25. Wahlfamilie

»Ich will nur noch bei dir wohnen«, sagte ich mit dreizehn zu meiner Mutter. »Ich hab genug vom ständigen Hin und Her.«

Ich wollte nicht länger die Tage bis zum Sechzehnten runterzählen, sondern die ganze Zeit bei meiner Mutter sein.

Sie strahlte und straffte die Schultern, ich sah ihr die Begeisterung an. Hastig versuchte sie, ihre Freude zu verbergen, vermutlich, um meine Entscheidung nicht zu beeinflussen. Ihr Grinsen verschwand, sie hatte ihre Mimik wieder im Griff, aber ich merkte, dass sie sich freute, was wiederum mich freute. Warum ich das wolle, fragte sie.

Nervös suchte ich nach den richtigen Worten. Ich senkte den Blick, versuchte, mir einen Grund einfallen zu lassen, und wünschte, ich bräuchte keinen, während das schlechte Gewissen sich in mir breitmachte.

»Ich will einfach ein festes Zuhause haben. Ich bin es leid, ständig hin- und herzuwechseln. Immer vergesse ich was.«

Ihr die ganze Wahrheit darüber zu sagen, wie ich mich bei meinem Vater zu Hause fühlte, schien mir unmöglich. Eine unerklärliche Angst pulsierte in mir und hielt mich zurück. Ich hatte zu viel Schiss, einen Bruch zu verursachen, der nicht wieder zu kitten war.

Meine Verbitterung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Jedes Mal, wenn ich nach der Schule mit Linda allein war, wurde die Luft zum Schneiden dick. Ich fragte mich, ob meine Freund*innen es auch spürten, wenn sie mich besuchten.

»Sie ist irgendwie komisch, oder?«, fragte ich. Ihre ganze Art. Der Tonfall. Die Blicke. »Ich glaube, sie mag mich nicht.« Meine Freund*innen stimmten mir zu.

Ich hatte nicht oft Besuch, fragte mich aber, was die Mädchen aus meinem Fußballteam bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie zu mir kamen, wohl dachten. Mein Dad fand es lustig, ihnen »aus Spaß« aus dem Auto hinterherzupfeifen, wenn sie von der Schule nach Hause liefen.

»Heeeey, ihr Hübschen!«, rief er.

»Boah, Dennis, wie eklig!«, riefen sie zurück, nicht gerade amüsiert. Vor lauter Scham rutschte ich auf meinem Sitz nach unten.

Mein Vater veränderte sich, je nachdem, wer dabei war. In Anwesenheit von Linda ging er auf Distanz zu mir, waren wir beide jedoch allein, zeigte er mir seine tiefe Zuneigung. Ich wusste absolut nicht, woran ich war. Vielleicht sah er darin die einzige Möglichkeit, mir nah zu bleiben: die Gelegenheit zur Verbundenheit zu ergreifen, wenn sie sich bot, allen anderen gegenüber jedoch ein Geheimnis daraus zu machen.

Wie auch immer, damals konnte ich es noch nicht in Worte fassen, selbst jetzt habe ich noch Probleme damit. Ich bewegte mich wie auf Eis und fand nirgends Halt.

Ich bat meine Mutter, meinem Dad noch nichts zu sagen. Schon wenn ich daran dachte, wie aufgebracht er sein würde, wie verletzt, drehte sich mir der Magen um. Die Schuldgefühle in mir tobten weiter.

»Dein Vater wird das schon verstehen«, sagte meine Mom in beruhigendem Tonfall. Sie glaube zwar nicht, dass es ihn nicht treffen würde, natürlich würde es ihm einen Stich versetzen. Aber letztendlich würde er meine Entscheidung unterstützen.

Ich wusste, dass das nicht stimmte. Er würde es nicht verstehen. Er würde wütend werden. Das Gesicht zur Grimasse verzogen. Aber ich wusste nicht, wie ich es meiner Mutter erklären sollte.

