Es war sehr früh und die Bar noch leer, als Mario seinem Chef die Tageszeitung zuschob. »Lies das, Luigi.«
Luigi griff nach dem Boulevardblatt.
Ein Mann in einer Blutlache. Sein Gesicht war unkenntlich gemacht worden.
Mord in der Modeszene
Enger Mitarbeiter von Simonetta de Rosa ermordet aufgefunden.
Ettore Sarti (70) ist von bislang unbekannten Tätern brutal ermordet in seiner Wohnung aufgefunden worden. Eine Nachbarin, Mirella S., fand seine Leiche grausam zugerichtet in einer riesigen Blutlache. »Ich hörte plötzlich Lärm im Treppenhaus, offenbar wurde die Nachbarstür eingetreten, dann laute Stimmen, ein dumpfes Fallen und eilige Schritte auf der Treppe«, berichtete Mirella S. »Dann trat unheimliche Stille ein.« Aus Sorge um ihren netten Nachbarn hatte sie vorsichtig dessen Wohnung durch die kaputte Tür betreten. »Es war entsetzlich!«, so Mirella S. unter Tränen. »Da war überall so viel Blut!« Sie verständigte sofort die Polizei. Jetzt laufen die Ermittlungen auf Hochtouren.
Luigi sah hoch. »Schrecklich. Erinnerst du dich an diesen Ettore Sarti? Simonetta hat ihn mehrmals mitgebracht, aber das ist schon länger her.«
Mario stand abwartend neben ihm und nickte. »Furchtbar, nicht einmal vor dem Tod haben diese Presseleute Achtung.«
»Nun ja, sie haben das Gesicht geschwärzt. Aber trotzdem hast du recht, kein Respekt vor dem Tod. Diese Mirella offensichtlich auch nicht, da sie nicht nur die Polizei, sondern auch die Presse anrief.«
»Ich denke, sie hat die Presse vor der Polizei angerufen und dafür eine nette Summe kassiert.«
Luigi nickte.
»So wird es sein. Ein feiner Kerl«, seufzte Mario.
»Ich fand ihn arrogant«, war Luigis Meinung, »aber er war immer sehr elegant gekleidet, das muss man schon sagen.«
»Achtung, sie kommt.« Rasch ließ Luigi die Zeitung unter dem Tresen verschwinden. Wieder einmal wollte er Simonetta am frühen Morgen einen Schock ersparen.
»Von David Kane hört man gar nichts mehr, oder?«, fragte Luigi noch rasch.
Mario wusste alles, an ihm ging nichts vorbei. Jetzt verneinte er.
»Simonetta konnte ihr Privatleben immer gut aus der Öffentlichkeit heraushalten«, meinte Luigi, der jetzt Simonetta beobachtete, wie sie über die Straße direkt auf die Bar zukam.
»Na ja«, grinste Mario, »welches Privatleben?«
»Jetzt wird die Presse über sie herfallen.« Luigi war bekümmert. »Der Mord an ihrem Mitarbeiter ist ein gefundenes Fressen für Paparazzi.«
Mario nahm rasch ein paar Aschenbecher, ließ am Eingang Simonetta den Vortritt und deckte draußen die Tische.
»Bella Signora?« Luigi versuchte, sie ein wenig fröhlich zu stimmen, bevor ihr irgendwer das Boulevardblatt mit dem schrecklichen Foto vor die Nase hielt.
Simonetta lächelte, sie mochte es, wenn Luigi sie auf diese Art begrüßte. Sie nickte ihm zu und sah sich um. Außer dem englischen Drehbuchautor am hintersten Ecktisch war die Bar noch leer. Luigi stellte den Espresso vor sie, und wie immer trank sie ihn schnell im Stehen aus.
»Neulich«, fing sie an, »als dieser Weingutbesitzer hier war und Sie mich ihm vorstellen wollten, was haben Sie da zu ihm gesagt?«
Luigi musste überlegen. »Ah, Signora, Sie meinen Edoardo Aligheri? Ich weiß es nicht mehr so genau, aber ich glaube, ich sagte ihm, die berühmteste Modeschöpferin Roms würde ihm gern Guten Tag sagen, oder so ähnlich.«
»Also nicht meinen Namen?«
»Ich kann mich nicht erinnern, nein, ich denke nicht.«
Warum fragte sie? Es waren doch bereits einige Wochen vergangen.
Luigi erzählte, dass die Aligheris seine Hauptlieferanten geworden seien und vor allem der Weißwein von seinen Gästen bevorzugt wurde.
Sie tauschten noch ein paar Worte über die Hitze und die vielen Touristen aus, dann wandte sich Simonetta zum Gehen. Nachdenklich sah er ihr nach, wie sie die Sonnenbrille wieder aufsetzte, die Bar verließ und sich durch die dunklen Haare fuhr.
Jetzt würde sie gleich erfahren, dass ihr engster Mitarbeiter ermordet worden war. Hätte er sie darauf vorbereiten sollen, statt über Wein und die Hitze zu reden?
Simonetta fuhr mit dem Aufzug nach oben, und schon bevor sie ausstieg, sah sie durch die Glastür Carla, Antonia, June, Stella und auch Elisa von der Presseabteilung zusammenstehen. Sie beugten sich über eine Tageszeitung, die Elisa in der Hand hielt, und als Simonetta ausstieg, drehten sie sich ihr zu.
»Signora, Sie müssen jetzt stark sein, wir alle müssen stark sein.« Elisa hielt ihr das Boulevardblatt hin.
