Das Bombardier-B-12-Schneemobil quälte sich die Steigung am Übergang des Schelf-Eises zur antarktischen Kontinentalplatte empor. Der altehrwürdige Chrysler-Flathead-Motor mit lediglich einhundert PS geriet dabei fast an seine Grenzen, da er für einen Einsatz unter solchen Bedingungen ursprünglich nicht konzipiert worden war. Trotz seiner frappierenden Leistungsschwäche bewältigte das Fahrzeug die ihm gestellte Aufgabe zuverlässig. Am Steuer saß Sergeant Willis, der das Schneemobil regelmäßig bei Fahrten in das Innere der Antarktis lenkte. Der jetzt von ihm befahrene Weg war für solche Gelegenheiten von den in Little America stationierten Soldaten von allen Hindernissen befreit worden. Zudem hatten sämtliche Bodenlöcher leicht sichtbare Markierungen in Form dreieckiger Fähnchen erhalten.
Dennoch ging es nur zäh vorwärts.
Von der langsamen Geschwindigkeit genervt, die kaum mehr als zehn Stundenkilometer betrug, trommelte Meyers, der auf dem Beifahrersitz saß, mit den Fingern auf dem Armaturenbrett und dachte: Die Russen haben garantiert längst etwas Besseres als diesen fahrbaren Schrotthaufen entwickelt …
Das B-12-Mobil wurde über zwei, im Frontbereich anmontierte, mit Skiern versehenen Kufen gesteuert, die in direkter Verbindung zur Lenkstange standen. Das Dach der Kabine war nach oben hin gewölbt, weshalb seine Silhouette einem überdimensionierten Käfer glich. Normalerweise mit Sitzen für bis zu zwölf Mann ausgestattet, hatten für den gegenwärtigen Einsatz die hinteren Bänke weichen müssen, um Platz für die Ausrüstung der Expedition zu schaffen. Die beiden Schlitten hatten Walkers Männer auf dem Dachgepäckträger des Fahrzeugs vertäut.
An der Anhängerkupplung am Heck hing ein Lkw-Trailer, dessen Räder findige Army-Ingenieure für die Verwendung im Polarkreis gegen Kufen ausgetauscht hatten. Darin kauerten MacNeil und das Hunderudel, die bei jeder Unebenheit heftig durchgerüttelt wurden.
Nach fünfzig Kilometern kam der Zeitpunkt, Abschied von Sergeant Willis und dem Schneemobil zu nehmen. Während beide Schlitten beladen wurden und Schumann ihre Kufen vereiste, bereitete MacNeil die Zugleinen und Geschirre für die Hunde vor. Bei bestem Wetter bellten die Tiere vor Aufregung, winselten und hüpften aneinander hoch. Sie freuten sich augenscheinlich, bei strahlendem Sonnenschein wieder an der frischen Luft zu sein und sich austoben zu können.
MacNeil befestigte die Leinen vorn an den Schlitten, streifte den Hunden die Zuggeschirre über und teilte sie in zwei Doppel-Gespanne auf, bei denen jeweils zwei Hunde nebeneinander laufen. Das erste führten Kenai und Tinkerbell als Leithunde an, die beiden »Schnellen Schwestern« das zweite. Als er die Vorbereitungen beendet hatte, überließ er Schumann den Schlitten mit Wanda und Wilma. Dann winkte er den Rest des Teams herbei.
Meyers und Jones setzten sich auf den von MacNeil gelenkten Schlitten, Amanda und Olsen nahmen vor Schumann Platz.
Die Musher lösten die Schneeanker und Bremsen, MacNeil rief: »Go!«, und die Vierbeiner preschten wie bei einem Rennen los. Aufgrund des Bewegungsmangels der letzten Tage nach Aktivität ausgehungert, beschleunigten sie mit aller aufgestauten Energie. Die Hundeführer mussten sie mit wiederholten »easy, easy!«-Rufen zu einem langsameren Tempo ermahnen, denn bei dieser Expedition kam es darauf an, dass die Hunde mit ihrer Kraft haushielten und im Trab möglichst lange Strecken am Stück absolvierten, statt mit Höchstgeschwindigkeit zu sprinten.