An dem Abend hatte ich ein Fußballspiel, ein Heimspiel. Tina und ich wärmten uns auf dem Rasen der Dalhousie University auf, spielten den Ball locker hin und her. Im Spiel wollte ich mich dann eigentlich auf den hereinkommenden Eckball konzentrieren, meinen Laufweg im rechten Mittelfeld perfekt timen, um ihn im richtigen Moment zu köpfen und hoffentlich ins Netz zu befördern. Stattdessen blickte ich ständig über die Schulter. Ich wusste, irgendwann würden die beiden auf der Tribüne auftauchen.

Schließlich sah ich sie, und sie redeten miteinander. Statt auf den Ball zu achten, war ich darauf konzentriert, wie nah meine Eltern beieinanderstanden. Egal, ob ich einen Einwurf vorbereitete, beschleunigte, um einen Pass anzunehmen, beim Antäuschen über den Ball stolperte, ich konnte nichts anderes denken als: Wird Mom es ihm sagen?

Als ich nach dem Spiel über den Rasen ging, meine Fußballtasche über der Schulter richtete und mir Wasser in den Mund spritzte, spürte ich es unter meinen Stollen schmatzen. Mom und Dad standen wirklich sehr dicht beieinander. Ich war gerade neunzig Minuten lang gelaufen, aber erst dieser Anblick raubte mir so richtig den Atem.

Als ich näher kam, traten sie ein Stück auseinander. Meine müden Beine protestierten, als ich die großen Stufen hinaufging. Ich umarmte meine Mom zum Abschied, es war der Erste des Monats, also zog ich wieder zu meinem Vater.

»Hab dich lieb, Mom«, sagte ich, als Dad und ich losgingen.

»Ich dich auch, mein Schatz.«

Mir tat das Herz weh, aber ich versuchte es zu verbergen. Meine Gefühle ließen sich perfekt auf den Fußball schieben – unterer Rücken, Knie, brennende Oberschenkel … jede Menge Verstecke.

Ich stieg rechts ein, stellte meine Tasche auf dem Boden ab und hielt Kopf und Schultern gesenkt.

Vielleicht hat sie ja auch gar nichts gesagt? Vielleicht haben sie sich bloß unterhalten?

Doch wir schwiegen zu lange, als dass diese Möglichkeit noch realistisch erschien.

Wortlos fuhr mein Vater die Quinpool Road runter, vorbei an Horseshoe Island, am Wasser entlang und in den Armdale-Kreisel. Am Pizzaladen links, dann auf die Purcells Cove Road. Doch als wir uns der Abzweigung zu unserem Viertel näherten, bremste er nicht ab. Ich sah zu ihm rüber, was er garantiert bemerkte, er aber blickte weiter stur geradeaus. Die Lippen fest zusammengepresst.

Wir fuhren noch ungefähr fünf Minuten weiter, vorbei an der griechisch-orthodoxen Kirche St. George’s, dem Yacht-Club und Deadman’s Island, bis er links auf die schmale Dingle Road abbog. An dichtstehenden Bäumen und vereinzelten Häusern vorbei wand sich die Straße hinab bis zum Sir Sandford Fleming Park, allgemein bekannt als »The Dingle«.

Der untere Teil des Parks liegt am Wasser. Mein Dad fuhr auf den Kiesparkplatz in der Nähe des vierzig Meter hohen Steinturms aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Ein paar Jahre zuvor hatten wir ihn mit Linda, Scott und Ashley bestiegen. Den Eingang flankieren zwei große Bronze-Löwen, auf die natürlich alle gern draufklettern. Ich kann mich noch erinnern, dass der Turm mehr Stufen hatte, als mir lieb gewesen wäre, aber der Blick hatte sich gelohnt, genau wie die Kugel Moon Mist danach, ein superleckeres Eis, das, wie ich gerade erst erfahren habe, typisch für Nova Scotia ist.

Er parkte im Schatten und stellte den Motor ab. Es war früh am Abend, außer uns waren kaum Leute da, auf dem großen Parkplatz standen nur zwei andere Autos. Er blickte nach vorn, die Hände immer noch am Steuer. Ich schwieg. Mit Tränen in den Augen wandte er sich mir zu.

