte. Er klopfte. Ditch nahm sich erst noch die Zeit, eine Hose anzuziehen, bevor er nach unten kam und ihn hereinließ.
»Es ist alles gut, Ditch«, sagte Carey. »Ich bin’s nur. Eines der Schweine muss schlecht geträumt haben oder so.«
»Ah, wahrscheinlich ist ein Hund hier rumgeschlichen. So ein Hund bringt die Schweine rasch in Aufruhr. Wem der wohl gehören mag? In der Nähe hat niemand einen Hund. Der nächste, der einen hat, ist William Smart.«
»Es scheint jedenfalls alles in Ordnung zu sein«, sagte Carey, während er mit den Füßen auf den Boden stampfte, um den Schnee abzuschütteln. »Hässliche Nacht da draußen.«
»Ah, so ein Hund bringt die Schweine rasch in Aufruhr«, wiederholte Ditch. »Aber unsere Linda, die ist nicht aufgewacht. Die hat nicht mal einen Finger gerührt. Meine Frau ist aufgewacht, und ich auch. Aber nicht unsere Linda. Die schläft wie ein Stein, dieses Mädel. Hat sie schon immer getan. Die denkt an niemanden außer sich selbst.«
»Das stimmt, von vorn bis hinten«, sagte Mrs. Ditch, die mit der Kerze in der Hand übers Treppengeländer lugte. »In ihrem Bett liegt nur ein Polster, das sie der Länge nach in die Mitte gelegt hat. Wenn wir elektrisches Licht hätten, statt nur diese alten Kerzen, dann hätten wir das sofort bemerkt, als wir ins Bett gegangen sind!«
»Aber wo könnte sie denn sein?«, fragte Carey.
»Müssen Sie das noch fragen?«, sagte Ditch bitter. »Die ist drüben in Roman Ending, die Dirne.«
»Sei still, Mann«, sagte Mrs. Ditch gebieterisch.
»Möchten Sie, dass ich mal rübergehe?«, fragte Carey.
»Nein, wir mischen uns da nicht ein. Sie hat sich ihr Bett selbst ausgesucht. Und so wie sie sich bettet, so liegt sie dann eben«, meinte Ditch philosophisch.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Carey zu Mrs. Bradley, die ebenfalls aufgewacht und daraufhin auf den Treppenabsatz hinausgetreten war. Ein bizarrer, mit Drachen bestickter Mantel umhüllte ihre magere, aufrechte Gestalt. »Ich dachte, Linda Ditch sei von Roman Ending geflüchtet, weil sie die Aufdringlichkeit des alten Simith nicht mehr ertragen konnte. Ich muss morgen früh unbedingt mal dort vorbeischauen. Zum Teufel mit diesen hübschen Frauenzimmern! Sie geraten immer in irgendwelche Schwierigkeiten. Das Letzte, was ich suche, ist ein Streit mit Simith, aber er kann nicht einfach Mrs. Ditchs einzige Tochter verführen. Ein Jammer, dass Linda nicht mehr Ähnlichkeit mit ihren Brüdern hat. Die sind so sanft wie Lämmer. Sie haben nichts anderes im Kopf als den Radioapparat und das Morris-Tanzen. Ich glaube zwar, einer von ihnen hat ein Motorrad, aber du weißt schon, was ich meine. Ich denke, sie haben ihren Eltern in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Moment der Sorge bereitet. Der junge Walt wohnt hier im Haus und ist fast zu gut, um wahr zu sein, außer, wenn es darum geht, sich um die Schweine zu kümmern. Davon hat er nicht die geringste Ahnung. Ich wünschte, ich könnte diesen Priest von drüben loseisen. Insgeheim glaube ich ja, er hält dort nur so lange durch, weil er auf eine Gelegenheit hofft, den alten Simith umzubringen. Er hegt einen abgrundtiefen Hass auf ihn. Ach, wie auch immer, komm und trink einen Whisky mit mir. Ich muss mich aufwärmen.«
Er ging ihr ins Wohnzimmer voraus und zündete die Lampe an. Die Tür zum Priesterversteck stand offen und ein leichter Luftzug durchwehte den menschenleeren Raum.
»Du liebe Güte«, sagte Carey. »Was ist denn hier los?«
Sie gingen hinüber und untersuchten das Priesterversteck, doch es lag leer und unschuldig vor ihnen. Carey schloss die Tür in der Vertäfelung und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
»Seltsam, findest du nicht?«, fragte Mrs. Bradley. Carey schüttelte den Kopf.
»Das ist bestimmt nur wieder einer von Scabs Streichen. Sicher ist er runtergehuscht und hat die Tür geöffnet, während ich draußen bei den Ställen war.«