Der Kleine ist noch nicht da.«
Carla stand in der Tür von Simonettas Allerheiligstem, ihrem Arbeitszimmer. Einen Teller in der Hand, auf dem ein angebissenes Stück Kuchen lag, lehnte sie sich gegen den Pfosten. »Ich habe es ja gewusst, dass er unzuverlässig ist, und seit du seinen Entwurf übernommen hast, fühlt er sich schon als der nächste Yves Saint Laurent.«
Simonetta sah von ihrem Terminkalender hoch, der ihr Beängstigendes verhieß. Nur noch vier Wochen bis zur großen Präsentation und dann zwei Tage später die Alta Moda-Schau auf der Spanischen Treppe. Und fast nur halb fertige Teile. Rosalia war am Durchdrehen, wollte nicht, dass man sie anrief, das Kleid Mariage mit seinen zweihundert Metern Stoff sei kaum zu besticken … eine endlose Reihe von Katastrophen.
Simonetta versuchte, ruhig zu bleiben. »Carla, nenne Paolo nicht immer so, es klingt geringschätzig, und das hat er nicht verdient.«
»Ja, aber er ist nicht da.« Carla stopfte sich den Rest Kuchen in den Mund.
Kopfschüttelnd beobachtete Simonetta sie.
»Ich weiß, sieh mich nicht so an. Ich habe zugenommen, und das darf man in der Modewelt nicht – oberstes Gebot!«, spöttelte Carla.
»Rede keinen Unsinn. Aber Carla, du genießt den Kuchen ja gar nicht, du stopfst ihn nur in dich hinein. Du isst aus Stress und Nervosität.«
»Ja, ja, schon gut, aber trotzdem, der Kleine ist nicht da.«
»Paolo«, verbesserte Simonetta, »wird krank sein, warten wir es ab. Wir haben ganz andere Sorgen, komm rein und mach die Tür zu.«
Voller Neugier schloss Carla die Tür und setzte sich Simonetta gegenüber.
»Es geht um Ettore«, begann Simonetta. »Er ist vergesslich geworden. Dazu übernervös. Ich habe ihn immer in Schutz genommen, aber jetzt häufen sich seine Fehler.«
Dann erzählte Simonetta, dass Ettore vergessen hatte, die Mannequins für die große Probe in zwölf Tagen zu buchen.
»Du weißt, der Termin dafür stand schon lange fest. Suzy zum Beispiel muss bereits Monate vorher gebucht werden, ebenfalls die anderen; sie sind alle Stars und haben einen engen Terminkalender.«
»Ich weiß, Ettore ist für die Organisation verantwortlich.«
»Ja, die Buchungen gehören seit Jahren zu Ettores Aufgabenbereich. Es ist noch nie passiert, dass ihm ein so gravierender Fehler unterlaufen ist. Weißt du, was mit ihm los ist?«
»Keine Ahnung.« Simonettas Unruhe übertrug sich auf Carla. »Ich weiß, du brauchst diese Proben mit den Mannequins.«
»Dann hatte ich ihn gebeten, durch eine Agentur dieses neue englische Mannequin zu buchen, Jean, auch das hat er vergessen. Er hätte es doch nur mit der Werbeabteilung absprechen müssen, die dann die Buchungen vornimmt.«
Carla war überrascht, vergaß für einen Moment Ettores Unzuverlässigkeit. »Ich habe ein Foto von dieser Jean gesehen, sie ist ein ganz anderer Typ, wieso willst du sie haben?«
»Genau deshalb. Sie ist sehr jung, frisch, noch ganz neu.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt. Ich denke, wir hatten schon größere Probleme, die wir gelöst haben.«
»Danke, Carla, du bist die Beste.« Simonetta nickte ihr dankbar zu.
»Das mache ich doch gern, das weißt du. Aber …« Carla stellte den Kuchenteller auf Simonettas Arbeitstisch ab. »Du siehst nicht gut aus. Geht es nur um Ettore? Oder …«
»Sein Verhalten macht mir Sorge. Ich frage mich, ob er dieser Position weiterhin gewachsen ist«, unterbrach Simonetta Carla.
»Ich denke, das musst du nicht sofort entscheiden. Hauptsache ist, dass wir das bis zur Modenschau schaffen. Und das werden wir.«
Da Simonetta schwieg, schlug sie vor, die Probe um ein paar Tage zu verschieben.
