Kapitel 6

 

Mark MacNeil erstarrte, als er die Gestalt erkannte, die in rund vier Metern Tiefe auf einem schmalen Felssims lag. Amanda Blair hatte verdammtes Glück gehabt, dass es an dieser Stelle einen Vorsprung gab. MacNeil hatte keine Ahnung, wie tief die Kluft reichte, aber er war sicher, dass ein tieferer Fall definitiv ihren Tod bedeutet hätte. Doch auch so konnte der Sturz schwerwiegende Verletzungen hervorgerufen haben – vielleicht sogar einen Genickbruch. Er hoffte inständig, dass sie überlebt hatte, obwohl sie sich nicht regte. Das war auch besser so, denn jede unbedachte Bewegung hätte zweifelsfrei einen weiteren Absturz zur Folge gehabt.

Der Hundeführer zuckte zusammen, als Myers neben ihn trat.

»Dem Professor geht’s so weit gut«, berichtete der Colonel. »Er hat ein paar Schrammen und Quetschungen abbekommen, jedoch nichts, was ihm gefährlich werden könnte. Und warum stehen Sie hier und glotzen in diesen verdammten Abgrund? Helfen Sie uns lieber, Doktor Blair zu … ach, du Schei…« Er verstummte abrupt, als er den Ernst der Situation erfasste. »Jones, kommen Sie her … nein, warten Sie … bringen Sie ein Seil mit, aber verknoten Sie das Ende vorher so am Schlitten, dass es einen Menschen trägt … oder besser zwei … und dann setzten Sie sich zusammen mit Schumann auf das Ding, damit ich ein ordentliches Gegengewicht habe. MacNeil hat Doktor Blair gefunden. Sie ist offenbar besinnungslos. Ich werde sie rausholen.«

Obwohl MacNeil wenig für den Colonel übrighatte, bewunderte er ihn in diesem Moment um seine Eigenschaft, in schwierigen Situationen rasch eine Entscheidung zu treffen. Sicherlich hatte das im Gefecht das Leben des einen oder anderen Kameraden gerettet.

Meyers klinkte sich mit einem Karabinerhaken in das Seil ein und kletterte behände über den Rand des Abgrunds. MacNeil hielt unwillkürlich die Luft an. Mit einer Selbstverständlichkeit, als handele es sich um etwas Alltägliches, seilte sich Myers ab. Es dauerte nur kurz, bis er den Sims erreichte. Zuerst überprüfte er Amandas Puls, um festzustellen, ob sie überhaupt noch lebte. Mit erhobenen Daumen signalisierte er MacNeil, dass dem so war. Dann versuchte er, sie anzusprechen. Da die Biologin keine Reaktion zeigte, hob er sie sich kurzerhand auf die Schulter. Mit dieser Last trat er den Rückweg an und war dabei ebenso flink wie beim vorangegangenen Abstieg.

Als er über die Abbruchkante kletterte, nahm ihm MacNeil den schlaffen Körper der Wissenschaftlerin ab.

Olsen hatte währenddessen neben dem umgestürzten Schlitten mithilfe einer Wachstuchplane eine Art provisorischen Windfang hergerichtet. Der Hundeführer legte Amanda dahinter auf einer Isoliermatte ab und hüllte sie in eine Rettungsdecke, um ihre Körperwärme vor dem Abkühlen zu bewahren.

»Sie scheint sich nichts gebrochen zu haben, aber beim Sturz hat sie sich womöglich eine Gehirnerschütterung zugezogen«, sagte Myers mit belegter Stimme und sorgenvoller Miene. Er ging neben der Biologin in die Hocke, strich ihr das Haar zärtlich aus dem Gesicht und nahm ihre Hand.

Das darf nicht wahr sein, dachte MacNeil. Der stocksteife, alte Knochen ist in Amanda verknallt. Merkt er nicht, dass er nicht den Hauch einer Chance bei ihr hat … und auch nie haben wird? Allein die Vorstellung ist grotesk, dass sie sich für ihn interessieren könnte. Was für ein Trottel.