Die gedrückte Stimmung, unter der MacNeil die letzten Tage gelitten hatte, verflog mit dem Fahrtwind, während der Schlitten über die schier endlose, weiß und silbrig glitzernde Fläche glitt, die sich vor ihnen ausbreitete. Je weiter sie vordrangen, desto mehr wurde MacNeil bewusst, dass die Einsamkeit der Polarregion eine andere war als jene, in der er die letzten Jahre verbracht hatte.
Unterwegs sah er in regelmäßigen Intervallen auf den am Haltegriff vor ihm montierten Kompass, der ihm den Weg zum Whitney Peak wies. Gelegentlich korrigierte er Kenais Laufweg mit »gee over!« beziehungsweise »haw over!« Kommandos, wenn er zusammen mit den übrigen Hunden den Schlitten nach halbrechts oder halblinks ziehen sollte.
Der erste Tag verstrich ohne besondere Vorkommnisse, und die Expedition baute am frühen Abend die beiden Drei-Mann-Zelte auf, die sie nachts vor der Witterung schützen würden.
Nach dem auf einem Karbidkocher erhitzten, schweigsam eingenommenen Abendessen, krochen die drei Soldaten und Olsen bald in die Zelte und die Wärme der Schlafsäcke.
Amanda und MacNeil blieben auf ihren dreibeinigen Klapphockern sitzen und bewunderten die spektakuläre Mitternachtsdämmerung sowie die Polarsonne.
Endlich gelang es Amanda Blair, den wortkargen Mann in ein längeres Gespräch zu verwickeln.
Sie hatte dazu schon vorher zwei oder drei gescheiterte Anläufe unternommen. Von Anfang an war sie überzeugt gewesen, dass seine Hunde der passende Hebel sein würden, um ihm die Zunge zu lösen. Bei Fragen zum täglichen Umgang mit den Tieren hatte er allerdings immer abgeblockt und etwas davon gemurmelt, dass sie ihm einfach zusehen solle. So würde sie alle ihre Antworten bekommen.
Einige der Hunde durfte sie nicht einmal berühren. Insbesondere galt das Verbot für den Leitrüden Kenai und die Wurfgeschwister Wanda und Wilma.
Nun saß der Hundeführer der Wissenschaftlerin gegenüber, und Amanda entschloss sich zu einem letzten Versuch, ein längeres Gespräch mit den Hunden als Einstiegsthema in Gang zu bringen. Doch diesmal verzichtete sie auf Fragen zum täglichen Umgang mit den Tieren. Stattdessen wollte sie wissen, woher seine Begeisterung für die Tiere rührte?
Und tatsächlich erzählte er ihr ausführlich von der Zeit, in der er sein Rudel kennengelernt hatte.
***
»Nachdem O’Donnell, das ist der Typ, von dem ich die Hunde und mein Haus übernommen habe, mein Angebot akzeptiert hatte, bestand ich darauf, dass er augenblicklich seinen Krempel zusammenpackt. Als er so weit war, haben wir alles auf der Ladefläche von meinem Pick-up verstaut, und dann habe ich ihn nach Anchorage kutschiert. In der Stadt habe ich den vereinbarten Kaufpreis von der Bank abgehoben und ihm in die Hände gedrückt. Im Austausch dafür gab er mir die Schlüssel zu seiner Bruchbude. Ich war echt froh, ihn wieder los zu sein.«
MacNeil lächelte schmal, bevor er weitersprach.
»Dann bin ich in mein Hotel, habe ausgecheckt und meinen kompletten Besitz aus dem Zimmer ins Auto gebracht. Viel war es nicht, nur ein Koffer voll mit Klamotten. Nachdem ich einen Wochenvorrat an Lebensmitteln für mich und Futter für die Hunde eingekauft hatte, besorgte ich mir ein Jagdgewehr. Man weiß ja nie, wer oder was einen in der Einsamkeit erwartet. Als ich mich schon auf den Rückweg gemacht hatte, erinnerte ich mich zum Glück an den Schmutz und Gestank im Haus. Zwar hatte ich O’Donnells Bett nicht gesehen, aber falls es genauso verdreckt sein sollte wie er und der Rest des Grundstückstücks – und davon war auszugehen – wollte ich mich da bestimmt nicht reinlegen. Der bloße Gedanke daran war einfach ekelhaft. Deshalb habe ich meine Ausrüstung noch um einen Schlafsack und die halbe Putzmittelabteilung aus einem Supermarkt ergänzt. Erst kurz vor Sonnenuntergang war ich wieder bei den Hunden.«
MacNeil trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Das Getränk war bei den sinkenden Außentemperaturen rasch abgekühlt.