»Nein, auf keinen Fall.«
»Also gut, Simonetta, ich rede mit Stella von der Werbeabteilung. Sie soll diese Jean und auch die anderen buchen. Ich werde inzwischen bei Rosalia nachhaken, ob sie bis zur Probe das Modell Clara liefern kann.«
»Nein, lieber nicht, du weißt doch, Rosalia wird nervös, wenn man sie unter Druck setzt.«
»Ist gut. Entspann dich. Jedes Mal denken wir, eine Katastrophe jagt die andere, und am Schluss klappt doch immer alles. Du bekommst diese Jean und auch die anderen Mädchen, die ein wenig herumzicken und dann doch bei dir laufen. Du wirst eine grandiose Modenschau hinlegen.«
»Danke dir, Carla, was würde ich nur ohne dich machen.«
»Das wüsste ich auch gern.« Carla brach in ihr tiefes Lachen aus, und Simonetta lächelte sie an. Es war gut, sie zu haben.
Als Carla gegangen war, zählte Simonetta in ihrem Terminkalender die Tage seit Davids Abflug nach. Er hatte sich bei seiner Ankunft in Marrakesch vom Hotel Mamounia aus kurz gemeldet, dann nicht mehr.
Als David ihr von diesem Auftrag erzählt hatte, war sie einerseits erleichtert, denn so konnte sie sich in der Endphase der Kollektionserstellung ganz darauf konzentrieren. Und doch hätte sie ihn gern gesprochen oder wenigstens ein Lebenszeichen von ihm erhalten, dass es ihm gut ging. Aber das schien es ja wohl, hätte er sich sonst heimlich mit Chiara hier in Rom getroffen?
Gestern hatte sie einen kurzen Termin mit Erica Mancini absolviert, kein offizielles Interview, auch ohne Fotografen. Nur ein paar vage Andeutungen über die neue Kollektion – mehr nicht. Dann hatte sie von dem Parfum erzählt, das kurz vor der Modenschau herauskommen würde. Passione di Roma. Das Foto für die groß angelegte Werbekampagne hatte David gemacht: Simonetta in einem roten Abendkleid. Sie sollte selbst das Werbegesicht für ihr erstes Parfum werden.
Auch das machte sie nervös. Was, wenn das Parfum kein Erfolg würde? Die Entwicklung dieses Duftes durch den besten Parfumeur Frankreichs hatte bereits Unsummen gekostet, und die Werbekampagne verschlang Millionen. Und nun endlich würde es so weit sein.
Aber Simonettas größter Wunsch für diese Premiere war nicht in Erfüllung gegangen. Sie hatte sich ihre Modenschau im Opernhaus, im Teatro dell’Opera, vorgestellt. Glanzvoll wie eine Opernpremiere, vor deren Beginn jeder der Zuschauer die ersten Flacons als Geschenk überreicht bekam.
Sie erhob sich, lief hinaus und erwischte Carla, die gerade in den Aufzug steigen wollte. »Ach, eines noch, Carla. Beinahe habe ich es vergessen: Wissen die Mitarbeiter, dass ich übermorgen wieder eine kleine Einladung für sie geplant habe?«
»Natürlich. Wie immer freuen sie sich darauf.«
Einmal im Monat gab Simonetta für ihre Mitarbeiter eine zwanglose Einladung. An diesem Abend konnten sie miteinander reden, essen, sich austauschen, einen Abend lang entspannen. Und das Gefühl haben, eine Familie zu sein.
Am nächsten Morgen brach Simonetta mit ihrer täglichen Gewohnheit und verzichtete auf den ersten Espresso bei Luigi. Sie konnte es kaum erwarten, an ihrem Arbeitstisch zu sitzen und noch ein paar Skizzen auszuarbeiten. Es dauerte nicht lange, und die tägliche Hektik begann. »Guten Morgen, Simonetta.«
Carla war auch schon da. »Gerade hat mich die Werbeabteilung angerufen. Du weißt schon, sie kümmern sich auch um die Einladungen. Und jetzt rate mal, wer zu unserer Modenschau kommen will?«
»Das weiß ich nicht, aber du wirst es mir sicher gleich sagen«, lächelte Simonetta Carla an.
