SAID
Es hatte getaut, endlich wurde es wärmer. Mittags kam die Sonne heraus. Maria packte den Kleinen in seinen Anorak und cremte ihm das Gesicht ein. Er sollte auch etwas haben vom ersten Vorfrühlingstag. Sie schob den Sportwagen in den kleinen Park, wo sie ihn ein bisschen laufen ließ, er torkelte dabei wie ein Betrunkener, das sah lustig aus. Mit dem Laufen war er sehr früh dran, er war nicht einmal ein Jahr alt. Einkaufen musste sie auch noch. Sie kaufte Kuchen, zwei Stück Bienenstich. Die süße Creme in der Mitte mochte er gern. Den Boden und den harten Deckel mit den Mandeln aß sie. Ein Teil der Zeitung lag noch zu Hause herum, die ersten Seiten mit der Politik hatte Richie mitgenommen. In den Pausen, die der Kleine ihr ließ, war der Haushalt dran, Spülen und Bügeln. Frank schrie neuerdings oft, weil endlich die Zähne kamen, da gehörte er eher zu den Nachzüglern. Bis das Zahnen anfing, war er meistens lieb gewesen. Ein ruhiges Kind. Freundlich. Auch hübsch, aber das dachten wahrscheinlich alle Mütter. Als er immer weiter schrie, setzte Maria das Bügeleisen ab und holte aus dem Kühlschrank einen Eiswürfel, an dem er lutschen konnte. Eis betäubt den Schmerz.
Mit Richie lief es nicht schlecht. Aber gut lief es auch nicht. Richie machte jede Menge Überstunden, vielleicht auch nicht. Vielleicht machte er mit anderen rum. Bei dem Wort »Überstunden« denken viele sofort »Seitensprung«, ähnlich, wie man beim Huhn ans Ei denkt. Es konnte auch sein, dass Frank ihn mit seinem Geschrei nervte oder dass ihn plötzlich der Ehrgeiz gepackt hatte. Aber das war Maria inzwischen schon beinahe egal.
Sie hatten sich das beide anders vorgestellt. Obwohl es ja jedem denkenden Menschen klar sein musste, dass es so kommen würde. Wie sollte sie denn Geld verdienen? Ich habe nichts vorzuweisen, dachte Maria, nichts außer mir selber. Und das ist zu wenig. Sie war auf diesen Elektriker angewiesen, diesen lieben Kerl, der sie alle im Schweiße seines Angesichts und mit seinen Überstunden über Wasser hielt, der sogar einen absurd teuren Kühlschrank angeschafft hatte und dafür vermutlich Dankbarkeit erwartete. Die bekam er aber nicht. Richie tat, was er konnte, und auch das war leider zu wenig.
Das Wort »leider« meinte Maria ernst. Es wäre doch ganz schön, mit dem Leben zufrieden zu sein, oder? Du arbeitest 16, 17 Stunden am Tag, wie alle Mütter es tun, folglich ist dies der übliche Lauf der Dinge. Und wenn du am Sonntag nach der Kirche tatsächlich mal in Ruhe ein Stück Bienenstich essen darfst, durchströmen dich Glückswallungen. Je blöder du bist, desto leichter bist du zufriedenzustellen. Aber Maria hatte nun mal vom Baume der Erkenntnis gegessen. Das war nicht rückgängig zu machen.
Wie sollte sie aus dieser beschissenen Lage wieder herauskommen? Ihre ersten, frühen Zukunftsmodelle liefen darauf hinaus, sich jemand anderen als Richie zu suchen. Das war realistisch. Aber auch das hätte nichts genützt. Ein Mann, der sagt, du machst jetzt dein Abitur nach, dann studierst du, ich bezahle das, und wenn du von der Uni nach Hause kommst, darfst du mit dem Kleinen zusammen sein, solange du möchtest, ich bügele inzwischen, davon träumst du doch nur. Maria verstand das sogar. Jeder hat nur ein Leben. Sie konnte nicht erwarten, dass ein Mann sein Männerleben für sie opfert, wenn nicht einmal jemand wie Richie das tat. Ich sitze auf der Insel Alcatraz fest, dachte sie manchmal, eine Gefängnisinsel, umgeben von kaltem Wasser mit starken Strömungen. Flucht ist unmöglich. Es nützt nichts, wenn du schwimmen
kannst.
Dieser Gedanke machte sie rasend. Manchmal wäre sie am liebsten mit dem Kopf gegen die nächste Mauer gerannt. Aber dann wurde ihr allmählich klar, dass sie es selbst hinbekommen musste. Sie musste aus eigener Kraft da raus. Wer sollte das schaffen, wenn nicht sie? Es musste doch irgendwelche Kurse geben. Sie schob Frank zum Arbeitsamt, nahm ihn auf den Arm, stieg in den zweiten Stock und fragte höflichst, wie das geht mit dem Abitur in der Seniorenklasse über zwanzig. Mit der Post ließ sie sich Beispiele von Prüfungsbogen kommen. Lächerlich. Zwei Drittel der Fragen konnte sie aus der Lamäng beantworten, die Liebfrauenschule und Schwester Immaculata seien gepriesen. Nur Mathematik würde hart werden, da musste sie wohl büffeln. Es wäre idiotisch gewesen, Richie in die Wüste zu schicken, wozu denn? Maria war immer noch davon überzeugt, dass er zu den besten 25 Prozent gehörte, von dem, was auf dem Markt war. Man steigt doch nicht aus dem Bus aus, um an der gleichen Haltestelle den nächsten Bus zur gleichen Endhaltestelle zu nehmen.
Zu dieser Zeit glaubte sie, sich so sicher im Griff zu haben wie nie zuvor in ihrem Leben. Durch den schwarzen Nebel der Verzweiflung strahlte in ihr ein Licht der Hoffnung. Und der Kleine strahlte ja auch, der Kleine brauchte sie. Ich bin die einzige Chance, die er hat, damit es ihm mal besser geht als mir. Der Kleine ist ja nun auch Teil meines Lebenswerks. Mir muss es gut gehen, damit es ihm auch gut geht.
Er war unglaublich süß. Er roch so wunderbar. Es war für sie beinahe wie Sex, wenn sie dieses Kind im Arm hielt und an ihm roch, anders zwar, aber genauso stark und überwältigend. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Du kannst nichts dafür, Frank, gar nichts, du sollst das nicht
ausbaden, Süßer.« Sogar der Geruch seiner Scheiße gefiel ihr.
