Kapitel 16

Simonetta

Federico de Rosa, Simonettas Schwager, war für zwei Tage in Rom, um mit den Investoren ein Treffen abzuhalten. Sie hatten über den Umsatz gesprochen, den sich das Unternehmen von dem neuen Parfum Passione di Roma weltweit erwartete. Zum Abschluss der Verhandlungen waren er und Simonetta heute zum Mittagessen gegangen.

Jetzt saß sie mit Federico auf dem Rücksitz ihrer Limousine, um ihn zum Flughafen zu begleiten. Sie sah ihn von der Seite an, wieder fiel ihr die Ähnlichkeit mit Matteo auf, die olivfarbene Haut, das markante breite Kinn, das sie damals bei Matteo als Zeichen von Erfolg und Durchsetzungsvermögen erkannt hatte. Federico war neunundsechzig Jahre alt, und weiße Strähnen durchzogen seine dunklen Haare.

Beim Mittagessen hatten sie sich lebhaft unterhalten. Jetzt schwiegen sie, alles schien gesagt.

»Du musst auf dich aufpassen«, wandte sich Federico plötzlich Simonetta zu. »Du siehst nicht gut aus.«

»Danke.« Simonetta lachte amüsiert auf. »Das ist genau das, was eine Frau gern hört. Aber«, gab sie zu, als sie die Sorge in Federicos dunklen Augen erkannte, der ihr Lachen nicht erwiderte, »ich bin wirklich erschöpft. Es ist nicht nur die übliche Anspannung und die Hektik oder auch die Hysterie vor einer Modenschau. Der Diebstahl hat mir zugesetzt. Ich weiß nicht mehr, wem ich vertrauen kann.«

»Nun«, Federicos Stimme hatte einen forschen Ton angenommen, »mach dir nicht zu viele Sorgen. Warte es ab, vielleicht ergibt sich wirklich nichts daraus. Es kann ja sein, dass der Dieb ein schlechtes Gewissen bekommen hat und es deswegen am nächsten Morgen heimlich wieder zurückgehängt hat, mehr nicht.«

»Ja, auch das ist möglich. Aber trotzdem werde ich es aus der Kollektion nehmen.« Schweigend wandte Simonetta den Kopf und sah durch die abgedunkelten Fensterscheiben hinaus. Erst als Federico neben ihr in seiner Aktentasche wühlte, wandte sie sich ihm wieder zu. »Ist etwas?«

»Ich wollte es schon die ganze Zeit ansprechen.« Federico sprach nicht weiter, sondern holte ein Kuvert aus der Tasche. »Was ist los?«

»Es geht um Mutters Geburtstag. Sie wird doch am 19. September neunzig Jahre alt, und sie würde sich sehr freuen, wenn auch du zu der großen Feier nach New York kommst. Hier, die Einladung.«

»Sie lädt mich ein? Jahrelang hat sie mich nur als das kleine italienische Mädchen behandelt, das sich ihren wunderbaren Sohn geangelt hat.«

»Aber dann hat sie dich in die Familie aufgenommen, vergiss das nicht.«

»Ja, erst nach Jahren, in denen ich um ihre Anerkennung gebuhlt habe, in denen ich Nächte durchgeweint hatte, weil ich nicht gut genug für sie war.«

»Es war auch für sie nicht leicht«, nahm Federico seine Mutter in Schutz. »Ihr geliebter Sohn brachte ein junges Mädchen aus Rom mit nach Hause. Ein junges Mädchen ohne Manieren, verstockt, aufbrausend. Aber, erinnere dich, sie war vor elf Jahren auch die Erste, die dafür eintrat, dass das Unternehmen Simonetta de Rosa gegründet wurde.«

»Ja, weil deine Mutter schon immer ein Gespür für ein gutes Geschäft hatte.«

»Nein, jetzt bist du ungerecht. Sie war dafür, dass wir dieses Risiko eingingen, weil du für sie immer noch die Frau ihres geliebten Matteos bist. Und sie war enttäuscht, als du uns verlassen hast, um nach Rom zurückzukehren. Ich denke, auch für sie war das nicht leicht. Sie mochte dich, akzeptierte dich endlich, zeigte dir das auch. Sie wollte mit dir um Matteo trauern, aber dann kehrst du uns allen den Rücken und gehst zurück nach Rom. Für sie war es wie ein Verrat, an uns, an ihr, auch an Matteo.«

»Wir sind da, Signora.«

Leo, der Chauffeur von Simonetta, drehte sich zu ihnen um. Schweigend stiegen sie aus.

Simonetta begleitete ihren Schwager noch in die Abflughalle. Sie unterhielten sich über die glühende Hitze in Rom, seine Ankunft in New York und, ja, viele liebe Grüße an die Familie. Dann eine schnelle Umarmung zum Abschied.