»Wir kampieren hier und setzen unsere Reise morgen fort«, ordnete Myers an. »Zelte aufbauen. Zack, zack. Doktor Blair darf auf keinen Fall auskühlen. Wenn sie sich erholt hat, können wir morgen weiter vorrücken.«

 

***

 

Gegen Abend schlug Amanda im Beisein MacNeils und Myers die Augenlider auf. Ihre Hände verkrallten sich, und ihr ganzer Körper zuckte, als durchlebe sie den tiefen Sturz einmal mehr, bei dem sie sich wie durch ein Wunder nur geringfügig verletzt hatte.

»Was … was ist geschehen?« Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen erst MacNeil, dann Myers an. »Meine Güte, brummt mir der Schädel. Ich fühle mich wie gerädert.«

»Gott sei Dank sind Sie wieder bei uns, Ma’am!« Myers wirkte ehrlich erleichtert.

»Warum schauen Sie beide mich so seltsam an?«

»Sie sind in eine Felsspalte gestürzt und waren drei Stunden bewusstlos«, erklärte der Colonel.

»Wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Das Letzte, was ich weiß, ist, dass ich auf dem Schlitten hockte. Und jetzt bin ich hier.«

»Sie hätten sich ohne Weiteres das Genick brechen können.«

Amanda reckte in der Enge des Zeltes die Glieder und prüfte ihre Beweglichkeit. »Scheint alles in Ordnung zu sein. Mehr als eine leichte Gehirnerschütterung habe ich wohl nicht davongetragen. Ein paar Kopfschmerztabletten und morgen bin ich wieder auf dem Damm.«

 

***

 

Auch wenn der Vorfall gezeigt hatte, wie rasch die Mission zu scheitern vermochte, setzten die sechs am nächsten Tag ihre Fahrt durch die unwirtliche Landschaft fort. Das Vorankommen gestaltete sich dank des Geschicks der Hunde und ihrer Lenker ohne nennenswerte Schwierigkeiten, bis das Team den Einschlagsort erreichte.

MacNeil hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.

Eis und Schnee waren beim Aufprall des Objekts aus dem Weltall in einem weiten Kreis aus dem Untergrund gesprengt worden, um anschließend ringsum niederzuregnen. Dabei hatte der Auswurf teilweise eine graue Färbung angenommen. Es war ein grotesker Anblick.

Ehrfürchtig versammelten sich die Expeditionsteilnehmer am Rand des Kraters, den das unbekannte Objekt aus dem Weltall in die Planetenoberfläche gestanzt hatte.

Jones pfiff anerkennend. »Meine Fresse. Das hat mächtig gerumst.«

»Da könnte glatt eine Atombombe explodiert sein«, fügte Schumann hinzu.

»Na ja, ganz so schlimm ist es nicht«, beruhigte Myers seine Leute. »Ich bin trotzdem froh, dass ich zum Zeitpunkt des Einschlags nicht in der Nähe war.«

»Wie sollen wir da bloß runterkommen?«, rätselte Olsen.

»Das lassen Sie mal ganz meine Sorge sein«, sagte Myers mit fester Stimme. »Die Kraterwand fällt halbwegs flach ab. Ich werde mich abseilen und dabei Ankerhaken anbringen, durch die wir ein Seil spannen, an dem alle Mitglieder des Trupps beim Runterklettern sicher Halt finden. Das funktioniert hundertprozentig.«

Olsen wirkte dennoch skeptisch.

Ohne Kommentare abzuwarten oder auf andere Weise Zeit zu verschwenden, begab sich Myers ans Werk. Schumann und Jones gingen ihm zur Hand und holten die passende Ausrüstung von den Schlitten.

Nachdem er sich sorgfältig abgesichert hatte, wagte sich der Colonel Schritt für Schritt auf dem aalglatten Untergrund in die Tiefe. In regelmäßigen Abständen war sein Hämmern zu vernehmen, wenn er Haken in das Eis klopfte.

Am Grunde des Kraters angelangt rief er: »Hier geht es nicht mehr weiter. Was immer da vom Himmel gefallen ist, ist unter einer dicken Schicht aus Schnee begraben. Wir müssen es mit dem Spaten ausgraben. Ich komme jetzt wieder hoch und bringe dann das Halteseil für die restliche Mannschaft an.«

Es dauerte eine Weile, bis der Colonel wieder auftauchte.