Vor Franks Geburt war sie schon ein paar Mal schwanger gewesen, weil das Aufpassen nicht Richies Stärke war. Die Folgen hatte sie immer irgendwie abbiegen können. Nicht einfach, das zu organisieren, nicht ohne Risiko. Auf die Glückshormone, die so ein Kind hervorkitzelt, wenn es erst einmal da ist, war sie nicht vorbereitet. Das haute sie um. In der ersten Zeit fühlte sie sich ständig beschickert von diesem Glück, leider verging das. Allmählich hob sich wieder der Vorhang, der sich in den ersten Monaten zwischen ihr und der restlichen Welt befunden hatte. Der ungeschönte Anblick der Realität, in der sie sich befand, war geeignet, sie ein zweites Mal umzuhauen.
Wenn Richie nach Hause kam, so um sieben meistens, machte er nach spätestens zehn Minuten den neuen Fernseher an, der war teuer gewesen. Er hatte, wie schon beim Kühlschrank, einen Ratenvertrag abgeschlossen. Hin und wieder lud er Freunde ein. Der Fernseher, Maria, das Kind, er hatte ja einiges vorzuzeigen. Die Freunde, meistens zwei Dünne mit Brille und ein Dicker mit schwarzem Vollbart, saßen im Wohnzimmer, schauten mit dem Gastgeber fern und spielten Karten, nachdem sie Maria – der Hammer, deine Alte! – und das Kind – ganz der Vater! – besichtigt hatten. Dann zog Maria sich mit Frank in das bescheidene Schlafgemach zurück. Gelegentlich schreckten beide hoch, wenn einer der Freunde »Wenn du Pik hast, musst du auch bedienen« brüllte oder »Den spielt meine Großmutter im Schlaf«. Zum Glück verlangte Richie niemals, dass Maria Käseeckchen vorbereitete oder in der Kneipe Nachschub holte, wenn das Bier alle war. In diesem Fall schickte er einen der Freunde, der gerade pausierte, Skat spielt man zu dritt. An solchen Verhaltensdetails, sagte sich Maria, erkannte man wohl die besten 25 Prozent auf dem Männermarkt.
Als Richie an diesem Tag nach Hause kam, fragte er wie meistens: »Na, meine Hübschen, was habt ihr heute Schönes gemacht?« Maria sagte: »Frank kriegt schon wieder ’nen Zahn. Er lutscht gern an Eiswürfeln.«
Richie holte einen Eiswürfel und hielt ihn Frank vor das Gesicht. Der Kleine wischte das Eis mit seinen speckigen Ärmchen weg. Richie war ein bisschen beleidigt, aber versuchte, es nicht zu zeigen. »So gut wie Mama kann ich das nicht, schon in Ordnung.«
Dann sagte Richie, dass er demnächst auf Montage gehe. Es gab ein Riesenprojekt in Hamburg. Irgendwas im Hafen. »Es wird gut bezahlt. Das Doppelte. Sechs Wochen, voraussichtlich.«
»Das heißt, du bist sechs Wochen weg?«
Richie antwortete nicht sofort, sondern ging an den Kühlschrank und begann, das Abendessen für sie alle vorzubereiten. Er erwartete nicht, dass Maria Abendessen machte oder gar kochte. Genauso wenig, wie er erwartete, dass sie Käseeckchen für seine Freunde vorbereitet. »Ich weiß doch, was du mit Frank alles um die Ohren hast.« Das hatte er gesagt, und daran hielt er sich. Womöglich gehörte er sogar zu den besten 15 Prozent.
»Ich kann auch absagen, Maria.«
Richie setzte sich an den Küchentisch, den er gedeckt hatte. Maria dachte: Das ist gelogen. Er blufft. Bei einer Absage kriegt er sicher Ärger. Aber er weiß, dass ich zu den sechs Wochen nicht Nein sagen kann. Das Doppelte. Fernseher, Kühlschrank, der Kleine, alles nicht billig. Ein Hauptgewinn, dieses Hamburg-Projekt. Was hatte sie ihm im Tausch für diesen Haufen Geld anzubieten? Die Vernunft war auf seiner Seite, und das wusste er. Er sah zufrieden aus. Maria dachte: Ich bin ein Löwenfell, das zu seinen Füßen liegt, und dieser Löwe ist sogar schnurrend auf den Jäger zugelaufen. Sie hatte schließlich ihn vor der Schule angesprochen, damals, nicht er sie.
»Dann sag es ab.«
Natürlich war Richie verblüfft. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. »Gut. Aber warum denn?«
»Weil ich nicht sechs Wochen lang den Haushalt und den Kleinen allein am Bein haben will, sogar am Wochenende, und nicht sechs Wochen lang mutterseelenallein sein will, deshalb. Scheiß auf das Geld.«
»Scheiß drauf ist leicht gesagt. Ein Urlaub wäre mal schön, Italien, wie findest du das?«
»Ich will das Abitur nachmachen. Dazu brauche ich drei Monate. Normal ist ein Jahr. Aber ich schaffe das. Garantiert. Ich hab mich informiert. Nimm dir drei Monate frei.«
»Und dann?«
»Dann studiere ich. Es gibt Stipendien. Wie gesagt, ich hab mich erkundigt.«
»Das Stipendium ist für eine Person. Und wovon sollen wir leben, Frank und ich?«
»Von Rosalies Erbe. Du weißt, dass sie mir was hinterlassen hat. Nach Abzug der Schulden sind 6000 übrig.«
»Das reicht doch nicht.«
»Ich geh nebenbei putzen, wenn es sein muss. Das hab ich bei meiner Tante auch gemacht. Ich will das, verstehst du. Ich werde es schaffen.«
Richie lächelte. »Du willst nicht, dass ich nach Hamburg gehe. Verstanden. Ich würde dich auch vermissen.« Dann drehte er den Kopf weg, Richtung Kühlschrank. Er schämte sich wegen der Lüge, die er jetzt aussprechen würde.
»Ich kann nicht einfach so drei Monate aussetzen. Die feuern mich.«
»Elektriker sind gesucht.«
»Ja. Schon. Ich müsste woanders von vorne anfangen.«
»Mach das, Richie. Fang von vorne an. Ich kenn dieses Gefühl.«
Richie sagte nichts.
