Filippo lehnte sich unruhig gegen das offene Fenster und sah auf die abendliche Piazza Navona hinunter. Sein Blick war auf die Haltestelle auf der anderen Seite des Brunnens gerichtet, dort, wo Carla schon längst hätte angekommen sein sollen. Sie hatte ihn nicht wie sonst angerufen, um zu sagen, mit welchem Bus sie fuhr und wann sie nach Hause kam. Jetzt wartete er schon seit zwei Stunden.
Hatte er etwas vergessen, das sie ihm gesagt hatte? Gestern war sie nach der Party für die Mitarbeiter spät nach Hause gekommen, aber wieso heute? Dass sie nicht anrief, beunruhigte ihn.
Jetzt bog der letzte Bus um die Ecke und hielt. Viele Menschen stiegen hastig aus und drängelten, sodass er Carla unter ihnen nicht sofort entdeckte, sondern erst, als sie bereits über die Piazza kam, stehen blieb und zu ihm hochsah, dann winkte und rasch den Platz überquerte.
Filippo seufzte erleichtert auf, bekreuzigte sich automatisch, wie er es immer tat, wenn er Angst um sie gehabt hatte und sich diese Angst in nichts auflöste. Manchmal überfiel ihn eine irrationale Furcht, sie käme nicht mehr zurück, da ihr etwas passiert sei.
Er löste sich vom Fenster und ging in die Küche, um eine Flasche Chianti zu öffnen. Er wollte mit Carla noch ein Glas trinken, wenn sie zurückkam und ein wenig Klatsch erzählte.
Er liebte diese Abende mit ihr und hoffte, sie war noch nicht zu müde für eine entspannte Stunde mit ihm.
Carla und Filippo kannten sich seit fünfzig Jahren. Damals, als sie vierzehn und er sechzehn Jahre alt gewesen war, verliebten sie sich und heirateten zwei Jahre später. Sie hatten einen einzigen Sohn, der in den letzten Tagen des Kriegs, am 2. Mai 1945, fiel. Ihre Verzweiflung hatte die beiden noch mehr verbunden, und das jeden Tag ihres Lebens.
Ihre Liebe hatte ihnen geholfen, den Verlust des Kindes, den Schmerz über seinen sinnlosen Tod über die Jahre langsam zu verkraften. Es gab nur sie beide, keine Schwiegertochter, keine Enkel, keine Geschwister.
Carla bezog aus ihrer Ehe die Kraft für ihre Position, für ihren Einsatz, den sie täglich im Modehaus von Simonetta brachte.
Und Filippo wusste, wie viel ihr diese Arbeit bedeutete. Da er als Rentner jetzt Zeit hatte, übernahm er ganz selbstverständlich die Hausarbeit und freute sich auf den Abend, wenn Carla nach Hause kam. Als sie ihn gefragt hatte, ob er spät am Abend Schnittteile für Simonetta nach Frascati bringen könne, hatte er sofort eingewilligt. Er war glücklich, wenn er etwas für seine Frau tun konnte, etwas, das ihr wichtig war. Alles sollte ganz geheim bleiben. Modespionage, hatte Carla dramatisch hinzugefügt.
Er lächelte, wenn er daran dachte. Das Wort Spionage fand er übertrieben – letztendlich ging es hier doch nur um Kleider und nicht um brisante Staatsgeheimnisse.
Oft schüttelte er den Kopf, wenn sie ihm ein wenig Klatsch aus der ihm so fremden Modewelt erzählte. Affären, Eifersucht, Männer, die Männer liebten, das Prinzip der ewigen Jugend und Schönheit … Es war Carlas Welt, die sie liebte und nicht aufgeben wollte. Als Simonetta sie vor elf Jahren engagiert hatte, war es für Carla die Rettung gewesen. Die Arbeit half ihr, den schlimmsten Schmerz über den Tod des Sohnes zu lindern. Vielleicht hatte Simonetta ihr die große berufliche Chance gegeben, als Carla ihr von der Tragödie erzählte. Als Carla sie nach einigen Jahren darauf ansprach, dementierte sie, nein, nein, sie hätte sofort gespürt, dass Carla die Richtige sei, um ihre Visionen durch ihre Schnittkunst in die Realität umzusetzen. Carla konnte das nicht so ganz glauben, letztendlich hatte sie jahrelang nicht mehr im Beruf gearbeitet und schon lange vor dem Krieg ihre Stelle verloren. Doch Simonetta war von ihren Fähigkeiten überzeugt und vertraute ihr die Position der Chefdirektrice an. Und Filippo wusste, Carla hatte ihr das nie vergessen. Ihre Loyalität Simonetta gegenüber war grenzenlos und unerschütterlich.
Jetzt hörte er sie, wie sie die Wohnungstür aufschloss und leicht keuchend stehen blieb, denn die Wohnung lag im vierten Stock und besaß keinen Aufzug.
»Du kommst spät«, sagte er, doch es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, nur die Sorge, die er sich um sie gemacht hatte.
»Es tut mir leid«, murmelte sie, »entschuldige.« Wieder atmete sie schwer. Carla wirkte nervös, geradezu aufgelöst.
Da sie an der Tür stehen blieb, ging er auf sie zu, nahm ihr die Tasche aus der Hand und hängte sie an einen Haken der Garderobe. Doch einer Umarmung wich sie aus.
»Bitte sag mir, ist etwas passiert, mein Herz?«
Endlich zeigte sie eine Reaktion. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, hob in einer Geste der Verzweiflung die Schultern.
»Das Kleid Lucretia ist gestohlen worden, und vielleicht bin ich schuld daran.«