Nachdem er seine Ankündigung in die Tat umgesetzt hatte, folgten ihm die beiden GIs, MacNeil und zum Schluss Amanda in das Zentrum des Kraters. Der Kraterboden hatte eine Grundfläche von etwa fünfundzwanzig Quadratmetern. Olsen zog es vor, oben auf der geraden Fläche auszuharren.

»Für den haben wir hier eh keine Verwendung«, sagte Myers verächtlich. Die beiden GIs, MacNeil und Myers, versanken fast bis zu den Knien im lockeren Pulverschnee, den der Wind in die Vertiefung geweht hatte.

»Wir werden so vorgehen«, befahl der Colonel: »Zwei Mann schaufeln den Schnee auf die linke Seite und zwei Mann stampfen den Aushub dort fest. Doktor Blair, darf ich Sie bitten, wieder nach oben zu gehen? Sie würden uns hier nur im Weg stehen. Außerdem brauchen Sie weiterhin Erholung von Ihrem Sturz.«

Amanda wollte gerade zu einer saftigen Antwort ansetzen. Doch dann wurde ihr klar, dass der Colonel recht hatte. Hier unten gab es wenig Platz und mit dem Fortschreiten der Arbeit würde es kontinuierlich enger werden. Zu viele Personen im Krater wären ein Hindernis. Sie nickte und kletterte zum Professor. Schumann und Jones beförderten den Schnee mit Klappspaten zur Seite. Myers und MacNeil komprimierten ihn dort nach besten Kräften unter Zuhilfenahme von Füßen und Händen.

Ohne auf den Kraterboden zu stoßen, waren die Männer nach vier Stunden am Ende ihres Lateins. Wohin sollten die Unmengen von Schnee, die Jones und Schumann freischaufelten? Hier unten war nicht mehr genug Platz dafür.

Myers runzelte die Stirn.

MacNeil hatte den rettenden Einfall. »Ich gehe hoch zu den Hunden, befestige ein Seil an einer Zeltplane und lasse das Ding dann herab. Sie schaufeln den Schnee in die Plane und wir ziehen ihn aus dem Loch. Was meinen Sie?«

»Guter Vorschlag«, lobte der Colonel. »Für einen Zivilisten, meine ich.«

Der Hundeführer verdrehte die Augen und fing an, seinen Plan umzusetzen.

Als sie am Abend den Schnee über drei Meter tief ausgehoben hatten, mischten sich erste Gesteinstrümmer darunter. »Sieht nach einem Meteoriten aus«, sagte Myers. »Besser so, als eine von diesen Fliegenden Untertassen. Diese Theorie erschien mir von Anfang an unwahrscheinlich.«

»Das würde dann aber bedeuten, dass wir heimfahren können, oder?«, mutmaßte MacNeil. Die US-Regierung konnte doch unmöglich einen solchen Aufwand für einen gewöhnlichen Meteoriten vorgesehen haben?

Doch dann förderten die Soldaten verzogene Metallteile zutage. Die Legierung glich nichts, was irgendjemand von ihnen bisher kannte. Das Hereinbrechen der Dämmerung setzte der Arbeit ein vorzeitiges Ende. Trotz der Aufregung über den spektakulären Fund transportierte das Team die Bruchstücke aus Metall fast andächtig nach oben. Von der Existenz des mysteriösen Materials beunruhigt, taten alle in der Nacht kaum ein Auge zu.

Hatte Admiral Byrd doch recht?, grübelte Myers insgeheim.

 

***

 

Unausgeschlafen und gereizt tranken sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück schweigend Kaffee.

Olsen sonderte sich einige Meter vom Rest der Gruppe ab und untersuchte die Metallteile methodisch.