»Wenn ich mit dem Studium fertig bin, werd ich ein Schweinegeld verdienen, das schwöre ich dir. Du kennst mich. Ich werd sie alle an die Wand drücken. Dir wird’s an nichts fehlen. Wir kaufen ein Haus in Italien. Mit Garten und einem kleinen Pool für Frank. Du musst jetzt einfach für vier, fünf Jahre die Arschbacken zusammenkneifen, Richie. Anschließend regnet es Manna.«
»Hamburg sage ich ab. Ich werd mir eine Geschichte ausdenken, die sie mir abkaufen. Über den Rest müssen wir ein anderes Mal reden.«
»Warum ein anderes Mal, gottverfluchte Scheiße?«
»Du hast gewusst, wer ich bin. Ich bewunder dich. Du bist schlauer als ich. Aber ich werd nicht dein Haustier sein. Ich werd nicht von deinem Geld leben.«
Maria stand wortlos auf, nahm Frank auf den Arm und ging ins Schlafzimmer. Richie folgte ihnen nicht. Nach einer Weile hörte sie den Fernseher. Sie hatte sich im Griff, das immerhin, sie explodierte nicht. Das Verrückte war, dass sie gerade eben genau das Gleiche hätte sagen können wie er, Wort für Wort. Abgesehen von dem Satz »Du bist schlauer als ich«. Sie verstand Richie einfach zu gut. Er war kein komplettes Arschloch. Ein Heiliger war er noch weniger. Sie beide waren in einer Zwickmühle gefangen.
Richie fuhr nach Hamburg. Das sagte er Maria erst am Vorabend seiner Abreise, dabei entschuldigte er sich ungefähr tausend Mal. Er brachte Blumen.
»Die finden sonst keinen. Der Chef hat alles probiert. Ich kann den nicht hängen lassen.«
Bestimmt hatte er gar nicht erst gefragt. Für so etwas besaß Maria Antennen. Und sie wusste, dass es in seiner Firma mindestens ein halbes Dutzend Männer gab, die ungefähr das Gleiche konnten wie er. Vielleicht war er der Beste, der Einzige war er nicht. Er hatte nicht gefragt, weil er nicht fragen wollte.
Aber Richie war nun mal kein komplettes Arschloch. Er hatte eine Babysitterin organisiert. Marias Tante Wilma war bereit, drei Abende pro Woche und einen Nachmittag pro Wochenende auf Frank aufzupassen. Gegen Bares. Richie hatte Vorkasse geleistet. Dieses Geld war eigentlich für den Kauf einer Waschmaschine bestimmt. Maria musste immer noch in den Waschsalon, rechte Hand am Kinderwagen, in der linken Hand den Wäschesack. Das machte sie aber bei Richie nicht zum Thema, obwohl es sie schier übermenschliche Kräfte kostete.
»Ich habe es dir prophezeit.« Dies waren Wilmas erste Worte, als sie die Wohnung betrat. »Du wolltest es nicht anders.«
Wilma sagte, dass Maria wie eine alte Schachtel aussehe und dass sie ihr jetzt erst mal die Haare macht, mit Färben und allem Pipapo. Augenbrauen zupfen! Maniküre! Flächendeckender Abwurf von Kosmetika!
»Jetzt siehst du endlich wieder wie ein Mensch aus«, sagte Wilma und stellte Maria vor den Spiegel. Sie erkannte sich wirklich kaum wieder.
»Du kannst das gut, Wilma.«
»An der Figur kann sogar ich auf die Schnelle nichts ändern. Aber das, Schnuckelchen, ist in deinem Fall zum Glück unnötig. Una bellissima bionda, wie der Lateiner sagt.«
Maria verbrachte also sechs Wochen lang jeweils drei Abende im Tanzcafé, das sich kaum verändert hatte. Und sie machte reichlich Beute, reiche Beute zu ihrem Bedauern nicht. Meistens kehrte sie erst in den frühen Morgenstunden aus Junggesellenapartments, Hotelzimmern oder auch mal einem schlecht beheizten Hausflur zurück und löste Wilma ab, die schnarchend auf dem Sofa lag. Wilma besaß die Gabe, aus Marias morgendlichem Zustand überraschend präzise Rückschlüsse auf den Verlauf der zurückliegenden Nacht zu ziehen.
»Na, das war wohl ein ganz Wilder.«
»Den kannst du vergessen. Ein Gentleman macht einer verheirateten Dame keine Knutschflecke.«
»Ach je. Aber Kleinvieh macht auch Mist.«
»Ui, ui, ui, den musst du dir aber warmhalten.«
Als Richie zurückkam, roch er den Braten natürlich. Er sagte nichts. Er war schuldbewusst. Es war doch klar, dass so etwas passieren würde.
Maria dachte: Lässt man einen heißen Feger wie mich einfach so allein? Ja, das kann man durchaus machen. Aber verbrät man außerdem, um sich freizukaufen, das gesparte Geld für die Waschmaschine, statt in der Firma um einen Vorschuss zu bitten?
Richie war nicht der Typ, der seinen Kummer still in sich hineinfrisst. Er war eher der Typ, der seinen Kummer still in sich hineinschüttet.
Maria vermutete, dass er, im Rahmen seiner vom Alkohol gesetzten Grenzen, spätestens jetzt ebenfalls fremdging. Sie selbst war mit ihren neuen Bekannten terminlich so ausgelastet, dass er nur noch selten auf seine Kosten kam. Und er sah, auf seine Art, genauso attraktiv aus wie sie. In diesem Punkt herrschte Chancengleichheit.
Allerdings musste Maria ihm lassen, dass er, bis zu dem schlimmen Morgen, bei seinen Abenteuern diskreter vorging als sie. Ihr fiel nie etwas auf. Maria sagte einfach: »Ich geh dann mal, bis irgendwann, tschüss«, und ließ ihn am Abendbrottisch bedröppelt sitzen, mit Frank, der in die Trotzphase kam und nicht mehr ganz so pflegeleicht war. Wenn sie um drei oder vier Uhr morgens nach Hause kam, lag Richie, mit Frank im Arm oder auf dem Bauch, schlafend auf dem Sofa. Der Fernseher zeigte das Testbild. Das dreckige Geschirr stand auf dem Couchtisch. Wilma hätte es weggeräumt. Der alte Richie, der Richie vor der Montagereise nach Hamburg, hätte das Geschirr auch weggeräumt. Aber Maria hielt ihm deshalb keine Vorträge. Er hielt ihr ja auch keine. Er fragte nie, wo sie bis vier Uhr eigentlich gewesen war. Vorwürfe von Marias Seite wären unfair gewesen, das sah sie ein.