»Die armen Tiere waren so abgemagert, dass ich mich entschloss, ihnen den Truthahn zu kochen, den ich eigentlich für mich selbst besorgt hatte. Für mich blieben ja immer noch Brot und Dörrfleisch übrig. Ihnen beim Kennenlernen etwas besonders Leckeres zuzustecken, würde hilfreich dabei sein, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Ich kochte also das Federvieh, zerteilte es in mundgerechte Happen und füllte die Stücke in einen großen Eimer. Als ich damit zu den Hunden ging, reagierten sie – wie schon vorher – aggressiv und abweisend, teils auch ängstlich. Sie jetzt schon von den Ketten zu befreien, wäre viel zu leichtsinnig gewesen. Also drehte ich eine Runde, darauf bedacht, keinem der Tiere zu nahe zu kommen und ihnen nicht in die Augen zu sehen. Ihnen meine linke Körperseite zugewandt, warf ich ihnen die Fleischbrocken zu, die sie gierig verschlangen. Der Anfang war gemacht, ab jetzt verhielten sich fast alle Hunde mir gegenüber wesentlich zutraulicher. Bis auf einen.«
MacNeils Stimme stockte, als er in die Erinnerung an jenen schicksalhaften Tag abglitt.
»Lass mich raten, um welchen es sich dabei gehandelt hat?«, hakte Amanda mit sanfter Stimme nach. »Kenai?«
MacNeil lachte.
»Kenai natürlich, wer sonst? Er hat mich so lange fixiert, bis ich mich zehn Meter von ihm entfernt hatte. Erst dann hat er das Fleisch gefressen. Aber mir ist von Beginn an klar gewesen, dass mich eine schwierige Aufgabe erwartet, was ihn betrifft. Daher hat mich sein anfängliches Misstrauen nicht besonders gestört.
Inzwischen brach die Dämmerung herein. Weil ich auf keinen Fall in der stinkenden Hütte schlafen wollte, suchte ich mir ein schönes Plätzchen am Rand der Lichtung. Das Gewehr hatte ich geladen und griffbereit neben mich gelegt, falls ein Bär oder ein Puma auftauchen sollte. Gefährlich konnten uns ungebetene Gäste nicht werden, da die Hunde ihre Ankunft rechtzeitig ankündigen und mich aufwecken würden.
Am nächsten Morgen habe ich die Fenster der Hütte sperrangelweit aufgerissen und mein neues Zuhause näher unter die Lupe genommen. Die Innenräume und das Mobiliar waren hoffnungslose Fälle. Ich schleppte den ganzen Krempel nach draußen, um ihn abzufackeln. Danach habe ich mich weiter mit den Hunden angefreundet. Manche wirkten, als könne ich sie vielleicht schon bald berühren. Kenai hatte weiterhin nur Drohungen und gefletschte Zähne für mich übrig.
Nach meiner zweiten Nacht im Schlafsack fuhr ich gleich nach dem Frühstück in die nächstgelegene Kleinstadt, um einen Dampfstrahlreiniger mit Verbrennungsmotor und Material zum Einzäunen der Lichtung zu erwerben. Ohne eine Begrenzung des Grundstücks wollte ich die Tiere nicht von der Kette lassen.
Zwar besaß ich bisher keine Möbel, aber ich hatte Wände und Boden gründlich gereinigt. Der Hochdruckreiniger bewirkte dabei wahre Wunder, und so verbrachte ich bald meine erste Nacht im Haus. Allmählich habe ich es renoviert, den Zaun aufgebaut und Möbel aus dem Katalog bestellt, die ich mir von einem Transportunternehmen in die Wildnis liefern ließ.
