17. Zusammenstoß

Als ich erwachsen war, musste ich mich jedes Mal innerlich wappnen, wenn ich nach Hause fuhr. Im Berufsleben verbrachte ich so viel Zeit damit, Rollen zu spielen, dass ich es im Privatleben nicht auch noch konnte. Es hätte auch gar nicht nötig sein sollen, immerhin war es nicht meine Aufgabe, Linda und meinem Dad das Leben leichter zu machen.

Okay, DIESMAL sagst du was. DIESMAL stehst du für dich ein.

»Bitte sprich nicht so mit mir.«

»Warum sagst du so was?«

Und wieder probte ich. Spielte eine Rolle?

Doch bei ihnen angekommen, konnte ich es trotzdem nicht durchziehen. Ich kam durch die Tür, unsere Begrüßungen hallten durchs Treppenhaus, und noch bevor ich mir die Schuhe ausgezogen hatte: Rückenschmerzen, Angst, Blähbauch, tonnenschwere Last auf der Brust. Das Gefühl war sofort da, so sehr hatte ich die wertenden Blicke verinnerlicht. Und schon war der gute Vorsatz dahin, pulverisiert wie die Pekannüsse in Lindas Crumble. Bühne frei für die Marionette, abgespulte immergleiche Sätze, alles Kulisse. Im Nachhinein ist mir bewusst, wie sehr ich mich aufgerieben habe, um ihre Liebe zu verdienen und meinen Vater zufriedenzustellen. Da mein Dad mir nicht zur Seite sprang, musste ich wohl das Problem sein, und wenn es mir irgendwann gelingen sollte, eine Lösung für dieses Problem zu finden, würde ich mich vielleicht auch wieder sicherer fühlen. Schließlich fuhr ich kaum noch nach Hause.

Stattdessen besuchte mein Vater mich in Los Angeles. Ich war fünfundzwanzig und wohnte am Canton Drive – eine ruhige Gegend, in der hauptsächlich junge Familien und ältere Leute leben. Mir gefiel es dort. Das Haus hatte drei Zimmer und einen großen Garten mit kleiner Anhöhe. In der Luft lag der Duft von Jasmin – ich hatte ihn entlang des Zaunes gepflanzt, weil ich wusste, dass Ryan ihn liebte. Zum Garten gehörte auch ein nierenförmiger Pool, der in der kalifornischen Sonne glitzerte. Abends wurde der Garten in violettes Licht getaucht (weil eine Ex-Liebschaft auf bunte Glühbirnen stand und ich immer vergaß, sie auszutauschen, bis sie schließlich von selbst durchbrannten).

Das Haus hatte ein relativ großes Wohnzimmer mit bodentiefen Fenstern und spärlicher Möblierung. Vor dem weiß gestrichenen Backsteinkamin standen eine Couch und zwei Midcentury-Sessel. Außerdem gab es eine kleine, schlichte Küche, ein kleines Bad und zwei gemütliche Schlafzimmer.

Vor seinem Besuch hatte mein Vater gesagt, er wolle etwas mit mir besprechen, was mit früher zu tun habe. Mein erster Gedanke war, dass es um die Antipathie ging, die Linda mir meine gesamte Kindheit und Jugend über entgegengebracht hatte, und um seine Unfähigkeit, sich für mich einzusetzen. Vielleicht war ihm aber auch endlich bewusst geworden, wie anders seine Liebesbekundungen ausfielen, wenn wir nicht mit ihr zusammen, sondern allein waren. Dennis’ Art der Machtausübung erinnert an Lindas, auch wenn sie sich anders äußert. Er hat keine lodernden Blicke nötig, sondern verlässt sich auf seinen sanften Tonfall, auf subtile Veränderungen der Stimmhöhe, um seinen Willen durchzusetzen. Das lullt dich ein, taucht dich in Selbstzweifel, kommt tröstend rüber und jagt dir zugleich Schauer über den Rücken. Und du lässt dich davon einwickeln, machst mit, ohne zu wissen, warum.

