Kapitel 5

  

Ergriffen verschränkte Jekaterina Rachmaninowa die Hände hinter dem Rücken. Seit ihrer Kindheit hatte sie gewusst, dass ihr eine steile Parteikarriere in der KPdSU beschieden sein würde. Und nun war es so weit, dass ihr Traum wahr werden sollte.

Aus welchem Grund sonst hätte Genosse Batura die Polit-Offizierin aus der Provinz zu einem Termin in sein Hauptquartier einbestellen sollen?

Wahrscheinlich würde man sie mit einer wichtigen Geheimmission betreuen. Ihre Akte war tadellos, daran hegte sie keinen Zweifel. Sie grinste zufrieden. Die Idee, auf diese Weise geehrt zu werden, gefiel ihr ausnehmend gut.

Ihr Blick schweifte über den Roten Platz, streifte die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale und blieb am Staatlichen Historischen Museum hängen. Nach dem Besuch des Museums stand ein Spaziergang zum Kreml auf ihrem Programm. Zwar durfte niemand ohne triftigen Grund den Sitz des Ministerrats der UdSSR betreten, aber sie wollte den Ort, von dem aus die Geschicke von Millionen von Menschen bestimmt wurden, zumindest von außen bewundern.

  

***

  

Zur selben Zeit trafen sich in der Lubjanka, der Zentrale des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR – kurz KGB – Wladimir Krjutschkow und Oleg Salenko zu einer Besprechung.

Krjutschkow gehörte zum Kreis der Führungsoffiziere für Schläfer und informelle Mitarbeiter in den Vereinigten Staaten von Amerika. Oberst Salenko zeichnete innerhalb der Roten Armee für die Planung und Durchführung verdeckter Auslandsoperationen zuständig.

»Also, wen haben Sie für mich?«, fragte Salenko.

Krjutschkow kramte in seiner Aktentasche. Der KGB-Mann fischte einige Fotos sowie ein schriftliches Dossier heraus.

Er überreichte seinem Gegenüber die Bilder. Das erste davon war in Farbe und zeigte eine circa dreißigjährige Frau in der Uniform einer Polit-Offizierin. Ihre halblangen, roten Haare hatte sie streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, sodass ihre kantigen Gesichtszüge besonders stark zur Geltung kamen. Ihre Mundwinkel hingen nach unten. Die Frau schien wenig Anlass zur Freude zu haben.

Bei den restlichen Aufnahmen handelte es sich um Schwarz-Weiß-Abzüge, auf denen dieselbe Frau in enger Sportkleidung beim Hammerwerfen und Kugelstoßen präsentiert wurde. Ihr Körperbau war auffallend muskulös und bullig, fast wie bei einem Mann.

»Jekaterina Rachmaninowa«, sagte Krjutschkow.

»Ein ziemliches Mannweib.« Salenko kicherte. »Von der möchte ich nicht in die Mangel genommen werden. Nimmt sie anabole Steroide?«

Krjutschkow überflog die Unterlagen flüchtig und tippte mit dem Finger auf ein Blatt, als er die entsprechende Information fand. »Ja, hier steht etwas darüber … Sie sieht darin ein geeignetes Mittel, ihren Körper für den Dienst an der Partei zu stählen.«

»So, so …«

»Das ist aber nicht weiter wichtig. Kommen wir erst mal zu den allgemeinen Daten. Sie ist zweiunddreißig Jahre alt und einen Meter achtzig groß.«

»Das allein macht sie für uns nicht interessant.« Salenkos schlitzförmige Augen, die ihn als Kirgisen auswiesen, verengten sich und wurden noch schmaler, als sie es von Natur aus bereits waren.

»Geduld, Geduld, Genosse. Es gibt genug Gründe für ihre Eignung, Sie werden schon sehen! Angefangen damit, dass sie sie jeden Befehl ausführt, ohne ihn zu hinterfragen. Laut den Kollegen der Inlandsabteilung des KGB, hat sie schon in der Schulzeit Klassenkameraden bei den Behörden denunziert, die ihrer Meinung nach aufrührerische Reden geschwungen haben. Sie ist hochmotiviert, absolut linientreu und zudem verschwiegen wie ein Grab. Bisweilen hat sie ihre eigene Wut nicht vernünftig unter Kontrolle. Die Kollateralschäden halten sich dabei zum Glück in erträglichen Grenzen. Ihr psychologisches Profil weist sie als rücksichtslose und ehrgeizige Person aus.«

»Bedeutet das, sie hat kein Problem damit, über Leichen zu gehen, falls es die Situation erfordert?«

»Genau«, bestätigte Krjutschkow.