Doch zurück zum eigentlichen Thema: den Hunden. Alle waren unterernährt und hatten massive Hautprobleme. Zwei von ihnen waren so schwer krank, dass auch der Tierarzt nicht helfen konnte. Die übrigen habe ich mit gutem Futter und viel Zuwendung aufgepäppelt. Die betroffenen Hautstellen habe ich mit Salben gepflegt; und für das Fell habe ich Fischöl unters Futter gemischt. Die Verfilzungen und das tote Haar konnte ich leider nicht komplett ausbürsten, also musste ich die Malamuten teilweise wie Schafe scheren. Nach vier Wochen hatten sie mich akzeptiert und entwickelten ein immer stärkeres Vertrauen zu mir. Alle, bis auf einen …«
»Kenai?«
»Ja, genau. Seine Freundschaft zu erlangen, funktionierte innerhalb der Umzäunung überhaupt nicht, egal, wie viel Mühe ich investiert habe. Mir fiel nichts Besseres mehr ein, als zusammen mit ihm raus in den Wald zu gehen, in der Hoffnung, dass er nicht abhaut und dass er zu seinem Territorium und seinem Rudel zurückkehrt, falls er Streunen oder Jagen geht.
Zuerst habe ich mit Fleischstücken eine Spur, die kurz außerhalb der Reichweite, die er an der Kette hatte, anfing, ausgelegt. Sie führte bis zum Grundstückstor und gut zwanzig Meter darüber hinaus. Wieder auf dem Gelände habe ich das Tor geschlossen, ein Beil geholt und Kenai ein geräuchertes Schweineohr hingeworfen, mit dem er ein paar Minuten beschäftigt war. Ich nutzte die Ablenkung und schlich vorsichtig zu dem Pfosten, an dem die Kette befestigt war. Mit einem Schlag habe ich die Kette durchtrennt. Kenai schreckte bei dem Geräusch auf und starrte mich an. Ich legte die Arme an und blickte demonstrativ in eine andere Richtung. Es dauerte fast eine Minute, bis er sich ein wenig entspannte und weiterfraß. Die übrigen Hunde standen wedelnd in respektvollem Abstand rund um ihn herum.
Als er die Mahlzeit beendet hatte, ging er zu seinen Artgenossen. Sie haben sich voller Freude beschnüffelt, mit den Nasen angestupst, zum Spielen aufgefordert und sind miteinander herumgetollt. Unterdessen hielt ich die ganze Zeit still, um in keinem Fall die Aufmerksamkeit der Hunde zu erwecken.
Nachdem das Rudel wieder ruhiger geworden war, nahm Kenai die ausgelegte Futterspur auf und vertilgte einen Fleischbrocken nach dem anderen. Ich überholte ihn dabei in einem weiten Bogen, stellte mich an das Tor und legte die Hand auf die Klinke. Er hatte kaum den letzten Brocken, der sich innerhalb des Geländes befand, verputzt, da öffnete ich langsam das Tor und er schlüpfte durch den Spalt ins Freie. Während er die Kette, die noch an seinem Hals baumelte, durch die Öffnung nachschleifte, blockierte ich die nachdrängenden Malamuten mit meinen Beinen und dirigierte sie mit Handbewegungen wieder zurück auf das Gelände. Dann folgte ich Kenai nach draußen und schloss das Tor hinter mir.
Bald hatte er alles Fleisch auf dem Boden gefressen. Nun wurde es riskant. Mit einem Stück Huhn in der Hand näherte ich mich ihm leicht seitlich versetzt, sodass ich ihm stets die Schulter zuwandte. Ohne Knurren ließ er mich bis auf einen halben Meter heran. Er machte Sitz und wandte mir den Rücken zu. Von dieser Geste des Vertrauens beflügelt, streckte ich den Arm aus und gab ihm das Fleisch aus der Hand. Er schnappte es blitzschnell, trug es einige Meter zur Sicherung der Beute weg und legte sich auf den Boden, um es zu fressen.
Dann sprang er auf und trottete los. Ich folgte ihm und lief zuerst eine Weile hinter ihm, bis ich aufschloss und neben ihm rannte. So sind wir zusammen eine ganze Weile durch den Wald gejoggt. Plötzlich brach er zur Seite aus und beschleunigte so stark, dass ich nicht mit ihm mithalten konnte. Innerhalb weniger Sekunden war er auf und davon.