Wenn Richie auf Montage war, rief Maria aus der Telefonzelle bei Wilma an, die manchmal kam und manchmal auch nicht. Für die paar Mark, die Maria ihr geben konnte, lohnte sich der weite Weg für sie nicht. Wilma kam nur aus Gutmütigkeit, die sie aber nicht in unbegrenztem Umfang besaß. Richie bezahlte Wilma nicht mehr. Kein Wunder in Anbetracht der Faktenlage. Marias Haushaltsgeld reichte für den Haushalt, das war’s im Wesentlichen, viel konnte sie nicht abzweigen. Und sie konnte sich auch im Tanzcafé nicht immerzu von unbekannten Herren einladen lassen, das hätte ihren Ruf ruiniert. Außerdem musste sie manchmal ein Taxi bezahlen, um nach Hause zu kommen.
Also fing sie damit an, manchmal wegzugehen, wenn Frank schlief. Wenn er schlief. Vorher nie. Sie wartete immer, bis der Kleine ruhig und regelmäßig atmete. Einmal hatte sie ein Oberschlawiner – Wilma hätte gesagt: »Ui, ui, ui, den musst du dir aber warmhalten« – zum zweiten Treffen in seine Wohnung bestellt. Maria sah sofort, dass es eine Ehewohnung war. Im Nebenzimmer schlief ein Kind. Der Oberschlawiner: »Wir haben uns vor zwei Wochen getrennt.« Seltsam nur, dass in der Küche eine nur leicht angetrocknete Augenmaske mit Gurkenscheiben stand und die Gattin beim Auszug im Bad ihre Zahnbürste vergessen hatte. Sie machten (ui, ui, ui) einen ganz schönen Radau, bis plötzlich ein Engelchen mit großen, fragenden Augen neben dem Wohnzimmersofa stand.
»So etwas«, dachte Maria, »tut man nicht.« Das eigene Kind in diese Dinge hineinzuziehen, in den Erwachsenenkram, war wirklich das Allerletzte. Ein Mann, der aus Geilheit so etwas nötig hatte, sollte lieber kalt duschen.
Wenn sie gegen Morgen zurückkam, schlief Frank meistens immer noch. Manchmal stand er weinend in seinem Bettchen. Vielleicht wachte er in der Nacht auf, schrie, bis er nicht mehr konnte, und dann, in dem Bewusstsein, ganz und gar allein zu sein auf der Welt, schlief er wieder ein. Niemand wird es je wissen. Es tat Maria weh, daran zu denken. Sie wusste, dass man so was eigentlich auch nicht macht. Wir alle haben unser Ränzlein zu tragen, sagte sie sich, ich, Richie, der Schlawiner, sogar Wilma, alle. Das hier war eben Franks Ränzlein.
Morgens, wenn sie kam, nahm sie den Kleinen in den Arm und flüsterte zärtlich in sein Ohr: »Ich geh nicht weg, ich geh nicht weg, ich geh nicht weg, du bist mein Allerliebster.« Dann schlief er fast immer wieder ein, für zwei Stunden oder länger, in denen sich Maria ein bisschen um die Wohnung kümmerte. Im Lauf der Zeit wurde der Kleine schwieriger, trotziger vor allem. Das schrieb Maria zum Teil sich zu. Aber welche Wahl hatte sie denn? Der Kleine hatte früh gelernt zu laufen und er fing auch früh an zu sprechen. Er entwickelte sich gut.
Maria schaffte es nicht, sich für dieses Geschöpf aufzuopfern, das war ihr klar. Ihr war auch klar, dass man ihr diese Tatsache vorwerfen konnte, vor einem imaginären Gericht. Aber war diese Forderung, die nach Aufopferung, überhaupt legitim? Schade, sagte sie manchmal, als sie viel älter war, dass ich keine Rechtsanwältin werden durfte. Meinen Fall würde ich gern durchfechten.
Anfangs bewunderte sie Richie für seine Engelsgeduld. Welcher Mann lässt es sich gefallen, dass seine Frau am Freitagabend einfach so die Wohnung verlässt und ihm das Kind ans Bein bindet, um anderswo Zerstreuung zu suchen? Und dann am Samstag wieder, ohne Erklärung, ohne Entschuldigung? Warum kämpfte dieser Idiot nicht ein bisschen um sie? Nach und nach schlug ihre Bewunderung in Verachtung um. Richie war gar nicht geduldig. Er war eine antriebslose Amöbe, ein Typ, der die Dinge laufen lässt und blöde auf ein Wunder wartet. Deshalb hatte er es auch in seinem Beruf nie wirklich zu etwas gebracht. Er wurde respektiert, das schon, er war einer der Besten, aber befördert wurden die anderen, die mit mehr Biss. Richie war in jeglicher Hinsicht ein Schlappschwanz, außer in sexueller Hinsicht, da nicht.
Der schlimme Morgen änderte alles.
Irgendwann musste es passieren, dass sie sich nachts über den Weg liefen. Die Stadt war nicht groß. Offiziell arbeitete Richie wieder mal irgendwo im Norden, da hatte er angeblich ein Projekt nach dem anderen. Natürlich vermied er das Tanzcafé, er ahnte, dass Maria dort verkehrte. Aber seit Maria fest mit Said zusammen war, ging sie auch nicht mehr ins Tanzcafé. Wozu denn auch.
Said und Maria saßen im Grünfisch, einem Studentenklub, in dem Maria bis zu diesem Abend noch nie gewesen war. Vorher waren sie bei Said gewesen, sie hatten sich geliebt, bis sie satt waren fürs Erste. Nach dem Grünfisch würden sie noch einmal zu ihm gehen, für den Nachtisch. Sie mochten es, aus dem Bett zu steigen und unter Leute zu gehen, jeder von ihnen roch noch nach dem anderen. Sie mochten es, dass man ihnen ansah, was sie gerade gemacht hatten. Sie mochten es sogar, wenn Leute über sie tuschelten, denn sie wussten, wie gut sie zusammen aussahen und wie zufrieden. Die sollten vor Neid krepieren, diese Spießer, oh weh, ein Ausländer, die sollten sich zu Hause verbittert und hoffnungslos einen auf sie beide runterholen. Sie waren zwei Supernovas, außerhalb ihrer Reichweite.