Nach einer Weile übermannte die Neugier MacNeil und er trat von hinten an Olsen heran, der eines der mattgrauen Bruchstücke betastete. »Na Professor, haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Das Material ist mir ein Rätsel. Es könnte von einem russischen Satelliten stammen. Es ist leichter, gleichzeitig aber härter als unser Stahl. Ich bin nicht einmal sicher, ob es sich um ein Metall handelt oder ob Kohlenstoff oder Silizium die Basis bilden. Dazu müsste ich es im Labor untersuchen. Hier vor Ort fehlen mir leider die Möglichkeiten dazu. Vielleicht haben die Russen ein neues Verfahren zur Stahlproduktion entwickelt, und verwenden die dabei entstanden Produkte für ihr Satellitenprogramm. Ich habe mit dem Geigerzähler auf radioaktive Strahlung überprüft. Das Ergebnis war negativ.«

»Vielleicht erfahren wir mehr, wenn wir alle Trümmer nach oben geschafft haben«, sagte Myers, der die letzten Sätze mitgehört hatte. »Allzu tief kann der Rest nicht mehr im Schnee begraben sein. Ein natürliches Objekt fällt als Erklärung also mit ziemlicher Sicherheit aus?«

Olsen nickte.

»Gut, dann graben wir jetzt weiter!«

Nach zwei Stunden stießen die Männer auf festen Felsuntergrund. Das Objekt aus dem All hatte eine rundliche Bresche von anderthalb Metern Durchmesser in den Boden geschlagen.

Der Felsen war hier nicht besonders dick – höchstens zwei Meter. Direkt im Anschluss daran folgte eine dreißig Zentimeter starke Schicht des gleichen Metalls, von dem sie gestern mehrere Bruchstücke entdeckt hatten, die durch die Wucht des Einschlags durchlöchert worden war. Unter dem Schnee, der die Öffnung verstopfte, kam ein unterirdisches Bauwerk zum Vorschein. Die gestrigen Fundstücke stammten also weder von einem Sowjet-Satelliten noch von einem Ufo, sondern waren im Zuge des Einschlags aus der Ummantelung der unterirdischen Einrichtung herausgebrochen und nach oben geschleudert worden.

Als der Raum, in den das Loch führte, von Schnee und Schutt befreit war, stieg Myers auf Jones Schultern und lugte durch die Deckenöffnung nach oben. »Alle runterkommen. Auch Olsen.« Dann befestigte er einen Haken mit einem Seil am Rand der Öffnung im Felsboden, das ihnen künftig den Ein- und Ausstieg in den freigelegten Raum erleichtern würde. Umgeben von grauen Metallwänden war er komplett leer und wirkte, als habe er ursprünglich als Lager gedient. Zwei offene Türen gingen in verschiedene Richtungen ab.

Myers bedeutete den beiden Soldaten mit Handzeichen, einen Aufklärungsgang hinter die Ausgänge zu unternehmen.

Jones und Schumann schwärmten aus, um den Rest der Einrichtung auf die Anwesenheit anderer Menschen zu überprüfen.

»Negativ«, meldete Jones nach dem Rundgang.

»Gut«, sagte der Colonel. »Dann können wir uns ohne Gefahr aufteilen und dadurch Zeit und Energie bei der Erkundung der Räumlichkeiten sparen. Schätze, wir haben eine verlassene Experimentalstation der Russen vor uns. Vielleicht finden wir ansatzweise heraus, welchem genauen Zweck sie dient.«

Das Team stieß auf unverständliche Schalttafeln und quadratische Aggregate, die von großen Spulen gekrönt wurden. Handelte es sich dabei um moderne Funk- und Radaranlagen? Niemand konnte diese Frage zufriedenstellend beantworten. Besonders auffällig war die Beleuchtung. Die Quelle des gleichmäßigen, kalten Lichts blieb trotz aller Bemühungen unauffindbar.

 

***

 

Amanda, Olsen und MacNeil blickten staunend an die Decke des hohen Saals mit all seinen merkwürdigen Gerätschaften. Traversenähnliche Streben ragten aus den vier Ecken des Raums zu einer Kugel im Zentrum der Decke.

»Welchen Zweck mag dieses Objekt erfüllen? Seine matte Oberfläche erinnert an einen Fernsehbildschirm. Könnte dies eine moderner Apparat zur Bildwiedergabe sein?«, rätselte Olsen.