Ich stiefelte zu meinem Haus zurück und hoffte, er würde bald wieder daheim aufkreuzen. Und tatsächlich: Am Abend meldete er sich mit lautem Wolfsgeheul vor dem Tor zurück und verlangte Einlass, den ich ihm glücklich gewährt habe.«
»Toll«, rief Amanda begeistert aus, die MacNeil nie zuvor so mit sich selbst und der Welt zufrieden gesehen hatte. »Und wann hast du dich entschlossen, die Hunde wieder für Rennen anzumelden?«
»Irgendwann wollte ich den Schuppen hinter dem Haus ausmisten. Hier hatte O’Donnell die Musher-Ausrüstung und seine beiden Schlitten gelagert. Einer der Schlitten hatte Kufen, der andere Räder für das Training in der schneefreien Zeit. Im Gegensatz zu seinem Haus war hier alles ordentlich und recht gut in Schuss. Die Hundepeitschen, die er verwendet hat, habe ich sofort vernichtet. Das andere Material wurde mir mit der Zeit immer vertrauter. Mithilfe der Lektüre von auf dem Postweg bestellten Büchern und Broschüren habe ich mir das Handwerk des Schlittenlenkens praktisch selbst beigebracht.
Wanda und Wilma waren mir dabei eine große Hilfe. Sie sind regelrecht verrückt danach, so oft und schnell wie möglich zu laufen. Deshalb waren sie die natürliche Wahl, als es darum ging, die Leithunde für ein Renngespann auszuwählen. Im Herbst konnte ich anfangen, ernsthaft zu trainieren. Kurz vor dem Ende des Winters waren wir so weit, dass wir bei einem kleineren Wettkampf mitmischen konnten. Dass wir mit großem Vorsprung gewonnen haben, hat mich selbst überrascht. Ich hatte vorher ja keine Vergleichsmöglichkeiten und keine Ahnung, wie gut meine Malamuten wirklich sind – nicht nur die schnellen Schwestern.
Das Zusammenleben mit dem Rudel funktionierte inzwischen traumhaft. Das Tor zum Grundstück blieb immer offen, da die Tiere nach einer Weile eine absolute Hoftreue entwickelt hatten. Außer meinem Freund Kenai. Der besteht nämlich bis heute darauf, allein alle paar Tage einen Streifzug durch die Wildnis zu unternehmen. Er braucht einfach seine Freiheit. Wenn ich sie beschnitten hätte, wären wir nie so gut miteinander klargekommen, wie es heute der Fall ist. Für Wettkämpfe ist er übrigens völlig untauglich. Der Stress ist einfach zu viel für ihn. Er misstraut allen fremden Menschen. Sobald ihm jemand zu nahe kommt, attackiert er ihn, falls ich ihm nicht signalisiere, dass ich mich um die Situation kümmere.«
»Wie soll ich bei eurem Gequatsche einschlafen?«, maulte Olsen wie aus dem Nichts heraus. »Wie stellt ihr euch das vor?«
Amanda und MacNeil fuhren erschrocken zusammen. Gebannt vom Erzählen und Zuhören war ihnen entgangen, dass sich der Wissenschaftler zu ihnen gesellt hatte.
»Das wäre dann schon die ganze Geschichte«, sagte MacNeil zu Amanda und fügte hinzu: »Ja, ja, Olsen, wir sind jetzt still.«
***
Der zweite Tag der Reise verlief zunächst genauso unspektakulär wie der vorherige. Gegen Mittag braute sich erstmalig schlechteres Wetter zusammen. Die Farbe des Himmels wechselte von Blau zu Bleigrau. Ein zunehmend schneidender Wind zerrte an der Kleidung der Expeditionsteilnehmer. Aufgewirbelter Treibschnee flog ihnen in die Gesichter, vor denen der Atem angesichts rapide absinkender Temperatur in der Luft gefror. Über den Hundegespannen kondensierten die Ausdünstungen der Tiere zu Wolkenschleiern aus weißem Dunst.