Said hatte die gleiche Energie wie Maria. Es war nicht in erster Linie das Sexuelle, was sie an ihm anzog. Auch mit anderen Männern, die ihr nichts bedeuteten, hatte sie schöne Stunden erlebt. Said sprach schon nach ein paar Monaten fast perfekt Deutsch. Nebenbei arbeitete er manchmal als Kellner, obwohl er genug Geld von seinem Vater bekam. Sein Examen hatte er schneller gemacht als die meisten, trotz der fremden Sprache. Jetzt saß er mit nicht mal fünfundzwanzig an seiner Promotion, die in ein paar Monaten fertig sein würde. Er tanzte wie ein Gott, las ein dickes Buch nach dem anderen und war zu Hause ein erfolgreicher Ringer gewesen. Sie hätten ihn irgendwann in die Nationalmannschaft aufgenommen, aber das interessierte ihn nicht. Lieber ging er nach Europa und bereitete sich auf eine Karriere als Wissenschaftler vor. Wenn sonst schon nichts läuft in meinem Leben, sagte sich Maria, dann will ich doch wenigstens so einen Mann haben, einen Grand Hand, und nicht einen Null Ouvert. So sagt man beim Skat.
Im Grünfisch würde niemand tuscheln. Said kannten hier viele, er nickte nach links und rechts. Die Studenten kamen aus allen möglichen Ländern. Der Laden lag in einem Keller. Als sie die Treppe hinunterstiegen, sah Maria an der Wand die weißen Buchstaben »LSR«, eine Kindheitserinnerung. Luftschutzraum. Unten war es ziemlich dunkel, die Musik war laut, die Getränke holte man sich an einer Bar, über der rote und grüne Glühbirnen baumelten. Viele tranken Bier aus Flaschen. An den Wänden hingen Plakate. Die Studentinnen waren nicht sorgfältig frisiert und gefärbt wie Maria, sie ließen ihre Haare einfach wachsen.
Sie war noch nie an so einem Ort. Sie kannte nur die üblichen Tanzlokale, für die man sich in Schale schmeißt und wo Kellner Bestellungen aufnehmen. Es kam ihr vor, als gehörte sie zu einer anderen Generation, einer älteren. In Wirklichkeit war sie ungefähr genauso alt wie die meisten anderen Gäste im Grünfisch. Ich bin hier die Einzige, die kein Abitur hat, dachte sie kurz, bis morgen, wenn die Putzfrauen kommen. Ich bin die Supernova aus einer anderen Galaxie. Dann tanzten sie wild und hart, ohne sich anzufassen. Auch das kannte sie nicht.
So begann der schlimme Morgen.
Richie kam gegen Mitternacht. Die Frau, die er dabeihatte, war sicher eine Studentin, sie trug enge Jeans und Stiefel mit hohen Absätzen, weil sie klein war, dazu eine schwarze Bluse. Die Haare waren kurz und dunkel wie bei Audrey Hepburn in »Sabrina«. Sie musste ungefähr zwanzig sein. Richie trug sein kariertes Ausgehjackett, das hier deplatziert wirkte, er schaute sich unsicher um und versuchte, seine Befangenheit zu verstecken, indem er breit grinste. Garantiert war er auch zum ersten Mal hier. Blöder Zufall.
Die beiden gingen gleich auf die Tanzfläche. Sie tanzten nicht zum ersten Mal miteinander, das sah man. Richie bewegte sich wie immer gut, auch ohne Anfassen. Die Studentin, fand Maria, wirkte ein bisschen hölzern. Am Ende des ersten Songs griff sie nach seiner Hand, er lächelte gönnerhaft, fasste sie mit seiner freien Hand um die Hüfte, zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Richies Unsicherheit war jedenfalls schnell verschwunden. Maria stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie eifersüchtig war. Wie oft hätte sie, wenn sie gewollt hätte, im letzten halben Jahr mit diesem Mann ins Bett gehen können? Ungefähr hundert Mal. Und nun, wo sie mit dem Kopf darauf gestoßen wurde, dass er’s mit einer anderen machte, störte es sie. Schon verrückt.
Nach dem Tanzen ging Richie zur Theke und holte zwei Colas, also Flaschen, in denen Strohhalme steckten. Respekt, Richie. Wenn er wollte, konnte er sich mit der Sauferei zurückhalten.
Dann entdeckte er Maria.
Sie sah, wie es in ihm arbeitete. Vermutlich überlegte er, ob er seine Studentinnenaffäre trotz der geradezu überwältigenden Indizienfülle vertuschen konnte und wie er das anstellen würde. Richies Kleinhirn meldete, völlig korrekt: Sorry, no way out.
Er ging zu der Studentin, sagte etwas zu ihr, dann schlenderten beide zu Maria und Said, er lächelnd, sie mit Pokerface. Maria und Said saßen in einer etwas ruhigeren Ecke an einem kleinen runden Bartisch mit zwei Stühlen. Richie ging in die Knie, um auf beider Gesichtshöhe zu sein.
»Hallo, Maria.« Dann zeigte er mit dem Daumen nach oben. »Das ist die Manuela. Sie studiert Germanistik. Manu, das ist Maria.«
Maria sagte: »Das ist mein Freund Said. Das ist Richie, mein Mann.«
»Angenehm.« Richie schüttelte Said die Hand, ohne sich die geringste Irritation anmerken zu lassen. Dass er das falsche Jackett trug, hatte ihm zu schaffen gemacht, Said aber steckte er locker weg. »Ganz schön heiß hier, was?«
Manuela sagte: »Du bist verheiratet?«
Richie sagte: »Wie? Du etwa nicht? Jetzt bin ich enttäuscht.«
Manuela lachte, echt, nicht auf die ironische Art. Sie war offenbar keine Spießerin, das sprach in Marias Augen immerhin für sie. Said wusste natürlich, wie Maria lebte. Dass sie verheiratet war, hatte Maria ihm nie ver-
schwiegen, vom ersten Augenblick an. Sie war halt nicht Richie.
Richie fragte: »Dürfen wir uns dazusetzen?« Es gab bei ihm immer wieder Momente, in denen er dazu in der Lage war, den Stier bei den Hörnern zu packen. Wenn er davon überzeugt war, dass es unbedingt sein musste, konnte er durchaus eine gewisse Klasse zeigen, das musste Maria ihm lassen.
