Paolo verließ den Palazzo SdR. Doch dann verharrte er einige Minuten, lief dann vor dem Eingangsportal unruhig auf und ab. Er hatte gesagt, es ginge ihm nicht gut. Er müsse nach Hause. Er hatte ein schlechtes Gewissen Simonetta gegenüber, aber er war gegangen. Er hatte gelogen, und das belastete ihn. Er fror trotz dieser Hitze, bis er sich endlich dazu durchrang, einem Taxi zu winken. Als er bei Luigi vorbeifuhr, sah er Nina an einem Tisch unter Bäumen sitzen, umringt von vier Männern.
Sie sah entzückend aus in Simonettas Bluse. Sie schien glücklich. Sie hatte ein Recht darauf, und dieses Recht hatte auch er, das Recht auf Glück.
Kurz darauf hielt das Taxi. Es war so weit, er konnte nicht mehr zurück. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Der Portier eilte herbei, öffnete ihm die Wagentür, und mit einem Lächeln ging Paolo durch das beeindruckende Portal und in die Halle. Dieses Mal schlich er sich nicht am Empfang vorbei, sondern lief durch die Hotelgäste hindurch, wäre aber beinahe über den Kofferträger gestolpert, der das Gepäck durch die Halle schob. Paolo hasste sich für seine ständige Ungeschicklichkeit.
Als der Aufzug ihn nach oben brachte, wandte er sein Gesicht ab, um nicht dem diskreten Blick des Liftboys zu begegnen. Paolo schien es, als wüsste dieser Junge genau, was Paolo jetzt vorhatte. Wie alt mochte dieser Boy sein … nicht älter als sechzehn? Vielleicht lernte er das Hotelgewerbe, vielleicht war er ehrgeizig und würde eines Tages Direktor des Hassler oder des Hotel Ritz in Paris werden. Vielleicht hatte auch er Träume von einer Karriere, so wie er, Paolo?
Jetzt hielt der Aufzug, er nickte dem Boy mit einem unsicheren Lächeln zu, verharrte, musste man ihm Trinkgeld geben? Doch da schloss sich bereits wieder die Tür hinter ihm, und er ging den Gang entlang, der weiche Teppichboden verschluckte seine Schritte. Jetzt war er da, jetzt stand er vor der Tür, jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er klopfte wieder, etwas lauter, befremdet, dass nicht sofort geöffnet wurde. Hatte er die Nachricht, die für ihn beim Portier im Couture-Haus abgegeben wurde, falsch verstanden? Falscher Tag, falsche Uhrzeit? Seine Nervosität wuchs noch, was kaum mehr möglich schien. Sollte er umkehren und damit alles beenden, bevor es begann?
Doch da öffnete sich die Tür, und Mattia stand vor ihm. Er bat ihn herein, entschuldigte sich, er habe noch einiges zu erledigen, es täte ihm leid, so unhöflich sein zu müssen.
»Aber mein Hübscher, mach es dir bequem, setz dich, ich habe Champagner und Kaviar für dich kommen lassen, steht alles für dich bereit.«
Mit dem Kopf wies er auf den Tisch vor dem Sofa, während er ins anliegende Schlafzimmer ging, die Tür aber offen ließ. Er nickte Paolo zu, griff nach einem Diktiergerät, setzte sich aufs Bett und sprach Anweisungen darauf.
War Paolo enttäuscht? Hatte er sich etwas anderes vorgestellt?
Hatte er erwartet, dass Mattia ihn sofort an sich zog, ungeduldig, glücklich, dass er gekommen war? Mattia trug eine dunkelblaue Hose und ein weißes Hemd, es wirkte offiziell. Das schien Paolo nicht wirklich passend für ein aufregendes Rendezvous.
Übernächtigt und nervös drückte er sich jetzt an die Kante des Sofas und wartete. Mattia beachtete ihn kaum, nickte ihm nur kurz durch die offene Tür noch einmal zu, machte ihm ein Zeichen, er solle sich doch bedienen. Aber Paolo mochte keinen Kaviar, und Champagner hatte er bei Simonetta schon oft getrunken, um eine Kollektion zu feiern. Glaubte Mattia, ihn damit beeindrucken zu können? Ihn, den hübschen, aber dummen Jungen? Er duzte ihn wieder, warum? Wollte der große Bertrani ihm damit sagen, er, Paolo, sei weniger wert?