Eiskristalle verkrusteten MacNeils Bart und überzogen seine Schutzbrille. Sogar als er sie absetzte, konnte er im Schneetreiben kaum noch die Hand vor den Augen sehen. Er ließ die Hunde anhalten und bedeutete Schumann mit einem Handzeichen, es ihm gleichzutun. Als die Schlitten nebeneinander zum Stehen kamen, sagte er: »Für heute reicht es. Wir müssen die Zelte aufbauen, bevor der Wind zu stark wird. Bei dem Schneetreiben kommen wir nicht mehr weit. Es ist zu gefährlich, weiterzufahren.«
Myers nickte zustimmend. »Ihr habt’s gehört, Männer. Ran an die Arbeit!«
Die Soldaten verrichteten ihre Aufgabe schnell und präzise.
Die Geschwindigkeit der Sturmböen, die inzwischen über das lebensfeindliche Land peitschten, schätzte MacNeil auf knapp zweihundert Stundenkilometer.
Da er mit dem Abschirren des Rudels beschäftigt war, versuchten Amanda und Professor Olsen, ihr Zelt zu zweit zu errichten.
Sie breiteten die Plane aus, jeder der beiden hielt sie an einem gegenüberliegenden Ende fest. Der Wind verfing sich im Zeltstoff und bauschte ihn auf, wie ein Segel, das die beiden ein gutes Stück weit mit sich riss. Sie torkelten einige Schritte zur Seite, bis Olsen die Kraft ausging und ihm die knatternde Plane aus den Fingern rutschte. Mit einem lauten Knallgeräusch schlug die Stoffbahn gegen Amanda und fegte die Biologin von den Beinen. Sich mit ihrem ganzen Gewicht verbissen an das Zelt klammernd, verhinderte sie, dass der Sturmwind es auf Nimmerwiedersehen in das Schneegestöber davonwehte.
Das Zelt der Soldaten stand bereits. Myers und Schuhmann verankerten es im vereisten Untergrund, während Jones den beiden Wissenschaftlern zu Hilfe eilte. Gemeinsam gelang es ihnen, dem Sturm zu trotzen und das widerspenstige Zelt zu bändigen.
Nachdem MacNeil das Rudel aus den Geschirren gelöst hatte, legten sich die Hunde zusammengerollt auf den Boden, um ihre eigene Körperwärme bestmöglich zu nutzen und um den Böen nur einen geringen Luftwiderstand zu bieten. Um sie noch besser zu schützen, errichtete MacNeil den eigens für solche Situationen gedachten Unterschlupf für die Tiere, bei dem es sich um eine einzelne, langgestreckte Zeltplane ohne Boden handelte, die er mithilfe biegsamer Fiberglasstangen in die Form eines hüfthohen Tunnels brachte. Erst als er das Konstrukt mit extra langen Heringen fest verankert hatte und die Tiere darunter gekrochen waren, registrierte er, dass der Rest des Teams ihn bereits in den Zelten erwartete.
***
Kurz nach dem Aufwachen am nächsten Morgen war das Heulen des Sturms verklungen.
Gut, dass der Blizzard so rasch abgeflaut ist, dachte MacNeil, so verlieren wir kaum Zeit und können sofort weiterfahren. Er klopfte gegen die Zeltwand, die keinen Millimeter nachgab. Offensichtlich steckte die untere Zelthälfte in einer Schneewehe.
Der Musher schälte sich aus dem Schlafsack und taste die Plane von unten nach oben ab – der Schnee umschloss ihr Nachtlager fast bis zur Höhe seines Brustkorbs.
Verdammt, die Hunde, schoss es ihm durch den Kopf. Ohne sich komplett anzuziehen, öffnete er die Zeltklappe und drückte mit aller Gewalt gegen den trockenen Pulverschnee. Den größten Teil der weißen Barriere schob er schräg nach vorn weg, einen Teil schaufelte er nach hinten, wo er auf seine wachwerdenden Gefährten prasselte.
Amandas Protestrufe und Olsens Schimpfen stoisch ignorierend, setzte er seine hektische Tätigkeit fort, bis er eine Bresche nach draußen freigeräumt hatte.
