Kapitel 24

Paolo

Noch neun Tage bis zur Modenschau.

Am Tag der großen Probe war er glücklich gewesen, als Nina in seiner Bluse graziös durch die Stuhreihen tänzelte und Simonetta sich dann zu ihm umdrehte und Beifall klatschte.

Da hatten sie noch nicht gewusst, dass an diesem Abend Ettore Sarti ermordet werden würde.

Als am nächsten Tag im Couture-Haus die Zeitung mit dem Foto von Ettore herumgereicht wurde, hatte Paolo geweint. Simonetta de Rosa hatte in ihrer Trauer und Wut überlegt, gegen den Verlag vorzugehen; sie hätten die Würde des Menschen durch dieses schockierende Bild des ermordeten Ettore verletzt.

Wie alle anderen auch wurde Paolo von der Polizei verhört. Wie gut kannte er Ettore, wie beurteilte er sein Verhalten in der letzten Zeit, hatte er etwas Ungewöhnliches beobachtet, kannte er sein Umfeld, Freunde, Familie?

Paolo musste alle Punkte verneinen. Irgendeinen Cousin gebe es, aber er habe ihn nie gesehen, Ettore sprach nur ein paar Mal von ihm, nicht sehr freundlich übrigens. Und Ettore war ihm gegenüber ablehnend gewesen, voller Neid.

»Wieso Neid?«, horchte Commissario Alberto Galli auf.

»Weil Simonetta de Rosa von mir ein Design übernommen hat, etwas, das Ettore Sarti nie gelungen ist.«

Da sahen die Beamten sich verständnislos an, schüttelten fast unmerklich die Köpfe, offenbar ging das über ihr Vorstellungsvermögen. Aber was wussten diese Beamten schon von Kreativität, von Glück und Qual eines Designers?

Paolo lief ziellos durch die Straßen. Endlich waren die Paparazzi verschwunden. Jeder konnte wieder den Haupteingang benutzen und musste sich nicht durch den Innenhof, durch das anschließende Gebäude und von dort in die Nebenstraße schleichen.

Trotz der Tragödie versuchten alle, die Normalität aufrechtzuerhalten. Es musste ja weitergehen, und so arbeitete die Schneiderei unter Hochdruck an den unfertigen Modellen. Dann kam noch überraschend Erica Mancini ins Haus. Bei den Fendi-Schwestern habe sie heute von dem Mord erfahren, sie erinnere sich, sie hatte Ettore, den engen Mitarbeiter von Simonetta, einmal kennengelernt. Ein so höflicher, eleganter älterer Herr. Erica war sofort ins Couture-Haus geeilt, um Simonetta de Rosa ihr Beileid auszusprechen. Kannte man den Täter schon? Und was war an den Gerüchten dran, über Spionage, über ein Kleid, das schon als Kopie in Billigläden hing?

War es das Modell, das Simonetta als Cover vorgeschlagen hatte und Erica sich in diesen Tagen ansehen wollte, um ihre Entscheidung zu treffen?

»Nein, nein«, dementierte Simonetta mit einem strahlenden Lächeln, sie habe während der Arbeit an der Kollektion eine andere Wahl getroffen. Dann schickte Antonia Nina ins Besprechungszimmer, damit sie das Kostüm Allessia vorführte.

Erica wollte es sich überlegen, es sei doch so anders im Stil. Sehr gern würde sie das Modell sehen, das ihr Simonetta als Erstes vorgeschlagen habe.

Simonetta ließ Nina daraufhin Mara vorführen. Alle wussten natürlich, dass Simonetta hier ein Spielchen mit der Chefredakteurin trieb, doch alle schwiegen.

Erica entschied sich für Allessia, das sei doch sehr interessant, ein so neuer Stil. Nachdem die Entscheidung gefallen war, hetzte die Redakteurin zurück zu den Fendi-Schwestern.

Allessia also würde auf das Cover der Septemberausgabe der Vogue kommen. Margaux sollte es tragen, und David Kane war als Fotograf bereits gebucht.

 

Ziellos und in Gedanken versunken lief Paolo weiter. Luca hatte ihn für heute Abend zu einer kleinen Party eingeladen, nichts Besonderes, er freue sich, wenn er käme. Sie hatten sich nicht mehr gesehen seit dem Morgen, nachdem Luca ihn in der Bar zurückgelassen hatte und er in der Suite von Mattia aufgewacht war.

Doch jetzt ging er zu seinem Noch-Freund. Er brauchte jemanden, er konnte nicht allein sein. Luca empfing ihn herzlich, betonte, dass die letzten Wochen vergessen seien und er sich freue, Paolo zu sehen.