Bei jenem Anruf war ich zu perplex, um nachzufragen, was er meinte, und als ich ihn vom Flughafen abholte, machten sich Angst und Hoffnung in mir breit. Die Aussicht auf eine Entschuldigung, ein ehrliches Gespräch – konnte der Moment endlich gekommen sein?

Nachdem er schon ein oder zwei Tage bei mir war, saßen wir nach dem Einkaufen auf dem Whole-Foods-Parkplatz im Auto. Nachdenklich sah er mich an.

»Worüber ich mit dir reden wollte …«, setzte er an. »Ich habe schon so lange ein schlechtes Gewissen deswegen, aber ich habe das Gefühl, jetzt kann ich es endlich loslassen.«

Das war nicht ganz, was ich erwartet hatte, trotzdem klammerte ich mich noch immer an die Hoffnung, dass dies eine Aufarbeitung der Vergangenheit werden würde, nach der wir gemeinsam nach vorn blicken könnten.

»Ich hab mich ewig schlecht gefühlt, weil ich deine Mutter verlassen habe, als du noch klein warst« – ich hatte Mühe, ihm zu folgen –, »aber wenn das nicht passiert wäre, hätte ich nicht mit Linda zusammensein können.« Ich begriff nicht, was er mir damit sagen wollte. Linda war die Person, die mich, sein Kind, schlecht behandelt hatte. Er fuhr fort: »Ich hätte auf dieses Leben mit ihr verzichtet. Auf unsere Liebe und unser Glück. Ich liebe sie so sehr.«

Ich hätte auf dieses Leben mit ihr verzichtet. Ich drehte und wendete seine Worte in meinem Kopf. Dieses wunderschöne Leben. In dem Augenblick wurde mir klar: Er verstand es nicht. Er verstand mich nicht.

Meine Lunge versagte mir den Dienst, mein Brustkorb brannte, das Auto wurde zur Falle. Bei meinem letzten Besuch zu Hause hatte ich es endlich geschafft, meinen Schmerz zumindest teilweise in Worte zu fassen und über meine Kindheit in seinem Haushalt zu sprechen, darüber, was diese Erfahrung mit mir gemacht hatte. Und jetzt? Jetzt wurden meine Gefühle wieder einmal weggewischt, ausgelöscht, ein emotionaler Schlag in die Magengrube.

Schweigend und wie versteinert starrte ich geradeaus, mein Hirn war nicht mehr in der Lage, seinen Worten zu folgen. Es war nicht so, als hätte ich nichts zu sagen gehabt, nein, ich konnte nichts mehr sagen, ein Gefühl, das mich schon mein ganzes Leben begleitet hat, ein unsichtbarer Knebel, ein unvermitteltes Verstummen. Dieses Ausmaß an Fassungslosigkeit hatte auch bei der Arbeit schon zu Problemen geführt. Der Spiegel, mein Gesicht, die engen Kleider – jedes Mal dachte ich darüber nach, mich umzubringen, tat es aber nicht, zumindest nicht bewusst. Die einfachste und bequemste Alternative war, komplett abzuschalten, einen Shutdown auszulösen. Dabei verliere ich mich oft in Erinnerungen, was nur zu noch mehr Stress führt.

Und so schweiften meine Gedanken zu einem anderen Vorfall.

»Kannst du bitte lauter sprechen?!«

Ein fancy Fotoshooting mit einer berühmten, gefeierten Fotografin, ich saß in einem Regiesessel in der Maske. Um mich herum der aufwendigste Setaufbau, den ich je gesehen hatte. Musik dröhnte aus den Boxen, aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Blitz getestet wurde, und überall wuselten Menschen um mich rum, die hippesten der Hippen. Wie im Film.