Klar, sie durften.
Said sagte: »Wir kennen uns doch, Manu. Das Heinrich-Böll-Seminar, oder? Ist eine Weile her. Du hast, glaube ich, das Referat über ›Wanderer kommst du nach Spa‹ gehalten.«
»Klar, natürlich, ich erinnere mich, und du? Du hast wenig geredet im Seminar, was war noch mal dein Thema?«
»›Der Zug war pünktlich‹. Kein gutes Referat, ich weiß. Der Titel hat mir gefallen, pünktliche Züge sind eine Stärke der Deutschen.«
»Oh, das Wandern aber auch«, sagte Manu und knipste ein unverbindliches Flirtlächeln an. Schon befanden die beiden sich in einem germanistischen Fachgespräch.
Sie war also hübsch und nicht auf den Mund gefallen. Wie sagte man dazu noch gleich in Richies Kreisen? Hammer, deine Alte. Richie und Maria schwiegen. In dieser Situation gab es für sie erst mal wenig Stoff für eine nette kleine Konversation. Nach ein paar Minuten wandte Richie sich an Said. »Sind Sie schon öfter hier gewesen? Guter Laden. Unkonventionell.«
»Und nicht teuer. Ich bin gern hier, komisch, dass ich Manu nie gesehen habe.«
Und so weiter. Sie machten Small Talk. Richie sagte: »Eigentlich könnten wir uns duzen, oder? Ich bin der Ältere, glaube ich, also muss ich das vorschlagen.«
Said sagte: »Können wir, gern, warum nicht.« Er wirkte leicht pikiert.
Dann fragte Richie, ob Maria mit ihm tanzen möchte. Sie war einverstanden. Nach einer Weile kamen auch Said und Manu auf die Tanzfläche. »Es ist das reinste Idyll«, dachte Maria. Ein unbefangener Beobachter hätte sie für vier alte Freunde gehalten. Wegen Said und dieser Taschenbuchausgabe von Audrey Hepburn musste sie sich keine Sorgen machen, Said hatte ihr ewige Treue und ewige Liebe geschworen. Nicht, dass sie naiv gewesen wäre, aber man spürte es doch, ob einer es ehrlich meint.
Richie fragte: »Was ist denn mit Frank?« Er musste schreien, wegen der Musik.
Maria brüllte zurück: »Was soll sein?«
»Ist Wilma bei ihm?«
»Die konnte nicht.«
»Wer denn dann?«
»Frank kommt zurecht. Er weiß, dass es später wird, er schläft.«
»Lass uns nach Hause gehen, es ist fast zwei. Das packt der noch nicht, da kann alles Mögliche passieren. Da machst du dir Vorwürfe bis an dein Lebensende.« Alles in Fortissimo.
»Du machst dir keine Vorwürfe, oder?«
»Gehen wir.«
»Ich geh erst noch kurz zu Said. Wir treffen uns dann zu Hause.«
Die Musik hörte auf, eine Zehntelsekunde, bevor Richie brüllte: »Ihr könnt genauso gut morgen ficken.«
Alle schauten sie beide an. Der ganze Grünfisch, vom Maul bis zum Schwanz.
Alle vier gingen von der Tanzfläche. Manu verabschiedete sich, morgen früh ist Seminar, für Richie ein Küsschen auf die Wange, mehr nicht. Die war für ihn wohl perdue. Said sagte: »Ihr zwei habt bestimmt eine Menge zu bereden.« Zu Maria sagte er: »Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst. Zu jeder Tageszeit, Liebling.« Er verzichtete auf einen Kuss. Maria war deshalb kurz irritiert. Wahrscheinlich wollte Said vermeiden, dass Richie sich provoziert fühlt. Das hätte Marias Ausgangsposition in dem bevorstehenden Gespräch unnötig verschlechtert.
Richie und Maria gingen zu Fuß.
»Wir haben beide Mist gebaut«, sagte Richie. »Ich bin dir nicht böse.«
»Das hat man gemerkt. Wie großzügig. In Anbetracht der Tatsache, dass du Montagereisen vortäuschst, die du nur machen kannst, weil ich zu Hause den Laden komplett alleine schmeiße. Du denkst tatsächlich, du hättest in meiner Person einen Babysitter engagiert, der dir den Weg in die Betten der Manuelas dieser Welt freiräumt.«
»Wenn’s mit uns besser liefe, müsste ich das nicht machen.«
»Wenn du mit einer Studentin ficken willst, um deine Worte zu gebrauchen, dann hättest du das mit mir leicht haben können. Du hättest nur ein bisschen Einsatz zeigen müssen. Du hättest ungefähr das bringen müssen, was ich zurzeit bringe.«
»Ich will kein Niemand sein. Ich bin auch gut in dem, was ich mache.«
»Bin ich denn ein Niemand, du blödes Arschloch?«
Richie setzte sein Ich-beherrsch-mich-jetzt-Gesicht auf. Dann sagte er: »Sieht nach einer Situation aus, in der es immer einen Verlierer gibt und nie zwei Gewinner, oder? Du willst die Gewinnerin sein, das verstehe ich. Ich will nicht der Verlierer sein. Kann man vielleicht auch verstehen. Ich hab ein Angebot an dich.«
»Du bist kein Verlierer, wenn ich studiere und einen Haufen Kohle mache, Richie. Du könntest so etwas nicht. Wenn man ein Team ist, spielt jeder seine Stärken aus. Lass das Angebot hören.«
»Du machst mit dem Araber Schluss. Ich hab nichts gegen den, der ist ganz sympathisch. Aber glaubst du im Ernst, dass der dich machen lässt, wie du willst? Weißt du, wie die Frauen da leben? Mit dem erlebst du das Gleiche, aber verschärft. Ich verlange keine Treue. Du bist frei. Amüsier dich. Aber es muss klar sein, wer die Nummer eins ist. Du bist meine Nummer eins. Es geht nicht, dass du in der Stadt mit anderen herumziehst. Ich hab meinen Stolz. Ich habe das nur selten gemacht, mit anderen ausgehen, bitte glaub mir das, und ich habe heute gemerkt, wie falsch das war. Ich tue das nie wieder.«
»Ich erkenne nicht, wo in Ihrer Predigt ein Angebot versteckt sein sollte, Hochwürden. Ich sehe nur eine Forderung.«
»Ich geb dir das Geld für dein Studium. Ich gehe zu meinem Vater. Ich bitte ihn, mir einen Teil des Erbes vorzeitig auszuzahlen. Der wird erst mal ablehnen. Aber er mag dich. Mich mag er nicht. Weil es für dich ist, wird er es machen. Bleib bei mir.«
»Said und ich lieben uns. Alles, was du tun würdest, würde er auch tun, und noch mehr.«
»Das hoffst du. Du weißt es nicht. Ich geb mein Wort und werd es halten. Du weißt, dass ich meine Versprechen immer gehalten habe.«
»Ein Versprechen, das du auf Kosten deines Vaters gibst?«
»Wenn er ablehnt, nehme ich einen Kredit auf.«
»Niemand gibt uns so viel Kredit, Richie. Du musst eins wissen. Wenn ich mit Said zusammen bin, ist mir der Rest egal, dann ist das alles, was ich will. Wenn er das verlangt, arbeite ich sogar in Bagdad als Bauchtänzerin, scheiß drauf. Das ist Liebe. Kannst du das nicht kapieren?«
Richie schwieg eine Weile.