»Contessa Elisabetta di Farini«, trumpfte Carla auf. Vor vielen Jahren schon hatte das Modehaus sie immer wieder eingeladen, doch die Contessa hatte stets abgelehnt. Und plötzlich bat ihre persönliche Assistentin um eine Einladung?
»Vielleicht hat sie keine Lust mehr auf Balenciaga«, war Carlas Meinung.
»Oder auf Oleg Cassini«, überlegte Simonetta.
»Wer ist das denn?« Antonia tauchte hinter Carla auf und hatte den letzten Satz noch gehört. »Muss man den kennen?«
»Oleg Cassini ist ein amerikanischer Modeschöpfer in New York, bei ihm kauft die Frau des Präsidenten ihre Kleider.«
»Du meinst Jacky Kennedy?«
»Gibt es sonst noch einen amerikanischen Präsidenten?«
Simonetta hörte dem Geplänkel von Carla und Antonia nicht weiter zu. Sie dachte an die Contessa. Eine elegante, sehr schlanke Frau, deren Markenzeichen eng anliegende Turbane waren, die ihr schmales Gesicht mit den dunkelrot geschminkten Lippen wunderbar zur Geltung brachten. Sie war verheiratet mit Alfredo di Farini, doch alle in der »Szene« wussten, dass die beiden sich gut verstanden, jedoch jeder sein eigenes Leben führte. Zu deren Freundeskreis gehörte offenbar auch Chiara. Simonetta kannte die Fotos in der Boulevardpresse. Chiara wurde nur am Rande genannt, da auch sie auf der Gästeliste der Contessa stand. Es waren die Fotos, auf denen Simonetta ihre Schwester erkannt hatte.
»Und weißt du schon das Neueste?«
Simonetta schüttelte den Kopf.
»Die Contessa soll eine Freundin finanzieren, die eine eigene Kollektion auf den Markt bringen will. Und zwar hier in Rom«, erzählte Antonia, die hinter Carla hervortrat.
»Wer soll das sein?« Carla wandte sich neugierig an sie.
»Keine Ahnung. Ich habe nur gehört, dass sie in Paris für verschiedene Labels Taschen entworfen hat. Richtig bekannt wurde sie durch das Foto in enger Umarmung mit …«
Antonia sah Simonetta erschrocken an. Schweigend erhob sich Simonetta, ging zum Fenster und wandte den beiden Frauen den Rücken zu.
Chiara. Bist du diese Freundin? Rivalin um Davids Liebe, Rivalin in der Mode?
Doch wieder verspürte sie weder Traurigkeit noch das Gefühl, verletzt zu sein.
Antonia und Carla hatten sich bereits zurückgezogen, als Simonetta sich wieder umdrehte. Einen Moment lang zögerte sie. Dann verließ Simonetta ihr Arbeitszimmer. Der Espresso bei Luigi fehlte ihr. Also wollte sie schnell zu ihm laufen und das morgendliche Ritual nachholen.
Im Atelier saß Paolo, vor sich auf dem Tisch den großen Zeichenblock. Simonetta ging an der offenen Glastür vorbei und sah ihn dort sitzen. Er war so blass, dass sie stehen blieb.
»Paolo, geht es Ihnen nicht gut?«
Paolo fuhr erschrocken hoch. »Doch, doch, ich …«
Simonetta schloss hinter sich die Tür und lehnte sich von innen dagegen, was bei Paolo sichtlich Panik auslöste.
»Was ist denn los?«, wollte sie wissen. »Sind Sie unzufrieden, wollen Sie mehr? Aber Sie müssen sich Zeit lassen. Ich glaube an Sie. Sie werden Ihren Weg gehen, mit oder ohne mich. Sie sind hochbegabt, auch gesund und sehen sehr gut aus. Sie haben alles, was man sich wünschen kann. Und Sie sind jung, Paolo, die Modewelt steht Ihnen offen, haben Sie Geduld!«
Jetzt zögerte Simonetta. »Und dann haben Sie eine Mutter, die Sie liebt.«
Paolo sah sie überrascht an. Simonettas Stimme hatte sich verändert, hatte die Festigkeit verloren, klang leise und brüchig.
