Das Spionagespiel
Tag 10. Sonntag
Nach längerem Hin und Her beschlossen wir, noch am selben Tag das Feld zu inspizieren, da die eventuell dort postierten Wachen am Wochenende vielleicht weniger aufmerksam sein würden.
Als wir in Patricks Auto einstiegen, war ich bereits unsichtbar und nahm in der Mitte Platz. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hielt Patrick sich auf dem Weg zum Gewerbegebiet mehr oder weniger ans Tempolimit.
Er hielt vor dem Gebäude des Harris Institute, und Nat stieg aus. Während sie sich noch einmal umdrehte und kurz mit Patrick sprach, verließ ich ebenfalls das Auto.
Nat ging zur Tür. Sie würde ihren Ausweis vorzeigen und behaupten, sie hätte etwas in ihrem Büro vergessen. Da es sich beim Harris Institute nicht um eine militärische Hochsicherheitseinrichtung handelte, würde der Wachmann sicher nichts dagegen einzuwenden haben.
Ich begab mich derweil geradewegs zum Feld, so schnell ich konnte, ohne dabei außer Atem zu geraten. Außerdem achtete ich darauf, nur auf steinigen Untergrund, festgetretene Erde und kurzes Gras zu treten. Sollte es nötig werden, dass ich mir einen Weg durch ein Weizenfeld bahnte, würde ich die Mission wahrscheinlich abbrechen.
Meine Sorge war jedoch unbegründet. Die Vegetation um das Feld herum erwies sich als kurz, struppig und lückenhaft. Die Loranna wollten vermutlich genauso wenig wie wir, dass jemand aus dem Nichts ihre Fußabdrücke auftauchen sah, und hatten das Gelände entsprechend präpariert.
Binnen Kurzem war ich auf dem Feld, mehr oder weniger in dem Bereich, wo ich die Spuren der Landung gesehen hatte. Ich nahm die Zombie-Haltung ein und tappte langsam hin und her.
Nach mehr als zehn Minuten stieß ich mit einer Hand gegen irgendetwas. Ich klopfte das Objekt rasch ab und identifizierte es als eine Art Landestrebe, die sich jedoch anders anfühlte als Sheldons. Ich ließ die Finger bis zum Boden hinabgleiten und betastete den Fuß der Strebe. Sie war definitiv breiter als eine von Sheldons, rund anderthalb Meter im Durchmesser. Ich langte nach oben, berührte aber nichts. Als ich gerade gehen wollte, flammte ein Lichtblitz auf, und eine Treppe senkte sich herab. So leise wie möglich bewegte ich mich auf die andere Seite der Landestrebe. Bei meinem Glück hielt ich es nicht für ausgeschlossen, dass jemand ausstieg und gegen mich knallte.
Einen Moment später hob sich die Luftschleuse wieder und verschwand. Schritte ertönten und wirbelten ein wenig Staub auf. Sie hielten auf das Gewerbegebiet zu.
Mist.
Es schien sich um eine einzelne Person zu handeln. Sollte ich abwarten und sie vorausgehen lassen? Auf jeden Fall. Doch wie lange sollte ich warten? Was, wenn sie nur rasch etwas ablieferte, sofort wieder kehrtmachte und auf dem Rückweg frontal mit mir zusammenprallte?
Darauf fiel mir keine Antwort ein. So leise wie möglich machte ich mich auf den Weg zum Gewerbegebiet und ging bewusst ein wenig langsamer.
Mir wurde klar, dass wir nie daran gedacht hatten, uns bei Sheldon nach dem Aussehen der Loranna zu erkundigen. Ich hatte keine Ahnung, ob sie groß oder klein, dünn oder untersetzt, Fleischfresser oder Vegetarier waren. Und auch nicht, wie schnell sie liefen.
Sobald ich mich wieder auf Asphalt befand, ging ich in einem großen Bogen zum Auto zurück, um nicht doch noch mit einem zurückkehrenden Unsichtbaren zu kollidieren. Ein paar Minuten später erreichte ich den Duster. Nat war zum Glück noch nicht da. Wäre sie vor mir eingetroffen, hätte sie verdächtigerweise die Beifahrertür immer wieder aufmachen oder dauerhaft offen stehen lassen müssen.
Nach einer Weile näherte sie sich ebenfalls. »Ich bin hier«, flüsterte ich, während sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Ohne innezuhalten oder anderweitig auf meine Anwesenheit einzugehen, öffnete sie die Tür und wühlte einen Moment lang in ihrer Handtasche, um mir Zeit zum Einsteigen zu geben.
Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, fuhr Patrick los und sah zur Seite. »Ist bei euch alles in Ordnung?«
Nat und ich bejahten.
»Ich bin im Gebäude einem unserer Manager über den Weg gelaufen«, sagte sie. »Wir waren beide überrascht. Er hat mich ein bisschen gegrillt, aber ich glaube, er hat mir meine Geschichte abgekauft.«
»Sah er aus, als hätte er gerade Sport getrieben?«, fragte ich. »Ich bin vom unsichtbaren Schiff aus nämlich einer unsichtbaren Person hierher gefolgt.«
Patricks Augenbrauen schossen in die Höhe. »Was?«
»Das soll wohl ein Witz sein!«, sagte Nat.