Schon beim Reinkommen und während der Begrüßung war ich schüchtern und zurückhaltend. Die Anprobe fiel weg, weil es nur ein Outfit gab, das ich wohl oder übel anziehen musste – ein viel zu enges blaues Kleid. Der Reißverschluss ging nicht ganz zu und quetschte auch noch den letzten Rest Selbstbewusstsein aus mir raus. Und da passierte es, ich bekam kein Wort mehr über die Lippen. Nur noch unverständliches Gemurmel.

Die weltberühmte Fotografin hatte sich einen zweiten Regiestuhl herangezogen. Das Schminken wurde unterbrochen, damit sie sich vorstellen und mir die typischen Fragen stellen konnte, die zum Kennenlernen dazugehören. Nur konnte ich keine Antworten geben. Irgendetwas hatte von mir Besitz ergriffen, mein Körper war erstarrt, gehorchte mir nicht mehr. Sie wurde immer gereizter, ihr anfangs noch irritierter Blick schlug um in Häme.

»Hast du deine Zunge verschluckt?«, fuhr sie mich an.

Sie zog das Knie an und lehnte sich leicht zurück. Dann trat sie mit voller Wucht gegen meinen Stuhl und traf mit der Stiefelsohle das Holzgestell. Hart. Mein Herz setzte aus. Es ging alles so schnell. What the fuck?! Was war das denn?

Wie versteinert saß ich da. Während sie abrauschte, versuchte ich krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten, um das Make-up nicht zu ruinieren. Du kannst doch nicht mit verschmiertem Eyeliner zum Shooting, Herrgott nochmal! Ich erinnere mich nicht, ob sie mir mit diesem Tritt eine Antwort entlockt hat. Ich weiß nur noch, dass das Aufhübschungsprogramm fortgesetzt wurde, inklusive glänzender, welliger Haare, und ich schließlich in dem Kleid vor der Kamera stand.

Mein Vater und ich parkten bei mir in der Auffahrt. Panik überfiel mich, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, warum. Im Rückblick weiß ich, dass mich allein der Gedanke, ich müsste seine Version der Wahrheit richtigstellen, völlig aus der Bahn warf. So tief saß mir die Angst in den Knochen.

Nachdem ich die Einkäufe weggeräumt hatte, schnappte ich mir Handy, Portemonnaie und Sonnenbrille und sagte, ich müsse los zur Therapie. Leider hatte ich ihm vorher die genaue Uhrzeit des Termins genannt. Krampfhaft überspielte Spannung, übertriebene Nettigkeit, wie auf der Bühne, der Kamin bloß eine Requisite, nichts von alledem echt.

»Dein Termin ist doch erst in zwei Stunden.«

»Ich weiß, aber um die Zeit ist immer Stau, und ich will mir vorher noch einen Kaffee holen.«

Als ich den Laurel Boulevard Richtung Ventura Boulevard entlangfuhr, fing ich an zu zittern. Mein rechtes Bein wippte unkontrolliert, ein schwaches Zucken hinter der Kniescheibe. Ich konzentrierte mich auf meinen Fuß, versuchte ihn stillzuhalten. Die Welt hinter der Windschutzscheibe verschwamm vor meinen Augen. Rote Ampel, grüne Ampel, bisschen Gas geben, links auf die Moorpark Street abbiegen. Dreifacher Espresso auf Eis mit einem Schuss Sojamilch im Becherhalter meines Minis. Ich wollte den Coldwater Canyon Boulevard nehmen, um vom Valley zur damaligen Praxis meiner Therapeutin auf dem Wilshire Boulevard in Beverly Hills zu fahren, da noch im Auto sitzen bleiben und den Kaffee in Ruhe austrinken.