Als sie bereits wieder im Wagen saß, hielt sie das Kuvert immer noch in den Händen. Victoria de Rosa. Matriarchin einer jüdischen Großfamilie. Zweimal wollte Simonetta aus New York flüchten. Weg von der Familie, auch raus aus ihrer Ehe, obwohl sie Matteo liebte. Nur zurück nach Italien. Die ersten Jahre schaffte sie es nicht, die perfekte Frau für ihn zu sein. Elegant, gebildet, eine Frau, die Sprachen beherrschte und eine perfekte Gastgeberin sein sollte. Als sie das erste Mal kurz nach Ende des Krieges mit ihrem Koffer in der Eingangshalle des Stadthauses der de Rosas stand, war Victoria auf sie zugekommen.

»Eine de Rosa«, erklärte sie ruhig, »gibt niemals auf.«

Es war der Moment, in dem die Matriarchin sie als Familienmitglied betrachtete.

Eine de Rosa gibt niemals auf …

Es war zu Simonettas Leitspruch im Leben geworden.

 

 

»Wir fahren in die Firma«, wies sie Leo an. Sie musste an die Modenschau denken. Sie wollte die Perfektion erreichen. Perfektion, die ihre Schwiegermutter sie gelehrt hatte. Ihre Kollektion sollte alle anderen übertreffen. Sie wollte den großen Beifall nach dem großen Ereignis auf der Spanischen Treppe. Während sie sich kerzengerade aufrichtete, sah sie aus dem Fenster. Als sie jetzt bei Luigi vorbeifuhren, sah sie Nina an einem Tisch unter den Bäumen sitzen, sie trug einen weißen Plisseerock und die Tupfenbluse aus der Kollektion von 1958.

»Fahren Sie langsamer, bitte«, wies sie Leo an, wandte den Kopf und beobachtete für einen Moment Nina, die das Gesicht hob und zu einem jungen Mann emporlächelte, der sie bewundernd anstrahlte. Um sie herum standen drei weitere junge hübsche Männer, die ihr Glas hoben und Nina zuprosteten. Nina sah entzückend aus, jung und frisch und glücklich, wie sie alle vier Männer anlachte und mit ihnen kokettierte.

Sie war so vertieft, so gefangen in diesem Moment, in ihrem Moment, dass sie Simonettas dunkle Limousine auf der anderen Straßenseite nicht bemerkte. Simonetta beobachtete sie noch einen Augenblick, wies dann aber Leo an, weiterzufahren.

Als sie ins Atelier hochkam, lief ihr Carla schon entgegen.

»Der Kleine ist nach Hause gegangen, ich wusste ja, er ist unzuverlässig, sieht sich schon als …«

»Carla, bitte. Lass das, es ging ihm nicht gut, das haben wir doch schon bei der Anprobe gesehen.«

Carla sah sie misstrauisch an. Simonetta wirkte aufgedreht und verändert, seit sie gegen zwölf Uhr das Haus verlassen hatte, um mit Federico essen zu gehen.

»Ich habe eine ganz spontane Entscheidung getroffen«, verkündete sie. »Und sie ist endgültig.«

»Welche?«, fragte Carla leicht panisch. »Also, noch ein neues Teil verkraftet die Schneiderei nicht mehr. Du weißt, Ernesto hat eine Sehnenscheidenentzündung, er hat als Leiter ebenfalls unermüdlich genäht und …«

»Nein«, unterbrach Simonetta sie. »Das meine ich nicht. Aber pass auf, ich werde Nina auf der Alta Moda-Schau Mariage vorführen lassen, sie ist genau die Richtige dafür.«

»Was?« Carla ließ den Teller mit den Erdbeertörtchen fallen, der krachend auf dem Boden zerschellte. Carla merkte es nicht einmal. »Simonetta, das geht nicht. Nina ist doch nur die zweite Reihe, wie kannst du sie mit in die Schau nehmen und dann ausgerechnet noch das Hochzeitskleid tragen lassen, du weißt, jedes Starmannequin ist süchtig danach.«

»Das kann schon sein«, erklärte Simonetta ruhig, »aber ich habe diese Entscheidung getroffen und werde sie nicht revidieren. Basta.«

»Und wieso besprichst du das nicht mit uns? Wieso ausgerechnet Nina? Seit drei Jahren ist sie unser Hausmannequin, und plötzlich machst du sie zum Star? Und das wird sie werden. Denn ein Foto mit Mariage wird durch alle Magazine und Boulevardblätter gehen.«

Simonetta lachte Carlas Bedenken einfach weg. Doch die ließ sich nicht beirren.