»Sehr gut, Leute mit einer solchen Einstellung kann ich für dieses Einsatzkommando bestens gebrauchen.« Salenko lehnte sich zurück. »Wie sieht es mit ihrer Herkunft aus?«

»Rachmaninowa entstammt einer alten bürgerlichen Familie aus Waukawysk, einer unbedeutenden kleinen Stadt in Weißrussland«, antwortete Krjutschkow. »Die ganze Sippe zählte früher zu den fanatischsten Anhängern des Zarentums.«

»Bestimmt waren da elende Kosaken dabei …«, spekulierte Salenko.

»Sie haben recht, so ist es. Umso mehr möchte sie es vermeiden, auch nur den geringsten Verdacht zu erwecken, mit Ideen der Bourgeoisie zu sympathisieren. Jede Tätigkeit oder Aussage, die in diese Richtung interpretierbar wäre, meidet sie wie der Teufel das Weihwasser. Sie hegt naive Träume davon, in der Parteihierarchie auf der Leiter ganz weit nach oben zu klettern. Um sich diesbezüglich zu empfehlen, bläut sie den Soldaten in dem von ihr betreuten Regiment bei der Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten und bei der Vergegenwärtigung der Parteilinie von früh bis spät den gleichen Kadavergehorsam ein, den sie selbst an den Tag legt.«

»Kadaver ist ein gutes Stichwort«, sagte Salenko mit einem schmierigen Grinsen. »Falls ihre Mission in die Hose geht, und sie überleben sollte, können wir sie beseitigen, ohne einen besonderen Verlust zu beklagen. Naive Leute, die sich nicht hundertprozentig unter Kontrolle haben, können wir in wichtigen Positionen eh nicht gebrauchen … und schon gar keine Frauen.«

Die beiden hochrangigen Offiziere lachten dreckig.

  

***

  

Am nächsten Tag durchwanderte Jekaterina Rachmaninowa, kurz nach Sonnenaufgang, die langen, hohe Korridore des KGB-Hauptquartiers in Moskau. Das Gebäude wurde von einer fast körperlich greifbaren Aura der Macht erfüllt. Der steingewordene Geist des Sozialismus elektrisierte die Polit-Offizierin. An diesem Ort wurden weitreichende Entscheidungen getroffen, die das gesamte Sowjetvolk und seinen einheitlichen Willen unaufhaltsam formten und auf dem Weg hin zu einem vollendeten Kommunismus anleiteten. Und sie würde ihren Beitrag dazu leisten, dieses Ziel zu erreichen. Wahrscheinlich würde sie nach Erledigung des anstehenden Auftrags ihre Uniform mit einem Orden schmücken dürfen. Der Gedanke begeisterte sie.

Der Gefreite, der sie eskortierte, brachte sie zu einer mit reichen Intarsien versehenen Doppeltür am Ende eines Flurs im dritten Stock des Gebäudes. Ihr Begleiter öffnete einen der Türflügel und salutierte, als sie das Büro des KGB-Vorsitzenden Barys Wasiljewitsch Batura betrat, dem Gerüchten zufolge fast eine Million Mann unterstanden, auf die er sowohl bei Tag als auch bei Nacht zugreifen konnte.

Rachmaninowa musste zunächst eine Strecke von zwanzig Metern absolvieren, bevor sie am Gästestuhl vor dem Schreibtisch des KGB-Chefs ankam.

Die Abmessungen des weitschweifigen Büros hatten durchaus Sinn und Zweck. Kritiker rügten eine solche Bauweise hinter vorgehaltener Hand gern als unnützen Prunk. Tatsächlich diente sie dazu, jedem, der eine Audienz erhielt, die Gelegenheit zu geben, darüber nachzudenken, welche Macht und Entscheidungsgewalt ihm am anderen Ende des Tisches gegenübersaß.