»Doch, ich kapiere das. Die Hormone. Da kann man nichts machen. Was soll aus Frank werden? Den liebst du doch auch, oder?«
Maria lachte höhnisch. »Nimmst du ihn etwa?«
»Ich weiß nicht, wie ich das hinkriegen soll. Vielleicht. Ich muss das durchdenken.«
»Dann durchdenke mal.«
»Hauptsache, es geht ihm gut.«
»Klar. Was für ein origineller Satz, Richie. Du bist schon auf dem Rückzug. Sogar dir ist klar, dass die Zubereitung von Käseeckchen eine nicht ganz so anspruchsvolle Aufgabe ist wie die Verantwortung für ein Kind.«
Inzwischen waren sie an ihrer Wohnung angekommen.
Frank war aus seinem Bett geklettert. Er lag im Wohnzimmer auf dem Teppich und schlief. Neben ihm lag eine Flasche Limonade, die er sich aus dem Kühlschrank geholt hatte, ein Teil davon war ausgelaufen. Er hatte sich auch Buntstifte geholt und damit auf der Fernsehzeitschrift Kreise und Striche gemalt.
Maria hob ihn hoch und trug ihn zurück in sein Gitterbett. Als sie ihn hineinlegte, wachte er auf. Er strampelte wild, fast, als ob er noch ein Baby wäre. Er sagte: »Mama, aufstehen?«
»Du kannst ruhig noch ein bisschen schlafen, Süßer.«
»Gehst du weg?«
»Ich bleibe da.«
Frank zog sich an den Gitterstäben hoch und krallte sich an Maria fest, die im Begriff gewesen war, sich aufzurichten. Sie schüttelte ihn mit einer heftigen Bewegung ab. Er fing an zu weinen. So ein großer Junge inzwischen, dachte Maria, hört das nie auf? Sie sagte: »Pssst, es ist noch ganz früh, du musst leise sein.«
Er weinte lauter. Sie hob Frank wieder hoch, auf ihren Arm, und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Richie saß auf dem Sofa, er hatte sich aus dem Kühlschrank ein Bier geholt und starrte ins Leere.
»Hier«, schrie Maria. »Nimm ihn. Üb schon mal.«
Sie setzte Richie den Kleinen auf den Schoß. Und dann ahmte sie Richie nach, seinen belehrenden, pseudobesorgten Tonfall von gerade eben. »Oh weh, was wird aus Frank? Den liebst du doch auch. Zeig mir, wie man’s macht, Klugscheißer. Vatis Fickferien sind vorbei.«
Der Kleine schrie immer weiter. Er führte sich auf wie ein Baby, aber das war er nicht mehr.
Richie stand auf und trug ihn hin und her wie früher, als Frank noch klein war. Er sang leise, das war sein altes Rezept, oft hatte es funktioniert. Diesmal nicht. Vielleicht spürte der Kleine, dass etwas Schlimmes im Gang war. Später würde Maria sagen: »Der Kleine hat als Erster gewusst, was passieren wird.«
Plötzlich klingelte es an der Tür. Maria machte auf. Es war der alte Mann von der Wohnung unter ihnen. Er trug einen gestreiften Schlafanzug. »Ich hab für vieles Verständnis«, sagte er, »aber das geht so nicht weiter. Es ist nicht mal halb vier.«
»Sollen wir unserem Sohn vielleicht eine Schlaftablette geben, wollen Sie das?«
»Jetzt werden Sie mal nicht schnippisch. Wenn das hin und wieder vorkommt, sag ich nichts. Ich hab auch Kinder gehabt. Aber Ihr Satansbraten schreit stundenlang, und das drei Mal die Woche. In dem Alter noch! Ich hab schon ein paar Mal bei Ihnen geklingelt, aber niemand hat aufgemacht. Ist der womöglich allein? Das nächste Mal ruf ich die Polizei. Das hätte ich schon längst machen sollen. Die öffnen die Tür.«
»Du schmieriger alter Bock. Wasch dir mal die Haare.«
»Gesocks.«
Maria warf die Tür mit aller Kraft zu.
Richie kam in den Flur, Frank im Arm, und sagte: »Wir müssen uns morgen bei dem entschuldigen.«
»Wir?«
»Du.«
»Weil ich das Gleiche gemacht hab wie du? Weil ich vor Pflichten abgehauen bin, die du nicht mal als Pflichten erkennst? Ich hab wenigstens ein schlechtes Gewissen. Aber du bist nicht mal dazu in der Lage.«
»Ich hab mich oft um Frank gekümmert, in dem Wissen, was du gerade machst. Find mal so jemanden. Viel Glück bei der Suche. Versuch’s mal mit dem Araber. Der wird dir eins husten.«
»Said hat ein Format, von dem du doch nur träumen kannst. Der würde mich nicht für den Babysitter bezahlen lassen. Das hat er nämlich nicht nötig.«
Richie war am Limit, Maria war am Limit, und der Kleine war auch am Limit. Sie hätten aufhören müssen, Maria spürte das inzwischen auch.