»Ein so grausamer Tod, das hat er nicht verdient …« Antonia unterdrückte ihre Tränen.
»Nein. Und dieses Foto auch nicht«, antwortete Simonetta tonlos, vollkommen entsetzt von der Nachricht seiner Ermordung. »Warum?«, fragte sie leise. »Warum nur?«
»Ich denke, wir wissen es alle. Er geriet in üble Gesellschaft, irgendjemand hat ihn gezwungen, Lucretia zu stehlen, und dann haben sie ihn umgebracht, damit er sie nicht verraten konnte.«
»Das muss die Polizei klären.«
Sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie wollte sich nicht den Spekulationen anschließen, sondern allein sein. Auch sie war der Meinung, er hatte Lucretia gestohlen und damit einen Fehler begangen, den er offenbar mit dem Tod büßen musste. Armer Ettore. Sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie empfand nur Mitleid. Warum hat er sich mir nicht anvertraut, warum nicht, Ettore? Sie griff nach ihrem Taschentuch und trocknete damit die Tränen, die jetzt doch reichlich flossen.
Es dauerte zwei Stunden, bis Polizeibeamte kamen und eine Befragung aller Mitarbeiter durchführten. Doch niemand konnte Auskunft geben, keiner kannte Ettore wirklich. Ein einsamer Einzelgänger, der offenbar über seine Verhältnisse gelebt hatte.
Am späten Nachmittag waren die Befragungen beendet, sie hatten nichts gebracht. Die Beamten verabschiedeten sich von Simonetta und überreichten ihre Visitenkarten. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, melden Sie sich bitte.«
»Ettore Sarti war sicher auch der Dieb des Modells Lucretia, gehen Sie dieser Spur nach?«
»Wir ermitteln in jede Richtung, Signora, aber wir können Ihnen wenig Hoffnung machen. Ein Mord in diesem Milieu ist kaum aufzuklären«, erklärte Commissario Gallo.
»Wie beruhigend.« Leiser Spott klang aus Simonettas Antwort heraus.
»Wir tun unser Bestes, da können Sie versichert sein.«
»Er hatte doch einen Cousin?« Simonetta wollte nicht lockerlassen. »Die meisten Morde passieren aus familiären Gründen.«
»Er hat ein Alibi, aber wir werden es noch überprüfen.«
»Das ist alles?«
»Im Moment ja, Signora.«
Simonetta begleitete die Beamten bis zum Aufzug und wartete, bis sie nach unten fuhren.
Nachdenklich stand sie noch dort, als Antonia sich zu ihr stellte. »Wollen wir einen Kaffee trinken?«
Kurze Zeit später saßen die beiden im Innenhof auf dem Rand des Springbrunnens, das Tablett mit den Tassen zwischen sich. Eine Weile hörten sie dem beruhigenden Plätschern des Wassers zu.
»Wissen Sie, Antonia, man spricht so oft davon, dass die Modebranche, ganz speziell unser Couture-Haus, eine große Familie sei. Aber das stimmt nicht. Wir alle sind ein eingespieltes Team, arbeiten fieberhaft auf den Termin der Show zu, das hält uns zusammen. Mehr nicht. Wir wissen nichts voneinander, gar nichts. Weiß ich denn überhaupt, wie Carlas Privatleben wirklich aussieht? Wir sprechen immer nur flüchtig darüber. Und June? Von ihr weiß ich absolut nichts.«
»June ist Amerikanerin und lebt mit einer Künstlerin zusammen«, erzählte Antonia bereitwillig.
»Ach ja? Ich veranstalte diese kleinen Partys, wir feiern, wenn wir eine Kollektion beendet haben, aber sonst … Wenn wir eine Familie wären, hätten wir oder ich es nicht zugelassen, dass Ettore kriminell wird und dafür mit seinem Leben büßen muss. Wir sind keine Familie. Wir sind nur eine Zweckgemeinschaft.«
»Signora, bitte machen Sie sich jetzt keine Vorwürfe. Niemand und vor allem nicht Sie konnten verhindern, dass Ettore auf die schiefe Bahn geriet.«
Auf Simonettas schweren Seufzer hin schlug Antonia vorsichtig vor, doch wieder hochzugehen. »Wir sollten uns jetzt ganz konkret auf die Kollektion konzentrieren.«
»Natürlich haben Sie recht. Arbeit ist immer der beste Trost. Gehen wir.«
Im Aufzug, der sie nach oben brachte, fügte Antonia noch hinzu: »Sie haben Ettore Sarti viel Geduld entgegengebracht, Signora, sogar zu viel, darüber waren sich alle einig. Er herrschte oder schrie die Schneiderinnen und die Damen von der Werbeabteilung an. Er unterstellte ihnen die Fehler, die er selbst gemacht hatte. Er war unverschämt und wurde nicht selten beleidigend.«
»Warum hat man mir das nicht erzählt?« Simonetta war zutiefst betroffen.
»Man wollte Sie nicht damit belasten, Signora.«
Vor dem Couture-Haus lauerten die Paparazzi. In den folgenden Tagen beherrschte Simonetta die Schlagzeilen. Es wurde spekuliert, es ginge um viel Geld, um Modespionage, um die Kopie eines teuren Couture-Kleides, um Korruption, Verbindungen zur Mafia.
Simonetta wurde gehetzt, bedauert, angegriffen.
Doch dann beruhigte sich die Presse wieder; die Paparazzi zogen ab, es gab andere Neuigkeiten. Simonetta atmete auf. Die Normalität zog ein, es wurde gearbeitet, denn der Termin für die Modenschau rückte unerbittlich näher.