»Du verstößt gegen die Regeln, Simonetta. Nina kann nicht das Brautkleid tragen, diese Ehre steht dem französischen Mannequin Margaux zu. Erinnere dich bitte, du wolltest sie unbedingt haben, auch wenn sie bei uns noch nie gelaufen ist. Sie ist die Einzige, die von uns bereits im Januar gebucht wurde.«

»Ja, du hast ja recht«, versuchte Simonetta, sie zu besänftigen. »Aber trotzdem entscheide ich mich für Nina, und ich weiß auch schon genau, wie ich das Foto haben möchte. Nina sitzt in diesem Traum von Tüll und Perlen an einem Tisch bei Luigi und lächelt zu vier hübschen jungen Männern hoch, die sie umringen.«

Carla starrte sie einen Moment fassungslos an, bevor sie missbilligend den Kopf schüttelte. »Damit wird die Vogue nicht einverstanden sein, du weißt, das Foto eines Brautkleides hat seine eigenen Gesetze. Wenn schon ein Mann aufs Bild soll, dann wirklich nur einer, es sollte damit die Illusion eines Bräutigams geschaffen werden.«

»Ach Unsinn, man muss innovativ sein, und Nina …«

Simonetta sprach nicht weiter, sondern dachte an den Moment, als sie bei Luigi vorbeigefahren war. Nina, umringt von jungen Männern, ihr Lächeln, ihre Haltung, es war so charmant. Die Atmosphäre strahlte Glück und Lebensfreude aus. War das nicht genau das Richtige für ein Hochzeitsfoto?

»Ich will es so, und die Vogue wird sich fügen müssen.«

»Na ja, hier ist das letzte Wort sicher noch nicht gesprochen, das hat immer noch die Chefredakteurin, Erica Mancini. Sie lässt sich keine Vorschriften machen. Da wird sie zickig, sie will bestimmen, das weißt du doch«, versetzte Carla.

Simonetta war aufgesprungen, ging zum Fenster und wandte ihr schweigend den Rücken zu.

Carla erschrak. Irgendetwas war los mit Simonetta. Sie kannten sich zu gut, und es war nicht nur das Foto oder die Modenschau. »Nun«, lenkte sie versöhnlich ein, »mit Nina klappt das schon, das bekommen wir hin. June kann ihr das Laufen beibringen, wir haben noch jede Menge Zeit«, behauptete sie, es war als Trost gedacht.

Simonetta antwortete nicht, und Carla erschrak noch mehr.

»Es tut mir leid, manchmal bin ich so gereizt, aber wir arbeiten doch immer gut zusammen, ich will mich wirklich nicht mit dir streiten.«

»Das tust du doch gar nicht.«

Simonetta drehte sich um, und Carla sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Was ist los? Ist es wegen Nina, oder hast du dich mit deinem Schwager …«

Simonetta schüttelte stumm den Kopf, sodass Carla nicht weitersprach. »Nein, das nicht. Aber als ich mich heute am Flughafen von ihm verabschiedet habe, da hat er mich an Matteo erinnert.« Sie schwieg, und Carla wartete, bis sie weitersprach, doch da wurde kurz angeklopft und schon die Tür aufgerissen. Eines der Lehrmädchen stand aufgelöst dort und sah zu Carla hinüber.

»Wir brauchen Sie dringend, bitte kommen Sie schnell zu uns in die Schneiderei, da passt ein Ärmel nicht ins Ärmelloch, es ist zu klein geschnitten.«

»Das kann nicht sein, das glaube ich nicht, ja, natürlich, ich bin schon da. Entschuldige, Simonetta, aber …«

»Geh nur, Carla, und bitte sage noch Bescheid, dass man den Boden hier sauber macht. Schade um den Erdbeerkuchen.«

Jetzt lächelte Simonetta wieder, und Carla seufzte erleichtert auf. »Simonetta, bitte, es wird alles gut gehen, mach dir keine Sorgen«, sagte sie noch rasch, bevor sie dem Mädchen folgte.

»Danke dir, Carla, danke für alles.«

 

Simonetta blieb noch einen Moment stehen, dann verließ auch sie ihr Arbeitszimmer, ging vor zum Aufzug und fuhr nach unten in den Innenhof. Hier atmete sie den Duft der Blumen zusammen mit der Stille des Nachmittags ein.

Heute hatte sie in Federico ihren Mann Matteo gesehen, Matteo, der ihr zuwinkte, als sie ihn zum Flughafen brachte. »Dieses Mal geht alles gut«, hatte er ihr zugerufen.

Sie hatte gelacht, gewinkt und ja, Matteo, dieses Mal wird alles gut gehen, dieses Mal …

Sechs Stunden später, um ein Uhr nachts, klingelte das Haustelefon. Sie solle bitte nach unten kommen, zwei Herren von der American Airlines wollten sie sprechen.

Matteo hatte an Bord der Maschine nach Boston einen tödlichen Herzinfarkt erlitten.

Zwei Tage danach verlor sie das Kind, das sie im dritten Monat erwartete.

Eine de Rosa gibt niemals auf …

Das hatte ihr über den Tod Matteos hinweggeholfen, über den Tod der beiden ungeborenen Kinder. Über die schwierigen Anfangsjahre in Rom. Die vielen durchweinten Nächte voller Sehnsucht nach Matteo und auf ihrem Weg an die Spitze der italienischen Haute Couture.

Eine de Rosa gibt niemals auf …

Oft dachte sie an Matteo, an das erste Kind, das sie im fünften Monat verlor, ein Jahr nach der Hochzeit. Es wäre ein Sohn gewesen. Ein Sohn, der heute zweiundzwanzig Jahre alt wäre.

So alt wie Paolo.