Frank wimmerte nur noch. Das war fast noch schlimmer als sein Gebrüll. Er will Aufmerksamkeit, dachte Maria. Als ich so alt war wie er, hab ich im Heim gelebt. Wenn wir nicht um acht still waren, kamen wir ins Einzelzimmer. Stockdunkel. Schallisoliert. Nichts zu trinken. Da durften wir brüllen. Aber das bringt nichts, wenn du kein Publikum hast.
Sie riss Frank aus Richies Arm. »Gar nicht so einfach, oder? Der liebe Vati ist mit seinem Latein am Ende.« Sie schüttelte Frank, dann fixierte sie ihn, Auge in Auge, ganz nah, und sagte ruhig: »Halt’s Maul. Sonst dreh ich dir den Hals rum.«
Frank war sofort still. Er verstand schon viel.
Richie sagte: »Das darfst du nicht machen.«
»Der Mann, der mir sagt, was ich machen darf und was nicht, muss Eier haben.«
Richie sagte: »Gut, dann wollen wir mal sehen, ob ich Eier habe.« Er ging auf Maria zu, mit erhobenen Fäusten. Maria warf Frank aufs Sofa.
Sie wusste später nicht, wie lange sie gekämpft hatten. Fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Richie war kein einfacher Gegner. Er war stärker als sie. Aber er war auch langsam, und inzwischen hatte er auf die Schnelle einige weitere Biere gekippt. Maria hatte keine Erfahrung mit Kämpfen. Aber sie hatte die Wut. Sie hatten den stärkeren Willen, zu siegen. Als Richie auf dem Rücken lag, fixierte sie mit den Knien seine Arme und drückte mit den Daumen auf seine Augen. Immer fester. Bis er rief: »Hör auf.«
Maria drückte fester, sie drückte, so fest sie konnte, und sagte: »Wie heißt das Zauberwort?«
»Bitte.«
Als sie aufstand, kam sie sich ein paar Sekunden lang vor wie ein Westernheld. Sie sah Richie auf dem Boden liegen, mit geschlossenen Augen. Dann sah sie den Kleinen. Er war ganz ruhig. Er stand nur da. Er sah unheimlich erwachsen aus in diesem Moment. Er schaute. Sie hätte gern gewusst, was in ihm vorging.
Danach lief sie, so schnell sie konnte, zurück zu Said. Er erwartete sie. Er küsste ihre Tränen weg und versorgte ihre Wunden, nichts Ernstes. Ein paar Tage später bekam sie einen Brief. Richie hatte die Scheidung eingereicht. Später zog er den Antrag wieder zurück. Dann überlegte er es sich wieder anders. Es dauerte Jahre, bis die Scheidung endlich durch war. Ein paar Mal versöhnten sie sich sogar. Maria wohnte noch eine Weile mit Richie zusammen, obwohl sie Said liebte. Damit fanden beide sich ab. Über den schlimmen Morgen sprachen Maria und Richie nie. Aber letzten Endes war es wohl der schlimme Morgen, über den sie und Richie nie hinwegkamen, das, und nicht Said.
Maria und Said schrieben sich Mails, als das alles schon Jahrzehnte her war. Er lebte in Kanada. Er hatte Enkel. Sie wollte seine Stimme hören, wenigstens einmal noch. Wenn sie ihn anrief, was sie alle paar Monate tat, ging immer eine Frau ans Telefon, sie legte jedes Mal sofort auf. Warum war sie damals nicht mit ihm gegangen? Er hatte keine Stelle gefunden, monatelang, schließlich besorgte ihm sein Vater eine Stelle in seiner Firma. Auch Said wollte kein Niemand sein.
Wilma erzählte Maria, wieder und wieder, dass diese Männer sich verändern, sobald sie Heimaterde schnuppern. Man erkennt sie nicht wieder. Maria wurde misstrauisch. Sie dachte: Was, wenn er doch so ist wie alle anderen? Diesen Verrat verzieh sie sich nie. Und dann war er mit dieser anderen Frau, die seiner Familie so wenig gefiel wie Maria, von Bagdad nach Kanada gegangen.
Ohne Frank wäre alles einfacher gewesen, das war nun mal eine Tatsache. Ohne ihn wäre sie mutiger gewesen. Zwei, drei Mal war sie bei Frank ausgerastet, ja, das stimmte. Nachdem Said weggegangen war, hatten sie und Frank eine schlimme Phase. Aber sie wusste, dass sie nicht das Monster war, als das er sie sah. Verglichen mit dem, was sie erlebt hatte, ging es ihm immer gut. Maria hätte viel darum gegeben, wenn sie eine so behütete Kindheit gehabt hätte wie er. Es fehlte ihm an nichts. Aber Dankbarkeit darf man nicht erwarten. Das, was du falsch gemacht hast, wird dir ewig nachgetragen. Das, was du richtig gemacht hast, war selbstverständlich. Darauf läuft es beim Kinderkriegen letzten Endes hinaus.
Es ist vorbei.
Oder doch nicht? Ob es wohl irgendwo eine Gegend gab, in der Menschen eine zweite Chance bekommen? Mit Happy End, wie im Kino? Aber wo soll dieser Film laufen? Das geht nur im Kopf.
Als sie alt war, musste Maria wieder öfter an Immaculata denken, ihre fromme Lehrerin im Mädchengymnasium. Sicher war sie schon tot. Ob sie, anders als Said, bis zum Schluss an ihren Gott geglaubt hatte? Im Kopf baute Maria immer wieder ihr Leben neu, wie alte Leute das tun. Mal nahm Leutnant Gregory sie mit nach Amerika, mal nahm Said sie mit und sie wurden glücklich. Manchmal probierte sie in Gedanken aus, wie es wohl gewesen wäre, die Freundin von Immaculata zu sein. Und manchmal sagte Richie in ihrem Traum: »Na klar, du studierst jetzt, endlich kein Elektriker mehr, Millionärinnengatte liegt mir besser.« Sie wurde eine berühmte Anwältin, mit ihrer Intelligenz und ihrem Temperament, das sie aber gut unter Kontrolle hatte, war sie der Schrecken der Staatsanwälte. Frank hat ihr in diesem Traum alles verziehen. Sie ist die Großmutter seiner Kinder, manchmal nimmt sie die sogar zu ihren Prozessen mit, wo sie fast jeden Angeklagten raushaut. Währenddessen kocht der alte Richie zu Hause sein berühmtes Coq au Vin für sie alle. Said aber sitzt im Garten und schreibt ein Gedicht.