»Na, das lässt sich ja vielleicht herausfinden«, sagte MacNeil.

Er konnte seine Neugier nur unschwer zügeln. Als Bauunternehmer war er das Klettern auf Gerüsten gewohnt und so erklomm er selbstbewusst eine der Metallstreben, die ihn bis hin zur Kugel bringen würde. In der Zeit, in der er auf Großbaustellen unterwegs gewesen war, hatte er Schwindelfreiheit erworben, sodass ihm der Aufenthalt in größerer Höhe keine Probleme bereitete.

Er hatte fast die komplette Strecke bis zu seinem Ziel zurückgelegt, als Myers unbemerkt in den Raum schritt. »Runter!«, brüllte er in einem Tonfall, der von jahrelanger Kasernenhoferfahrung triefte, und der Amanda und Olsen zusammenzucken ließ. »Sofort!«

MacNeil schien Myers Ansage nicht zu kümmern. »Einen Moment noch. Ich will erst sehen, ob ich den Schalter finde, der dieses Ding aktiviert.«

Myers öffnete das Pistolenholster, zog die Waffe und schoss in die Luft. »Sind Sie taub? Sofort habe ich gesagt! Das war ein Befehl!«

Ohne sichtliche Eile hangelte sich der Hundeführer nach unten. Als er wieder auf dem Fußboden angelangt war, trat Myers auf ihn zu. Er blieb so dicht vor ihm stehen, dass dieser ihn deutlich verstehen konnte, obwohl er gefährlich leise sprach: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, MacNeil. Sie waren mir vom ersten Moment an suspekt und ich kann Sie bis heute nicht leiden. Von mir aus könnten Sie in Ihrer bescheuerten Hütte in Alaska verrotten, wenn wir Sie nicht für die Schlitten bräuchten. Ich darf mir nicht erlauben, Sie wegen Ihres Leichtsinns zu verlieren, auch wenn Sie ein Problem damit haben, Autorität anzuerkennen und jede Entscheidung sinnlos hinterfragen. Aber so funktioniert die Truppe nicht …«

»Ich weiß, Sie geben die Befehle und verlangen, dass diese ohne Zögern ausgeführt werden, aber …«, setzte MacNeil an.

Der Colonel unterbrach ihn. »Kein Aber! Als Zivilist unterstehen Sie leider nicht unmittelbar meinem militärischen Kommando. Solange ich diese Mission leite, werden Sie unseren Erfolg trotzdem nie wieder durch eigenmächtiges Verhalten in Gefahr bringen. Punkt und Ende der Diskussion.«

 

***

 

Kurz darauf bestellte Myers alle zu einer Besprechung ein. Das gesamte Team saß rund um einen T-förmigen Tisch in einem der unterirdischen Räume, der wirkte, als sei er zu diesem Zweck geschaffen. Die Stühle waren für menschliche Hinterteile eigentlich zu schmal und die Sitzfläche zu hoch. Besonders Olsens Füße baumelten ein gutes Stück über dem Boden in der Luft.

»Falls wir es hier mit einer Experimentalstation der Sowjets zu tun haben, sind sie uns technisch wesentlich weiter voraus, als wir es uns in unseren schlimmsten Albträumen ausmalen können«, erklärte Myers. »Erst haben sie einen Satelliten in die Erdumlaufbahn geschossen und nun das hier.« Er atmete tief durch. »Sollte es den Kommunisten gelingen, die Macht in nur einem einzigen Land außerhalb des Ostblocks zu erringen, ist es um uns und unsere Freiheit geschehen. Wenn der erste Dominostein fällt, wird das eine weltweite Kettenreaktion auslösen.«

»Das behauptet die Theorie«, widersprach Olsen. »Logisch analysiert, erscheint mir das in der Praxis unrealistisch.«

»Was?«, fuhr Myers auf. »Diese Theorie ist unanfechtbar. Deshalb haben wir in Korea gekämpft. Deshalb haben viele meiner Kameraden ihr Leben im Dienst für unsere Nation gelassen.«

Der Professor senkte den Blick.