Paolo war tatsächlich enttäuscht. Er hatte sich verliebt. In diesen schlanken Kerl mit den grauen Schläfen, elegant gekleidet, gepflegt. Einen Mann, der aber auch verheiratet war und einer der reichsten Familien Italiens angehörte. Hatte er überhaupt eine Chance, oder machte er sich selbst nur zum Spielball eines reichen, übersättigten Heteros, der nun ein wenig homosexuell herumspielen wollte? Luca war der erste Mann in Paolos Leben gewesen, und beide wussten, es würde niemals eine Frau in ihrem Leben geben. Aber Mattia?
Er sollte gehen, flüchten, ihn nie mehr treffen. Ihn vergessen. Schon sprang er auf, wandte sich zur Tür, als Mattia zu ihm herüberkam.
»Mein kleiner Träumer, wohin willst du denn?« Zärtlich zog er ihn an sich. »Es tut mir leid, ich musste noch etwas erledigen. Du warst zu früh da, weißt du das?«
Stumm schüttelte Paolo den Kopf. Hatte also er sich unhöflich verhalten? Denn zu früh zu einer Verabredung zu kommen war ebenso unhöflich, wie zu spät zu sein.
Und so überließ er sich Mattia, der ihn sanft ins Schlafzimmer drängte.
Es war früher Morgen, längst hell, und Paolo lag immer noch auf dem breiten Bett von Mattia. Niemals hatte er gedacht, welche Glücksgefühle Sexualität auslösen konnten. Wie ungeschickt Luca doch gewesen war, wie lange Paolo brauchte, um bereit für die Liebe zu sein. Bei Mattia musste er sich nicht mit der Musik von Puccini oder Drogen, nicht einmal mit Alkohol in Stimmung bringen lassen, er brauchte nur … Mattia. Mattias schönen, muskulösen Körper, seine Stimme, die ihm zärtliche Worte ins Ohr flüsterte, Mattia, der leidenschaftlich war, der es verstand, in ihm Gefühle zu wecken, von denen Paolo nicht gewusst hatte, dass er sie empfinden konnte.
Jetzt lag er auf dem Bauch, wohlig ausgestreckt nach einer Nacht der Liebe, und spürte, wie sich Mattia an ihn drängte und seinen Rücken mit leichten Küssen bedeckte.
»Weißt du«, flüsterte er ihm zu, »ich werde dir hier in Rom eine Wohnung kaufen, ein Auto, du wirst alles haben, was du willst. Du bekommst monatlich Geld von mir, du musst nicht mehr arbeiten. Du wirst für mich da sein, wenn ich in Rom bin. Wir müssen dann nicht unsere Zeit im Hotel verbringen, sondern bei dir, in deiner Wohnung.«
Der Druck von Mattias Körper verstärkte sich leicht, er legte ein Bein über Paolos Rücken und küsste ihn zärtlich auf die Schulter, genau da, wo Paolo es als erregend empfand.
Doch bei Mattias Worten hob er den Kopf und löste sich aus dessen leichter Umklammerung. Er setzte sich auf und schüttelte den Kopf. Er dachte an seine Mutter, daran, wie entsetzt sie darüber sein würde. Es war schon sehr schwer für sie zu akzeptieren, dass ihr Sohn einen Mann liebte, niemals eine Familie gründen und Kinder haben würde. Trotzdem stand sie zu ihm, tat alles für ihn. Aber der Geliebte eines älteren reichen Mannes zu sein, der ihn aushielt, das konnte und wollte er ihr nicht zumuten. Ihr nicht und auch sich selbst nicht.
Er schüttelte den Kopf, erst zaghaft, unentschlossen. Dann sagte er mit fester Stimme: »Nein, das will ich nicht. Außerdem … ich werde meinen Beruf niemals aufgeben.«
Jetzt brachte er die Energie auf, sich vom Bett herunterzurollen, aufzustehen und nach seiner Hose und dem Hemd zu greifen, die Mattia auf den Boden geworfen hatte, als er ihn auszog.
Schweigend sah Mattia ihm zu. »Du willst mich verlassen?«
Erschrocken drehte Paolo sich um. »Nein, natürlich nicht.«
»Weißt du«, auch Mattia erhob sich und griff nach einem Bademantel, den er rasch überzog. »Überleg es dir noch mal, lehne meinen Vorschlag nicht sofort ab. Ich will dich, du bist schön, Paolo, jung, noch unerfahren. Ich werde dich auch mit in meine Villa auf Sardinien nehmen, oder auf meine Yacht. Wir werden herrliche Tage zusammen verbringen.«
»Sie sind verheiratet.« Paolo wehrte sich gedanklich gegen Mattia. Es klang so leicht, so verlockend.
»Das hat damit nichts zu tun.«
Mattias Stimme hatte sich verändert, klang kühl und ablehnend. Wo war die Weichheit, die Zärtlichkeit, mit der er Paolo gerade noch Schmeicheleien ins Ohr geflüstert hatte?