Und das ist auch gut so, dachte die Polit-Offizierin. Beobachtet von einem strengen Blick aus den Augen eines überlebensgroßen Stalin-Portraits, das im Rücken des KGB-Leiters hing, nahm sie Platz. Rechts und links davon schmückten wesentlich kleinere Bilder von Lenin, einem der Väter der ruhmreichen Revolution, und Nikita Chruschtschow, dem aktuellen starken Mann des Sowjetimperiums, die ansonsten kahle Wand.

Nachdem die Frau Platz genommen hatte, erlaubte ihr Batura, von seiner Position hinter dem Schreibtisch aus poliertem Teak-Holz mit einer Handbewegung zu sprechen.

Der Vorsitzende hatte das sechzigste Lebensjahr bereits deutlich überschritten. Man sah ihm an, dass er gern und oft gute und üppige Mahlzeiten genoss.

Jekaterina Rachmaninowa war irritiert.

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, ohne große Umschweife Instruktionen für ihren Auftrag zu erhalten. Und nun sollte sie sich offenbar erst einmal vorstellen? Handelte es sich dabei um eine Art Test, der dem KGB-Chef Aufschluss über ihren Charakter und ihre Eignung geben sollte? Zu lange durfte sie die Antwort keinesfalls hinauszögern, also sagte sie: »Politoffizier Rachmaninowa. Auf Ihren Befehl habe ich mich unverzüglich hierher begeben. Ich werde meinen Dienst am Vaterland auf jedem Posten erfüllen, auf den Sie mich abkommandieren, pflichtgemäß erfüllen.«

Batura stand schwerfällig auf, umrundete den Schreibtisch und tätschelte ihr väterlich die Schulter. »Ihre Einstellung gefällt mir, Genossin. Das ist die Gesinnung, die wir hier schätzen.«

In Rachmaninowa machte sich Erleichterung breit. Wenn es ein Test gewesen sein sollte, hatte sie ihn scheinbar bestanden.

»Wissen Sie, ich sehe mir unsere Mitarbeiter gern persönlich an, die für außergewöhnliche Einsätze von herausragender Bedeutung ausgewählt wurden. Ich werde Sie nun in die Verantwortung der Genossen Salenko und Krjutschkow übergeben, von denen Sie eine genaue Einweisung für ihren Auftrag erhalten.«

»Es war mir eine Ehre …«, sagte Rachmaninowa demütig.

»Immer langsam, junge Frau, wir haben noch ein bisschen Zeit füreinander, ehe wir uns verabschieden. Bis dahin werde ich Sie persönlich zu den beiden begleiten.«

  

***

  

Batura dirigierte seinen Gast zu einem der Büros im zweiten Stockwerk, dabei sparte er nicht mit dick aufgetragenen Komplimenten.

Die Jalousien im Büro, in dem Salenko und Krjutschkow das ungleiche Duo empfingen, waren die ganz heruntergelassen. Durch die Lamellen fielen schmale Lichtbahnen in den Raum, in denen dicker Zigarrenqualm und Staubpartikel umherwirbelten.

Die beiden Offiziere standen neben einem Kartentisch in der Mitte des Zimmers und rauchten kubanische Zigarren von bester Qualität.

Nachdem Batura Rachmaninowa kurz vorgestellt hatte, wandte er sich zum Gehen. Auf dem Weg zur Tür kniff er ihr ohne Vorankündigung kräftig in den Hintern. Pikiert verzog sie die Lippen zu einem dünnen Strich und errötete; sie hielt jedoch tapfer den Mund.

Der alte Bock hatte schon immer einen schlechten Weibergeschmack, sagte sich Salenko amüsiert. Die Rachmaninowa hat Glück, dass seine wilden Jahre vorbei sind …

Über dem Kartentisch hing tief eine alte Schirmlampe, die gerade ausreichend Licht für den näheren Umkreis spendete. Außerhalb dieses Kreises herrschte ein diffuses Zwielicht.

Jekaterina Rachmaninowa erkannte sofort, dass die vor den beiden Männern ausgebreitete Karte die Antarktis zeigte.

Überrascht sog sie hörbar die Luft ein.

Krjutschkow nestelte am Stehkragen seiner Uniformjacke. »Hier sehen Sie Ihr Einsatzgebiet. Die Operation findet in der Nähe des Südpols statt. Zu Ihrer Unterstützung erhalten Sie zwei kampferprobte Züge unter der Führung der Unteroffiziere Lukassow und Sorokin, zwei Spezialisten für verdeckte Einsätze. Beide sprechen ausgezeichnet Englisch …«