»Was bezwecken Sie mit dieser defätistischen Aussage überhaupt? Hegen Sie vielleicht Sympathien für den Kommunismus? Falls ja, werde ich es bemerken und Sie vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe zerren. Die werden Ihnen richtig auf den Zahn fühlen.«

Olsen rang nervös seine Finger. »Ja, äh …«

»Sag besser nichts oder zumindest nichts Falsches«, flüstere ihm MacNeil zu. »Sonst bringst du dich bloß selbst in die Bredouille.«

»Ja, also … das war bloß eine dumme Idee, die mir gerade durch den Kopf ging.«

»Nun gut, für den Moment will ich es dabei bewenden lassen«, lenkte der Colonel ein. »Also was spricht dagegen, dass wir uns in einer sowjetischen Einrichtung befinden?«

»Nehmen Sie beispielsweise unsere Sitzgelegenheiten«, sagte Amanda. »Sie sind für Personen konzipiert, die größer und schlanker als wir sind. Oder die Technik hier. Das ist eine komplett andere Kategorie als der Sputnik-Satellit.«

Myers überlegte fast eine Minute. »Ma’am, das würde bedeuten, dass Admiral Byrd mit seinen Befürchtungen bezüglich der Ufos recht hat. Wir müssen sofort das Hauptquartier informieren.«

Als er aufstand, hielt ihn Amanda am Unterarm fest. »Warten Sie. Stellen Sie sich vor, welche Verdienste Sie für unser Land erringen können, wenn wir, ohne voreilig zu handeln, die Situation genauer sondieren. Dazu sind wir besser in der Lage als eine Kompanie GIs, die dann vermutlich bald hier eintreffen würde und eventuell unwiderruflichen Schaden anrichtet.«

»Hm, da ist was dran. Einen oder zwei Tage könnten wir uns Zeit für die Erforschung der Station nehmen.« Außerdem sollte ich mit Fakten aufwarten können, überlegte er. Bevor das Ministerium und die Herren Generäle auf die Idee kommen, meine Gesundheit sei wieder angegriffen und ich könnte einer erneuten medizinischen Behandlung bedürfen. Nein, nein, das darf nie wieder passieren. Mich einmal in den Händen dieser Quacksalber einer solchen Prozedur unterziehen zu müssen, hat gereicht. Besonders auf ein Wiedersehen mit Doktor Chambers kann ich gern verzichten – egal, wie sehr er in seinem Fachgebiet als Koryphäe gilt.

Als Myers scheinbar grundlos kicherte, wagte keiner, ihn nach dem Grund dafür zu fragen. Mit fester Stimme sagte er schließlich: »Wir fahren umgehend mit der weiteren Erkundung der Anlage fort.«

 

***

 

Olsen sollte derjenige sein, dem die spektakulärste Entdeckung gelang. In einem der Flure, der in einer Sackgasse endete, spürte er eine Gleittür mit zwei Flügeln auf, die dem Zugang zu einem Aufzug ähnelte. An dessen rechter Seite zeichnete sich auf Olsens Brusthöhe ein Bedienelement an der Wand ab, das die stilisierte Form einer langen, schlanken Hand nachempfand. An ihren Fingerspitzen prangten gelbe Sensoren. Er berührte sie mit seinen eigenen Fingerkuppen und tippte auf gut Glück mathematische Formeln ein. Es funktionierte, die Tür glitt zischend auf. Tatsächlich kam dahinter eine Liftkabine zum Vorschein, die mit einer zweiten Bedienvorrichtung ausgestattet war. Als der Professor die Kabine betreten und an dem Steuerelement herumhantiert hatte, geriet der Aufzug in Bewegung und sauste nach unten. Nach einer mehrminütigen Fahrt hielt er an. Sobald Olsen die Tür geöffnet hatte, traute er seinen Sinnen kaum. Vor ihm erstreckte sich freie Natur, gänzlich unbedeckt von Eis und Schnee. Die warme Luft, die zu ihm hereinströmte, raubte ihm fast den Atem. Verblüfft und erschrocken schloss er die Tür und fuhr nach oben, um seinen Fund bekanntzugeben.