Er blickte auf seine Hände, er wollte Simonetta jetzt nicht ansehen. Ja, es stimmte, er hatte eine wunderbare mamma, mit der er jeden Tag auf Kosten des Modehauses telefonierte, was für Ärger sorgte. Simonetta überhörte die Anspielungen der Finanzabteilung, dass hier doch wirklich gespart werden könne. Wieso durfte dieser junge Mann sich alles erlauben und täglich lange Ferngespräche führen? Doch jeder im Haus wusste, Paolo stand unter dem persönlichen Schutz der Signora.
Auch Paolo wusste das. Manchmal hatte er sich gewünscht, dass Simonetta, diese schöne, erfolgreiche Frau, seine Mutter wäre, doch dann ergriff ihn tiefste Scham. Er liebte seine mamma, die kleine, dickliche Frau, die strahlte, wenn sie ihn ansah, die ihn bedingungslos liebte, deren tägliche Freude die Anrufe ihres Sohnes waren. Und die alles für ihn getan hatte, ihm die Schule in Paris ermöglichte, die arbeitete und schuftete, damit es Paolo gut ging. Sie wäre zutiefst enttäuscht, wenn sie wüsste, was er …
»Paolo«, hörte er Simonetta sagen, »haben Sie Lust, mit mir auf einen Espresso zu Luigi zu gehen?«
Paolo sprang auf, er sollte wirklich mitkommen und ihr alles gestehen. Er konnte nicht länger darüber schweigen, was Luca von ihm verlangt hatte, Luca, dem er ein Versprechen gegeben hatte.
Und zwar an dem Morgen, nachdem er bei Mattia aufgewacht war. Als Luca weinend vor seiner Tür kauerte und ihn um Verzeihung bat. Aus Schwäche und schlechtem Gewissen hatte er Luca ein Versprechen gegeben, das er längst bereute.
Luca erzählte unter Tränen, er habe gedacht, Paolo fahre in einem der anderen Autos mit, als sie nach Ostia aufbrachen. Doch als er sein Fehlen bemerkte, sei er sofort zurück in die Bar gefahren. Dort aber musste er erfahren, dass Paolo mit Mattia Bertrani weggegangen sei – Arm in Arm, es habe nach einer sehr zärtlichen Umarmung ausgesehen.
Hat er dir dieses Hemd geschenkt? Hast du mit ihm …
Paolo hatte stumm den Kopf geschüttelt und sich abgewandt. Er hatte nicht mit Mattia geschlafen, doch beinahe hätte er es getan. Aber war nicht die Tatsache, dass er die Zärtlichkeit von Mattia genossen hatte, bereits Betrug? Und dann hatte er sich das teure Hemd schenken und das viele Geld fürs Taxi geben lassen, ohne zu protestieren. Und er trug die Visitenkarte von Mattia in seiner Hosentasche.
Als er Lucas tiefste Verzweiflung und auch Reue sah, fühlte er sich schlecht. War das nicht ein Beweis für Lucas Liebe? Das hatte Paolo nachgiebig gemacht und ihm tiefe Schuldgefühle verursacht. Aber liebte er Luca überhaupt noch?
Das war vor zwei Tagen gewesen, und heute war er sich nicht mehr sicher, ob Luca nicht großes Theater gespielt und die Stunde von Paolos schlechtem Gewissen genutzt hatte, um ihn … hier zögerte Paolo, um dieses Wort nicht zu Ende zu denken. Doch ja, Luca hatte ihn erpressen wollen.
Zeig mir, dass du an uns als Paar glaubst, dass du mit mir alt werden willst, für immer verbunden – und das auch durch ein Modehaus. Wäre das nicht das Größte? Du brauchst keinen Bertrani, der bekannt ist für schnelle Affären, ich aber … ich, Luca … liebe dich …
»Ich denke …« Paolo sah zu Simonetta, die immer noch an der Tür stand und auf ihn wartete. »Es tut mir leid, Signora, wirklich. Aber ich muss nach Hause, ich bin sehr erschöpft.«
»Ist gut, Paolo, dann ruhen Sie sich einfach aus, und bis morgen. Ciao.«
Nachdem sich Simonetta verabschiedet hatte, stützte Paolo den Kopf in beide Hände und schloss die Augen.