»Du willst also bei deiner Mutter leben?«

Dann fing er an zu weinen. Mir verschlug es den Atem, ich starrte vor mich hin, unsicher, was ich tun sollte, was als Nächstes kommen würde.

»Warum willst du denn nicht mehr bei uns wohnen?«

Er ließ den Kopf hängen. Das Weinen ging in Schluchzen über.

»Liebst du deine Mutter etwa mehr als mich?«

Er hörte gar nicht mehr auf zu weinen. Seine Schultern bebten. Wieder sah er mich an, und sein trauriger Blick traf mich wie ein Schlag in die Magengrube.

»Hast du mich etwa überhaupt nicht lieb?«

Ich spürte Panik in mir aufsteigen, fühlte mich wie im freien Fall, meine Ohren klingelten.

Er drehte sich wieder nach vorn und schluchzte weiter.

Ich schnallte mich ab und kletterte über die Mittelkonsole. Schlang die Arme um ihn und streichelte ihm den Rücken. Ich zitterte. Was hatte ich nur angerichtet? Mit geschlossenen Augen hielt ich ihn fest, wünschte, ich hätte nichts gesagt, wünschte, ich könnte es zurücknehmen.

»Natürlich hab ich dich lieb. Tut mir leid. Ich will weiter bei dir wohnen. Tut mir leid«, sagte ich flehend.

»Bist du dir sicher?« Seine Schultern hörten allmählich auf zu beben, und er wischte sich die Tränen weg.

»Ja, ich bin mir sicher. Ich will bei Mom und bei dir wohnen.«

Als er sich so weit beruhigt hatte, dass er nur noch schniefte, setzte ich mich wieder hin und schnallte mich an.

»Ich hab dich so lieb«, sagte er, als er den Motor startete.

Der Kies knirschte, während er zurücksetzte.

»Ich dich auch.«

Und dann fuhren wir nach Hause.

Als wir ankamen, war es, als wäre nichts gewesen. Das Ganze schon wieder vergessen. Vorhin allein im Auto hatte er mich verzweifelt gewollt, aber kaum saßen wir beim Abendessen, schaute er mit finsterer Miene auf seinen Teller. Das Schweigen verdarb mir den Appetit, oder war es mein schlechtes Gewissen? Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst.

Noch am selben Abend rief er meine Mutter an und teilte ihr mit, dass ich es mir anders überlegt hätte. Er erklärte, ich hätte nur deswegen dauerhaft bei ihr leben wollen, weil ich den Hund vermisste. Ich kann mir richtig vorstellen, wie sein Stirnrunzeln sich in ein hämisches Grinsen verwandelte, als er ihr die Neuigkeit überbrachte.

Meine Mutter sprach es nie wieder an. Wir redeten nicht mehr davon. Ich selbst hatte viel zu große Angst, um auch nur ein einziges weiteres Wort darüber zu verlieren. Im Auto hatte ich gesehen, wie es meinem Vater das Herz brach, wie er sich, überwältigt von seinen Gefühlen, förmlich vor meinen Augen auflöste. Nie zuvor hatte ich ihn so erlebt. Du hast etwas Schreckliches getan , dachte ich. Ich wusste, ich durfte ihn nie wieder so verletzen und auch sonst keinen Menschen. Und so pendelte ich weiter zwischen den Haushalten hin und her. Das schien die Wogen zu glätten.

Inzwischen verstehe ich, wie solche Momente – zwischen meiner Mom, meinem Dad und mir – die Dynamik in meinen späteren Beziehungen beeinflussten. Ich schob meine Gefühle beiseite, weil ich fürchtete, sie könnten zu Problemen führen, hielt Situationen viel länger aus, als gut gewesen wäre, verheimlichte meine Wahrheit. Das führte jedes Mal unweigerlich zu noch größerem Schaden und mehr Verletzungen. In vielerlei Hinsicht war ich schwierig für andere Menschen – meine Stimmungsschwankungen, mein Dichtmachen in Kombination mit dem Bedürfnis wegzurennen, meine Unaufrichtigkeit, weil ich so eine irrationale Angst hatte.

Doch es lohnt, sich durch den Schlamm zu wühlen.

Kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag beschloss ich, den Kontakt zu meinem Vater abzubrechen. Ich konnte meine Gefühle nicht mehr unterdrücken. So viel Angestautes, dass der Zusammenstoß unvermeidlich war. Ich hatte unbewusst so lange weitergemacht, bis nichts mehr ging. Zum ersten Mal erkannte ich die Tatsache, trans zu sein, selbst an, erlaubte diesem Wissen, sich ungehindert zu entfalten, kurze Momente, ein Aufblitzen, nach dem ich bewusst griff, statt es nur mit den Fingern zu streifen. Und dieses Begreifen machte bei meiner Geschlechtsidentität nicht halt. Ich fing endlich an, mich aus meiner toxischen Familiendynamik zu befreien, war endlich in der Lage, Worte für das Ungesagte zu finden, den Schlüssel, um ihre beständigen Manipulationen zu durchbrechen.

Ich schrieb ihm eine kurze, direkte E-Mail, dass ich Abstand bräuchte und für einige Zeit nicht mehr nach Hause kommen würde. Bis dahin hatte ich mir nie erlaubt, ihm gegenüber den Mund aufzumachen, zur Sprache zu bringen, was mir in diesem Haushalt widerfahren war und welche Auswirkungen das auf mich hatte. Seine Antwort fiel erwartungsgemäß nicht gut aus. Er übernahm keinerlei Verantwortung für das, was ich ihm vorwarf, sondern leugnete es sogar rundheraus.

Als ich Anfang zwanzig war, hat mein Vater einmal eingeräumt, dass Linda mich schlecht behandelt hatte. Ich war auf einem meiner seltenen Besuche zu Hause, und mein Vater und ich saßen in einem kleinen, gemütlichen Café in der Innenstadt, auf der Hollis Street. Die Distanz zwischen uns war spürbar.

»Ich habe das Gefühl, du vermisst uns gar nicht, du willst uns nie sehen«, sagte mein Vater.

Unsicher, wie ich darauf reagieren sollte, blickte ich runter auf meinen doppelten Americano. Selbst als der Vater meiner Stiefgeschwister starb, war ich nicht zur Beerdigung gekommen. In der Therapie konnte ich nicht erklären, warum, ich hatte keine Antwort darauf. Lag weinend auf dem Boden, im Bauch einen stechenden Schmerz unbekannten Ursprungs, wie lauter Nägel. Ich hatte mich körperlich einfach nicht dazu in der Lage gefühlt. Es wäre nur verständlich, wenn meine Geschwister es mir insgeheim immer noch nachtragen würden.

»Ich fühle mich meilenweit entfernt von dir«, fuhr er fort.

Ich hatte nicht vorgehabt, dieses Gespräch zu führen, es kam einfach aus mir raus.

»Linda war ziemlich schrecklich zu mir, als ich klein war, und das hat was mit mir gemacht. Es fällt mir schwer, nach Hause zu kommen und mit euch zusammen zu sein«, sagte ich.

Er stimmte eifrig zu, wirkte erleichtert, alles auf sie abwälzen zu können. Damals war ich noch nicht fähig, ihn auch auf andere Dinge anzusprechen.

»Warum hast du nichts dagegen unternommen, wenn du es doch wusstest?«

»Hab ich doch. In neunzig Prozent unserer Streits ging es um dich.«

Ich spürte einen Funken Hoffnung – diese Macht, die Familie über uns haben kann. Doch dann erzählte er Linda von unserem Gespräch, und es versetzte sie total in Aufruhr. Sie schrieb mir umgehend einen langen Brief, eine Entschuldigung, die weniger eine Entschuldigung als eine Rechtfertigung war, indem sie alle möglichen Gründe für ihre Feindseligkeit mir gegenüber aufzählte. Dabei war ich doch nur ein Kind. Und ihre Gründe hatten eigentlich allesamt nichts mit mir zu tun.

»Du solltest Linda verzeihen«, sagte mein Dad zwei Tage später zu mir. »Das wird dir sicher guttun.«

Ich gab nach. Ich musste es sagen. So kam es mir jedenfalls vor, wie eine Verpflichtung. Um ihrer beider willen, aber vor allem seinetwegen. Wieder so ein Moment – der Körper erstarrt, auf Autopilot, die Worte ausgefahren wie Puffer für eine sanfte Landung. Wie beim Schreiben dieser Geburtstagskarten, mit ferngesteuerter Hand. Wir weinten und umarmten uns.