»Nein, ich meine es ernst. Ich habe etwas gefunden, dessen Landestreben einen Durchmesser von circa anderthalb Metern aufweisen. Ich werde Sheldon fragen, was er dazu meint, gehe aber davon aus, dass das dazugehörige Schiff um die fünfzig Prozent größer sein muss als die Halo .«
»Damit ist es entschieden: Ich werde morgen den Lorann-Detektor in die Arbeit mitnehmen«, sagte Nat. »Ich weiß zwar noch nicht, ob es das Harris Institute oder einer der kleineren Betriebe ist, aber ich glaube, wir haben die Zentrale der Loranna aufgespürt.«
Zurück in der Scheune hielten wir Kriegsrat.
»Wir müssen Sheldon mit ein paar Fragen löchern«, sagte Nat. »Lasst uns dazu in die Halo gehen. Sheldon? Kannst du bitte eine Luftschleuse öffnen?«
Sobald wir im Konferenzraum Platz genommen hatten, machte ich den Anfang. »Als Erstes brauchen wir eine Beschreibung der Loranna.«
»Ein Bild ist mehr wert als acht Kilobyte Sprachausgabe«, erwiderte Sheldon und öffnete ein Fenster auf einem der Monitore. Um die Größenverhältnisse zu verdeutlichen, fügte er noch eine Abbildung von mir und - wahrscheinlich – Alaric ein. Der Lorann war klein, untersetzt und erheblich humanoider als der Gen. Außerdem wirkte er zu unserer Überraschung tatsächlich ein wenig eidechsen- oder reptilienartig.
Am meisten überraschte uns seine orange Farbe.
»Damit gehen sie auf keinen Fall als Menschen durch«, sagte ich.
Um die Augen herum war seine Haut in einer Art umgekehrtem Waschbär-Effekt weiß. Und er hatte ein etwas weniger intensiv orangefarbenes Büschel auf dem Kopf, bei dem es sich möglicherweise um Haare handelte.
»Tatsächlich fällt es ihnen sehr leicht, sich als Menschen auszugeben«, erwiderte Sheldon. »Sie haben die richtige Größe und sind mehr oder weniger passend proportioniert. Sie haben sogar die richtige Anzahl Finger und Zehen. Um den Rest kümmert sich das Tarnfeld.«
»Äh, wie bitte?«, fragte ich.
»Hmm. Das hatte ich tatsächlich noch gar nicht erwähnt. Ein Gerät, das Individuen unsichtbar machen kann, ist auch imstande, ihr Äußeres zu verändern. Die Farbe und die Beschaffenheit der Haut zu verändern ist trivial, zumindest in optischer Hinsicht. Wenn ihr ihnen die Hand schütteln würdet, fiele euch vielleicht etwas Merkwürdiges auf.«
»Inwiefern?«, fragte ich.
»Das kann ich nicht sagen, Jack. Ich kenne mich mit Berührungen nicht sehr gut aus. Doch die lorannische Körperoberfläche unterscheidet sich definitiv von menschlicher Haut, und diesen Unterschied kann man sicher auch spüren.« Sheldon schwieg einen Moment lang. »Einem Gen fiele es wegen seiner Größe deutlich schwerer, sich als Mensch auszugeben. Er könnte zwar ein kleineres Bild von sich projizieren, doch das würde seine Wirkung verlieren, sobald er mit seiner Umwelt interagiert – wenn er sich zum Beispiel unter einer Tür hindurchduckt, die allem Anschein nach hoch genug für ihn ist. Und sein Fell wäre bei einer Berührung sofort zu spüren.«
Ich sah Patrick und Nat an, die mir jedoch nur aufmunternd zunickten. »Okay, dann könnten die Loranna also mit Menschen verkehren. Sozusagen undercover.«
»Korrekt. Wenn sie klug sind, übertreiben sie es damit jedoch nicht und lassen so viel wie möglich von menschlichen Stellvertretern erledigen.«
»Menschliche Stellvertreter?«, wiederholte ich. »Du meinst, es gibt Leute, die mit ihnen kooperieren?«
»Ein paar unwissentlich, andere mit voller Absicht. Mit Kollaborateuren muss man stets rechnen. Es wird immer Leute geben, die sich mit der Aussicht auf Macht oder Privilegien unter den neuen Herrschern verführen lassen.«
»Und woher weißt du das alles?«, schaltete Nat sich in die Unterhaltung ein. »Gestern warst du dir noch nicht einmal sicher, dass sie hier sind!«
»Ich weiß es nicht, Natalie. Doch wenn Alarics Verdacht zutrifft – und darauf deutet bislang vieles hin –, kann man mit Blick auf die Geschichte gewisse Mutmaßungen anstellen. Bei euch Menschen gab es viele, die während des Zweiten Weltkriegs mit den deutschen Besatzern kooperierten. Und auch bei den Gen, den Ka’alag, den Nir-k-hi und so weiter finden sich ähnliche Beispiele.«
Patrick runzelte die Stirn. »Somit stehen wir trotz der Tarnfeld-Detektoren also möglicherweise mit leeren Händen da und wissen rein gar nichts, außer dass sich auf dem Feld Schiffe befinden, die vermutlich lorannischen Ursprungs sind?«
Nat nickte. »Dann werde ich in der nächsten Woche wohl bei der Arbeit Spionin spielen müssen.«