»Nun, ist der Günstling der Königin müde?«
Paolo schrak hoch. An der offenen Tür lehnte Ettore, der wahre Gentleman, wie ihn Simonetta mit einem Augenzwinkern nannte. Den Mann aus dem vorigen Jahrhundert nannte Carla ihn, und das klang nicht so freundlich wie Simonettas Beurteilung.
Paolo hörte sehr genau die Ironie in Ettores Worten, doch er konnte nicht schlagfertig reagieren. Er besaß nicht den Witz oder die geistige Beweglichkeit, um mit einer passenden Bemerkung lächelnd zu kontern, wie er es gern getan hätte.
So sah er Ettore nur schweigend an.
Wie schon so oft schoss ihm die Frage durch den Kopf, woher Ettore das Geld für seine maßgeschneiderten Anzüge und Hemden nahm. Nicht nur er machte sich Gedanken darüber, sondern das gesamte Team. Und es gab auch noch die Gerüchte, dass er sich Schönheitsoperationen unterzog, da er panische Angst vor dem Alter habe.
»Was wollen Sie?«, fragte Paolo jetzt missmutig und auch ein wenig ängstlich, denn er spürte bei dem älteren Mann Ablehnung und sogar Neid.
Er sprang auf und wollte gehen, doch Ettore machte keine Anstalten, die Tür freizugeben. Als Paolo vor ihm stehen blieb, griff Ettore nach seinem Arm. Paolo bekam Herzklopfen, wollte sich aber auch nicht wehren oder die Hand abschütteln, denn er trug Mattias Seidenhemd und war besorgt, es könnte reißen, wenn er sich wehrte.
»Nichts«, war Ettores Antwort, »nichts will ich von Ihnen, nur gratulieren. Sie haben Glück, die Signora hat eine Idee von Ihnen übernommen, heute ist es eine, morgen zwei, und dann immer so weiter. Und Sie wissen sicher, Sie sind der Erste überhaupt, von dem sie ein Design akzeptiert hat.«
Paolo atmete tief ein und versuchte, seine zittrige Stimme energisch klingen zu lassen. »Und was wollen Sie jetzt von mir?« Hilflos sah er durch das große Glasfenster hinüber in Carlas Schnittatelier, in dem die Direktrice am Ständer mit den Mustern vorbeiging und sie durchblätterte.
Ettore lachte nur und verbeugte sich leicht.
Paolo verstand die Ironie dieser Verbeugung. Schnell schob er sich an Ettore vorbei und hastete zum Aufzug, während er einen Blick zurückwarf. Dort stand der alternde Mann, der es nicht geschafft hatte, der vielleicht einmal Talent besessen hatte, aber glücklos geblieben war, glücklos auch darin, Kapital für ein eigenes Modehaus aufzutreiben.
Sollte er auch einmal so enden? Als alter Mann in irgendeiner Firma die Abläufe einer Kollektionserstellung organisierend, während er zusehen musste, wie andere Erfolge feierten, ihre Kreationen in den Hochglanzmagazinen bewundert wurden?
Paolo spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann und das seidene Hemd an ihm klebte. Er geriet in Panik; so enden wie Ettore wollte er nicht. Er musste zugeben, Luca hatte recht, man brauchte Kapital, um eine eigene Kollektion zu erstellen. Und das sollte passieren, solange man noch jung war.
Ettore blieb an der Tür stehen und sah zu, wie der Aufzug kam und mit Paolo nach unten fuhr.
Langsam, mit zitternden Knien, ging er in sein Zimmer hinüber und ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl nieder. Er hatte nicht so herablassend zu Paolo sein wollen.
Jetzt tat es ihm leid. Doch dieser junge begabte Kerl überging ihn meist, schenkte ihm kaum Beachtung. Er aber beobachtete ihn, denn Simonettas Assistent hatte etwas, um das Ettore ihn beneidete: Jugend und diese glatte Schönheit. Sein Gesicht war nicht so abgelebt und müde wie seines.
Ettore war nicht sechzig, wie er gern glauben ließ, er feierte demnächst seinen siebzigsten Geburtstag. Wusste Simonetta das? War sie ihm gegenüber deshalb so nachsichtig? Hatte sie einfach nur Mitleid mit ihm, einem alten Mann?