Linda sagte, es täte ihr leid, sie hätte mich lieb.

»Ich verzeihe dir«, sagte ich. Aber ich habe ihr nicht verziehen, zumindest bis heute nicht.

Später, als ich dreißig war, hatte mein Vater diese Kontrolle über mich verloren. Auf einmal durchschaute ich ihn, entsetzt, dass ich es nicht vorher schon getan hatte, und legte endlich den Reflex ab, meine Gefühle zu missachten, mich selbst unsichtbar zu machen.

Mittlerweile habe ich seit fünfeinhalb Jahren nicht mehr mit meinem Vater gesprochen. Meine erste E-Mail, in der ich ihm geschrieben hatte, dass ich Abstand bräuchte und sie eine Weile nicht besuchen würde, war nicht gut angekommen. Seitdem hat es immer mal wieder unerfreuliche Mail-Wechsel gegeben, aber das war auch schon das höchste der Gefühle. Vor nicht allzu langer Zeit schlug ich vor, dass wir im Rahmen einer Mediation gemeinsam mit einer Person aus der Familientherapie zoomen, aber Stand heute, während ich das hier schreibe, will er das nicht, er will sich nur mit mir allein treffen. Wenn ich allerdings unsere bisherige Kommunikation bedenke, wäre das wohl nicht besonders ergiebig.

Ehrlich gesagt ist es für mich schwer vorstellbar, wieder eine Beziehung mit meinem Vater und Linda aufzubauen. Ich schätze, ihre Feindseligkeit mir gegenüber hat sich während der letzten Jahre ohne Kontakt nur noch gesteigert; ihre Social-Media-Aktivitäten deuten darauf hin. Dennis und Linda unterstützen Personen mit riesigen Plattformen, die mich in großem Stil angegriffen und lächerlich gemacht haben. Ich bin immer wieder Zielscheibe massiver Hassattacken, nicht weil ich verletzende Witze gemacht hätte, sondern einfach weil ich existiere. Anscheinend gibt es mehr Menschen, die diese Angreifer*innen unterstützen, als solche, die sich hinter trans Menschen stellen, wenn sie Grausamkeit und Gewalt ausgesetzt sind.

Direkt nach der Freischaltung von Jordan Petersons Twitter-Account, der gesperrt worden war, nachdem er einen entsetzlichen Tweet über mich abgesetzt hatte, postete er ein Video, das nur seinen Kopf zeigt, in Großaufnahme. Er blickt drohend in die Kamera und sagt: »Wir werden schon sehen, wer hier wen cancelt.« Diesen Tweet hat mein Dad gelikt. Ich habe keine Ahnung, was mein Vater gerade über seinen Sohn denkt, wie er über mich spricht und wie er meine Abwesenheit erklärt. Ich weiß nur, dass er mir die Schuld gibt, mir, der kleinen Bremsspur, dem Grund für diese unschöne Situation.

 

Nachdem ich den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen hatte, erreichte ich den absoluten Tiefpunkt. Die Last all dessen, womit ich aufgewachsen war, traf mich mit aller Macht, und ich konnte mich nicht mehr verstecken. Mein Leben war schon immer ein einziges Auf und Ab gewesen, und dieses Tief erinnerte mich an die Zeit, als ich neunzehn war und meine Karriere gerade Fahrt aufnahm. Damals war ich nirgendwo richtig zu Hause, hatte keine feste Basis. Ich reiste pausenlos umher, von einem Projekt zum nächsten, war auf Promo-Tour, immer allein. Die ständige Einsamkeit rächte sich.