Wie schön er ist, schoss es Paolo quälend durch den Kopf, als er einen Seitenblick auf Mattia warf, dessen Bademantel lässig über seinen Schultern hing und seinen Körper nur wenig bedeckte. Er hatte gerade mit diesem Mann geschlafen, und trotzdem konnte er ihn nicht duzen. Gab es letztendlich doch keine Nähe zwischen ihnen?
Er beobachtete Mattia, wie er nach der Packung Zigaretten griff, die auf dem Nachttisch lag. Er nahm eine heraus und zündete sie an. Während er einen tiefen Zug machte, sah er Paolo schweigend an. Er wartete.
»Ich kann nicht«, erkläre Paolo leise. »Und ich will auch nicht.« Seine Stimme gewann an Festigkeit. »Ich werde meinen Beruf nicht aufgeben.«
Mattia zuckte ein wenig verächtlich die Schultern. »Du verschwendest deine Kreativität an Simonetta de Rosa. Überlege es dir gut. Wenn es ihr passt, wirft sie dich weg wie eine ausgepresste Zitrone. Ich aber gebe dir Sicherheit, eine Wohnung, die dir gehören wird, wenn du willst, einen Ferrari, alles, was du willst.«
»Ich kann gar nicht Auto fahren.«
Paolo versuchte, sich innerlich zur Wehr zu setzen, nicht wirklich ankommen zu lassen, was Mattia ihm gerade sagte. Sich gegen ihn zu wehren, wenn es auch kindlich klang.
»Mein kleiner hübscher Träumer.« Jetzt klang Mattias Stimme wieder zärtlich, als er auf Paolo zuging. »Das kann man doch lernen.«
»Ich muss gehen.« Paolo atmete durch. »Simonetta hat eine Bluse von mir in die Kollektion übernommen, und ich muss zurück …« Er brach ab. Er spürte, dass es Mattia wenig interessierte, ob ein Entwurf von ihm gezeigt wurde. Er drückte sich an Mattia vorbei, und als er an der Tür stand, drehte er sich um. »Ich gehe dann«, flüsterte er. »Und bitte … lassen Sie mir Zeit.«
Mattia nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er ging zum Fenster und blieb dort von Paolo abgewandt stehen. »Ich muss dich enttäuschen. Ich glaube nicht, dass du das Potenzial eines …«, hier suchte er nach dem Namen, bis er ihm wieder einfiel, »Giorgio Armani hast. Das ist sein Name, ich habe dir von ihm erzählt. Außerdem wird Mailand Rom als italienische Modestadt ablösen, und Giorgio ist mittendrin.«
Stumm wandte sich Paolo ab. Er spürte, dass Mattia ihn gezielt verunsichern, sogar verletzen wollte. Denn wie konnte er behaupten, er habe kein Potenzial? Er kannte nichts von ihm, gar nichts. Und genau diese Worte hätte Mattia nicht sagen dürfen. »Ich gehe jetzt, und dieser … Giorgio interessiert mich nicht.«
»Okay, okay, dann eben … ciao.«
Mattia lachte auf, war er verärgert, amüsiert?
»Ich werde Anfang nächster Woche wieder in Rom sein. Drei Tage lang führe ich Operationen durch, dann hätte ich Zeit für uns, jede Nacht. Bis dahin solltest du eine Entscheidung getroffen haben, ob du mein Angebot annimmst.«
Er drehte sich um, blieb aber am Fenster stehen. Paolo machte einen Schritt rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Tür. Er sah durch den Raum zu dem Mann hinüber, in den er sich so heftig verliebt hatte. Und der ihn jetzt vor eine Entscheidung stellte, ihn fast erpressen wollte. Konnte es sein, dass Mattia, dieser zärtliche Mann, ihn so unter Druck setzte, ihm seinen Willen aufdrängen wollte?
»Ciao«, murmelte er, wartete noch, aber Mattia kam nicht zu ihm, sondern blieb ans Fenster gelehnt stehen.
»Also bis nächste Woche«, sagte er nur und zog an seiner Zigarette.
Paolo nickte.
»Ach, und übrigens hat meine Frau mich gebeten, sie dieses Mal zu Simonettas Show zu begleiten. Wir werden uns also spätestens dort sehen, darauf solltest du vorbereitet sein.«
»Das sagten Sie mir bereits«, antwortete Paolo steif, der erkannte, dass Mattia ihn damit verunsichern wollte.
Dann drehte er sich um, ging und warf die Tür hinter sich zu.