Er fühlte sich müde, todmüde. Bei diesem Gedanken erschrak er. Nicht an den Tod denken, er hatte nicht gelebt, er hatte nicht das bekommen, was er sich immer gewünscht hatte.
Was hatte seine Mutter immer gesagt? Wenn du krank bist, kannst du darauf hoffen, wieder gesund zu werden. Hast du kein Geld, kannst du hoffen, dass du irgendwann in der Lotterie gewinnst und reich wirst, aber wenn du alt bist, gibt es keine Hoffnung mehr. Du kannst nur zurückblicken auf das, was gewesen ist, und wenn du ein zufriedener alter Mensch bist, dann kannst du sagen, ich habe gelebt, ich habe ein gutes Leben gehabt, es so gelebt, wie ich es mir gewünscht habe.
Nein, widersprach er jetzt in Gedanken, wenn du alt bist, gehört dir nur noch die Gegenwart, und die sollte man genießen.
Mit zittrigen Händen griff er nach der Flasche Wasser, die auf dem Tisch stand, nahm sich ein Glas und schenkte sich ein. Er fühlte, dass jemand ihn beobachtete, und als er den Kopf zur Seite wandte, sah er Carla, die an der Glastür des Schnittateliers stand und zu ihm herübersah. Ettore zwang sich ein Lächeln ab, das strahlend sein sollte, überzeugend, voller Energie. Doch es wurde nur ein kläglicher Versuch. Carla nickte ihm zu, sie wirkte besorgt, genau das, was er nicht wollte, nicht vertrug.
Manchmal sagte er sich, der Krieg habe ihm sein Leben verpfuscht, ihn daran gehindert, Karriere als Modeschöpfer zu machen. Er hatte es Anfang der Dreißigerjahre auch versucht und das Erbe seines Vaters verjubelt, wie seine Mutter es nannte, die nicht verstand, dass man für etwas so Überflüssiges wie Mode sein Geld ausgab.
Er hatte es nicht geschafft.
Doch er hielt an der Illusion fest, der Krieg sei schuld; genau wie er immer wieder betonte, er sei sechzig Jahre alt. Bis er erkannte, dass er für die jungen Leute in der Firma einfach nur alt war – sechzig oder siebzig, was machte das schon aus, alt war nun einmal alt.
Immer noch hatte er gehofft, Simonetta ziehe ihn im Design mit heran, und nun war es Paolo, dieser junge, schöne Mann, der ein unglaubliches Potenzial hatte, das Simonetta erkannte und ihm deswegen eine Chance gab. Ettores Hand zitterte, während er sein Glas gierig austrank. Immer hatte er in der zweiten Reihe gestanden, sein ganzes Leben lang.
Und zu Hause? Jeden Tag zögerte er den Moment des Heimkommens hinaus. Einsamkeit und Enttäuschung überfielen ihn dort, nahmen ihm den Atem, stießen ihn in die Leere.
Da war auch noch sein Cousin Benito, der ihm über Jahren Geld geliehen hatte. Er war immer großzügig gewesen, gab Ettore die Möglichkeit, durch Eleganz in der Modeszene mitzuhalten. Jetzt plötzlich drängte Benito auf Rückzahlung, sogar mit Zinsen, obwohl sie eine Familie waren. Da half man sich doch, gab dem anderen Geld, aber man verlangte es nicht zurück. Auch das war eine Enttäuschung in seinem Leben.
Einfach wegfahren können, sich den letzten, den großen Wunsch erfüllen: eine Reise nach London, dort im Hotel Savoy in einer Suite residieren, in der Lobby sitzen und nachmittags den High Tea genießen, eine Zigarre rauchen und sich bedienen, sich mit Sir anreden lassen. Die Garderobe, um dort zu bestehen, hatte er, doch niemals die Gelegenheit gehabt, sie im entsprechenden Rahmen zu tragen.
Er hatte Englisch gelernt, er hatte den Stadtplan dieser großartigen Stadt London studiert. Einmal dort sein, einmal ein großer Gentleman sein, den man achtete und bediente. Einmal nur. Sir, darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee bringen, Sir …
Doch dazu brauchte er Geld. Geld, um seinen letzten großen Wunsch zu erfüllen.
Das Leben war es ihm schuldig.