Eine Frau, die ich noch aus Kindertagen kannte, bot mir an, bei ihr in Brooklyn unterzukommen – eine Geste, die ich nie vergessen werde. Seit sie mit der Mutter einer Highschool-Freundin zusammengekommen war, pendelte sie zwischen Halifax und Brooklyn. Ihre Beziehung mit der Mom meiner Freundin faszinierte mich. Die beiden spielten in ihrer völlig eigenen Liga, ließen sich durch nichts einschränken. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich Julia zum ersten Mal begegnete. Ich war sechzehn und übernachtete bei meiner Freundin. Ich lag in einem Nest aus Decken auf dem Fußboden, den Hoodie über meinen erst kürzlich geschorenen Kopf gezogen. Sie kam ins Zimmer, und ich grinste sie an. Ihr Blick war voller Herzlichkeit, sie strahlte etwas Vertrauenerweckendes aus. Sie sah das Geheimnis, das ich in mir trug. Ich spürte es und konnte mich in diesem Wissen entspannen. Bei ihr fühlte ich mich immer wohl und geborgen.

Julia schlug mir vor, meinen nie ganz ausgepackten Koffer in ihrem Loft in Brooklyn zu lassen und mir dort ein Zuhause zu schaffen, eine Basis, zu der ich zwischen den Drehs zurückehren konnte. Weniger Umhertreiben. Das Loft hatte nach hinten raus zwei kleine Zimmer, und dazwischen stellte sie zwei Paravents aus Papier auf, die wir in Chinatown kauften, und trennte so eine kleine Nische für mich ab. Ich kam und ging, reiste permanent für die Arbeit herum, aber diesen festen Ort zu haben, noch dazu einen queeren, war enorm wichtig für mich.

Julia und ich standen beide immer extrem früh auf, und dann kochte sie starken, köstlichen Kaffee, total fancy auf dem Herd. Kurz nach Sonnenaufgang gingen wir mit den Hunden, Scooby und Dolly, raus und liefen einmal um den Fort Greene Park. Unsere Beziehung entwickelte sich. Irgendwann war ich mit Julia enger befreundet als je mit meiner Highschool-Freundin. Ich wohnte gern bei ihr. Seit ich zehn war, hatte ich einen Großteil meines Lebens in Gesellschaft Erwachsener verbracht, und in Julias Gegenwart fühlte ich mich wohler als unter Gleichaltrigen. Mit ihr konnte ich über Themen sprechen, über die ich mit anderen nie geredet hätte, wie meine Verliebtheiten und mein Queersein.

Julia wurde zu einer meiner besten Freundinnen, zu meiner Familie.

Als ich schließlich nach Los Angeles zog, gab ich meine Basis bei ihr auf. Doch jedes Mal, wenn ich für Interviews nach New York kam, verbrachten wir unendlich viel Zeit zusammen in den schicken Hotels, in denen ich untergebracht war. Im Regency, Mercer, London, Mandarin Oriental, Crosby, Bowery … Sie war mein Rettungsanker, als ich noch nicht out war, und behielt diese Rolle noch bis weit in mein Erwachsenenalter hinein.

Als ich den Kontakt mit meinem Vater abbrach, geriet ich in eine Abwärtsspirale. Ich befand mich am Rande des Zusammenbruchs, mein mentaler Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Ich wollte nicht mehr weiterleben. Ich wusste einfach nicht, wie. Von Los Angeles aus rief ich Julia an und fragte, ob sie zu mir kommen könnte. Ich wusste, was passieren würde, wenn ich allein bliebe. Mein Anruf schockierte sie – ich bat so selten um Hilfe. Sie ließ alles stehen und liegen, nahm sich eine Woche frei und flog nach L.A.

Während Julia in der Stadt war, saßen wir inmitten kuscheliger Decken auf meinem Wohnzimmerboden, in einem schützenden Nest, wie das, in dem ich lag, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Sie half mir, meinen Körper zu nähren, brachte mich zum Lachen. Ich quasselte sie mit dem immer gleichen Mist voll, und sie hörte mir zu. Egal, wie empfindlich, traurig oder aufgebracht ich war, bei Julia konnte ich alle Gefühle zulassen.

In einer Welt, in der Queersein uns nur allzu oft von unserer Herkunftsfamilie entfremdet, bin ich für Julia und meine Wahlfamilie unendlich dankbar. Ohne sie wäre ich nicht hier.