Paolo stand verloren in der Mitte des Raums. Durch die offene Balkontür drangen Lärm, Motorengeräusche und der Geruch nach Benzin und Abgasen bis herauf in den zweiten Stock. War das immer schon so gewesen? Paolo bekam Brechreiz und versuchte, das Würgen zu unterdrücken. Er kämpfte auch noch dagegen an, als Luca mit einem vollen Glas Champagner aus der Küche zurückkam und es ihm reichte.

»Es tut mir leid, ich weiß nicht, was es heute zu feiern gibt.« Paolo richtete sich auf, er war verspannt und unterdrückte nur mühsam den anhaltenden Brechreiz.

Luca lachte. »Wir feiern das Leben, gleich bist du dran.«

»Was meinst du damit?«

Wieder lachte Luca und wies mit dem Kopf in Richtung Sitzecke. Hier saßen zwei Männer vor dem niedrigen Tisch, und zwischen ihnen eine junge Frau, die sich darüberbeugte.

Paolo sah Silberpapier und darauf sorgfältig gezogene Linien von Kokain. Jetzt zog die junge Frau das feine weiße Pulver durch eine gerollte Banknote in die Nase. Danach nickte sie Paolo zu, forderte ihn auf, zu ihr zu kommen, und hielt ihm die gerollte Banknote hin. Doch Paolo schüttelte den Kopf. »Nein«, wandte er sich an Luca, »nein, du weißt, dass ich nichts nehme, keine Drogen.«

»Komm, Darling, Kokain ist keine Droge, sie macht nicht süchtig, lockert dich nur, du bist so grässlich verspannt. Wir haben heute doch noch was vor.«

Luca lachte anzüglich. Paolo aber starrte auf die junge Frau, deren Lidstrich und Wimperntusche verschmiert waren. Sie klopfte sich gegen die Nasenflügel und schniefte laut. Da Paolo stehen blieb und sie nur ansah, gab sie die gerollte Banknote an den Mann neben ihr weiter. Ein dicklicher älterer Typ, gut gekleidet, teure Armbanduhr. War er derjenige, der Luca finanziell unter die Arme griff? Paolo hatte ihn einmal gefragt, wie er sich als Angestellter eines Reisebüros diese Wohnung, das Auto und seinen Lebensstil leisten könne. »Man muss nur den richtigen Mann kennen, der genug Geld hat!« Als Luca das zugab, war er mit Drogen zugedröhnt, sonst hätte er es niemals erzählt.

»Komm«, bedrängte Luca ihn jetzt, »du fühlst dich dann gut, du fühlst dich ganz wie du selbst, bist nicht mehr so verklemmt.«

Wieder lachte Luca, und die anderen fielen in das Lachen ein.

»Habt Geduld mit meinem Freund«, rief er gut gelaunt in die Runde. »Er ist Designer bei Simonetta de Rosa, und da hat er …«

»Was?«, schrie die junge Frau auf. »Hast du den Ermordeten gekannt?«

Plötzlich wurde Paolo zum Mittelpunkt. Aus der Küche kamen noch zwei eng umschlungene Männer, und alle bildeten einen Kreis um ihn.

»Das ist ja sensationell, erzähl!«

Paolo sah sie an, antwortete aber nicht, sondern ging zur Tür. Er gehörte nicht hierher, er gehörte nicht mehr zu Luca, zu Leuten, die Drogen brauchten, um ganz bei sich zu sein, Leuten, die einen schrecklichen Mord als Kick benutzten.

Vor der Eingangstür drehte er sich um. »Vorgestern«, sagte er mit bebender Stimme, »ist ein Bekannter und Mitarbeiter von mir auf furchtbare Weise gestorben, die schrecklichste Art, sein Leben zu verlieren. Er wurde ermordet, und sein Bild wurde durch die Presse gezerrt. Wenn auch du, Luca, nicht verstehst, wie es mir geht, dann haben wir uns nichts mehr zu sagen. Du hast dich so verändert, ich kenne dich nicht mehr oder ich habe dich nie gekannt. Addio.«

»Welch dramatischer Abgang«, schrie die junge Frau ihm nach, ihr schrilles Gelächter verfolgte ihn noch, während er die vielen Stufen nach unten hastete und das Haus verließ.

Er hatte es getan. Endlich konnte er sich von Luca trennen. Die gleichgültige Reaktion seines Freundes auf Ettores Tod hatte ihm die Kraft dazu gegeben.