Unter strahlendem Sonnenschein hüpfte ihm Kenai fröhlich zur Begrüßung entgegen. Die anderen Hunde balgten vergnügt miteinander im hohen Schnee. Eine Schneeverwehung bedeckte ihren Unterschlupf vollständig, aber die schlauen Tiere hatten selbstständig einen Tunnel an die Oberfläche gebuddelt.
MacNeil seufzte erleichtert.
***
Am nächsten Morgen tauchten am Horizont die Kuppen des Gebirgszugs auf, der das Marie-Byrd-Land in der westlichen Antarktis beherrschte. Je näher das Team Whitney Peak kam, desto unwegsamer wurde der Untergrund. Die ebene Schneefläche, die sie bisher befahren hatten, wich harschem Eis. MacNeil stattete die Malamuten mit Booties – einer Art Sicherheitssocken für Hunde – aus, um Verletzungen durch den schorfigen, zerklüfteten Untergrund vorzubeugen. Immer häufiger ragten schwarze Felsspitzen aus dem Boden auf.
»Das Eis ist an dieser Stelle nicht sonderlich dick«, rief Olsen gegen den Wind an. »Und unter den Schneeverwehungen können scharfkantige Klippen, aber auch tiefe Klüf…« Er kam nicht weiter. Der Schlitten brach plötzlich nach links aus. MacNeil beobachtete, wie Schumann verzweifelt gegenzulenken versuchte. Die Malamuten schwenkten nach rechts, als witterten sie die drohende Gefahr. Der Schlitten sauste ein gutes Stück geradeaus weiter, wobei es aussah, als fahre er nur noch auf einer Kufe. Unter donnerndem Lärm brach eine Schneewehe ein, die einen Abgrund unter sich verborgen hatte.
Entsetzt beobachtete MacNeil, der bis zu diesem Moment noch die Hoffnung hegte, die Sache möge gut ausgehen, wie sich der Schlitten mehr und mehr neigte. Obwohl Olsen, Schumann und Amanda Blair ihr Gewicht auf die andere Seite verlagerten, war das Unheil nicht mehr aufzuhalten. Wie in Zeitlupe glitt der Schlitten an den Hunden vorbei, deren Zugleine schlaff in der Luft baumelte. Die beiden Männer wurden abgeworfen und wirbelten Wolken von Pulverschnee auf, als sie zu Boden gingen.
Amanda Blair löste ihren Griff von der Verstrebung des Schlittens, ehe das vollbeladene Gefährt sie unter seiner Last begrub – zumindest sah es so aus.
MacNeil brachte das von ihm gelenkte Gespann in sicherer Entfernung zum Stehen. Er wollte es vermeiden, dem Spalt zu nahe zu kommen.
Noch ehe der Schlitten stillstand, sprang Myers ab, nun offenbar ganz im Gefechtsmodus. Mit einer Geschwindigkeit, die ihm MacNeil angesichts der steifen Polarkleidung niemals zugetraut hätte, rannte er zur Unglücksstelle. Er passierte die nervös bellenden Hunde und erreichte Nick Schumann, der den Sturz offenbar gut überstanden hatte und dem Colonel zu verstehen gab, dass dieser sich um die anderen kümmern solle.
MacNeil und Jones, die Myers folgten, sahen zwar Olsen, der bewegungslos am Boden lag, nicht aber Amanda, die sich unter dem Schlitten befinden musste.
Schumann gelang es, die Vierbeiner zu beruhigen. Während sich Myers und Jones um Olsen kümmerten, umrundete MacNeil den Schlitten, der auf den ersten Blick keinen größeren Schaden genommen zu haben schien.
Nach einem Lebenszeichen Amandas hielt er vergeblich Ausschau. Hatte sie es vielleicht nicht rechtzeitig geschafft, abzuspringen, und war unter dem Schlitten und der darauf festgezurrten Ausrüstung verschüttet worden? MacNeil hoffte, dass dem nicht so war. Und tatsächlich befand sie sich nicht darunter. Vorsichtig näherte er sich dem Abgrund, der dem Gespann um ein Haar zum Verhängnis geworden war.
Der Riss, der sich durch das schwarze Gestein zog, war an dieser Stelle gut drei Meter breit. Die Wände waren so glatt, als habe ein heißes Messer durch Butter geschnitten.
Bei dem, was MacNeil dann sah, stockte ihm der Atem.