Das Zittern wurde schlimmer, und ich schaltete das Radio an, auf der Suche nach einer beruhigenden Stimme, die meine lautstarken Gedanken übertönen würde. Hin und wieder nahm ich einen Schluck Espresso, auch wenn das Koffein meine Bemühungen, die Angst zu lindern, vermutlich direkt wieder zunichtemachte. Kalter Schweiß, rumorender Magen, und die Verdauung meldete sich. Wie ein nicht enden wollender Schockmoment. Ich versuchte, mich auf die Straße zu konzentrieren.

An einer roten Ampel wollte ich die Spur wechseln. Ein einfaches Manöver, das ich im stockenden Verkehr von L.A. schon tausendfach ausgeführt hatte. Doch diesmal streifte ich das rechte Rücklicht des Autos vor mir und drückte an meinem die linke Seite der Motorhaube ein. Der Schaden am anderen Auto fiel glücklicherweise wesentlich geringer aus. Ich folgte dem schwarzen Wagen zu einem Parkplatz am Ventura Boulevard und hatte ein derart schlechtes Gewissen, dass mir kotzübel wurde. So etwas war mir noch nie passiert. Die Frau im anderen Auto war ziemlich durch den Wind, und ich entschuldigte mich wieder und wieder.

»Waren Sie am Handy oder was?!«, schimpfte sie, völlig zu Recht.

»Nein. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Tut mir schrecklich leid.«

Wir tauschten unsere Kontaktdaten aus und machten Fotos. Meine Versicherung übernahm den Schaden, da es eindeutig meine Schuld gewesen war.

Ich stieg wieder ins Auto, sah auf die Uhr. Dann rief ich meine Therapeutin an, schamerfüllt und völlig von der Rolle.

»Ellen, Auffahrunfälle gibt es jeden Tag. Ist mir auch schon passiert.«

Ihre Worte trösteten mich, das flaue Gefühl in meinem Magen legte sich ein bisschen. Wenn ich jetzt losfahren würde, hätte ich noch was von meinem Termin.

Bei der Therapeutin angekommen, saß ich vornübergebeugt auf der Couch, das Gesicht schuldbewusst in den Händen vergraben. Sie redete beschwichtigend auf mich ein, aber ihre Worte drangen nicht zu mir durch, ich ließ sie nicht an mich ran. Irgendwie kam das Gespräch auf meinen Vater.

»Möchtest du, dass dein Vater mal mitkommt, solange er hier ist?«

Ich fiel ihr sofort ins Wort: »Was?! Nein.«

Ein scharfer Ausruf, gefolgt von einem ungläubigen Lachen. Eine unerwartet heftige Reaktion, die Art, die ich mir eigentlich für die Arbeit aufhebe.

Sie wollte wissen, warum. Darauf hatte ich keine Antwort. Ich sagte bloß: »Auf keinen Fall.«

Allein bei dem Gedanken, ihn zu konfrontieren, ihm eine wie auch immer geartete Grenze zu setzen, hätte ich mir fast in die Hose geschissen.

Als ich nach Hause kam, war ich froh um die Ablenkung, die der Unfall mit sich brachte. Anrufe, eine Fahrt in die Werkstatt wegen der Reparatur. Mein Dad steht auf Autos. Mein Onkel ist Automechaniker, genau wie zwei meiner Cousins. Es war Dads Territorium, also überließ ich es ihm, um meine Ruhe zu haben.

Im Laufe des Tages sagte ich mir immer wieder unterschiedliche Versionen derselben Sätze im Kopf auf, um Mut zu sammeln. Vielleicht war es auch eine Aufschiebetaktik, ich weiß es nicht. Jedenfalls brachte ich es nicht fertig. Brachte es nicht über die Lippen. Die Gefühle unterdrückt, knapp unter der Oberfläche zwar, aber erfolgreich verdrängt.

Je unklarer Grenzen sind, desto leichter verlierst du dich. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich niemals von meinem Vater hören würde, wonach ich mich sehnte, ein Eingeständnis oder wenigstens eine Erklärung. Irgendwas. Es sollte noch Jahre dauern, bis ich es endlich selbst ansprechen konnte.