Kapitel 7

 

Während der von drei Reaktoren angetriebene Atomeisbrecher Lenin fast mit voller Fahrt durch die aufgewühlten Fluten des Atlantischen Ozeans Richtung Süden pflügte, wanderte Sergeij Lukassow durch die Gänge des Schiffs zu der Sektion mit den Laderäumen. Der Unteroffizier runzelte die Stirn über seinen buschigen Augenbrauen und wunderte sich, ob und wann Polit-Offizierin Rachmaninowa mit genaueren Informationen über den Einsatz herausrücken würde. Bisher hatte sie gegenüber den Zugführern nicht einmal den Zielort verlautbart.

Er durchquerte ein Schott, das zu einem der Laderäume führte. Der versammelte erste Zug, der seinem Kommando unterstand, saß dort an extra aufgebauten, langen Tischen. Die Männer zerlegten ihre Sturmgewehre in Einzelteile und bauten sie wieder zusammen. Das Reinigen der Waffen hatte neben der Überprüfung auf die Einsatztauglichkeit einen zweiten Vorteil. Die Ausführung dieser ritualisierten und tausendfach praktizierten Tätigkeit zeitigte einen beruhigenden Effekt auf die Nerven der Soldaten vor einem Einsatz. Sie waren ganz auf das Hier und Jetzt konzentriert und kamen gar nicht erst dazu, in Grübeleien zu verfallen oder sich gegenseitig im Gespräch mit Spekulationen nervös zu machen.

Lukassow redete seinen Untergebenen gut zu und klopfte ihnen aufmunternd auf die Schulter.

»Egal, womit wir konfrontiert werden, wir werden mit jedem Feind fertig!«, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Dabei habe ich selbst keine Ahnung, was genau uns erwartet. Vielleicht kommt es ja auch gar nicht zum Gefecht.

Einer der Männer hängte den Trageriemen der Waffe aus, hielt sie vor sich, drückte den hinteren Abzuggehäusebolzen von beiden Seiten und zog diesen seitlich bis zum Anschlag heraus. Dann legte er die Waffe auf den Tisch und schwenkte den Kolben inklusive Abzugsvorrichtung aus. Nachdem er den vorderen Bolzen entnommen hatte, entfernte er den Kolben inklusive Abzugsvorrichtung. Er presste die Ladegriffarretierung herunter und zog den Griff auf sich zu. Dann schraubte er den Verschlusskopf und löste den Griff vom Rest der Kalaschnikow. Mit sicherer Hand fischte der Soldat den Zündstift heraus.

Lukassow nickte ihm anerkennend zu und verließ den Raum anschließend nachdenklich durch das Schott. Über eine schmale Leiter gelangte er an Deck. Er trat an die Reling und betrachtete das graue Meer. Eine Schule Delfine begleitete den Eisbrecher, in der Hoffnung, nahrhafte Abfälle, die über Bord geworfen wurden, zu stibitzen. Gelegentlich sprang eines der Tiere hoch aus dem Wasser und tauchte in aufspritzender Gischt wieder in die Wellen ein.

Ich bin ja an Geheimniskrämerei durch unsere Vorgesetzten gewöhnt, aber Rachmaninowa übertreibt es damit für meinen Geschmack, setzte er seine Überlegungen fort. Dabei wissen der Genosse Sorokin und ich längst, wohin die Reise geht. Weshalb sonst haben wir zwei Charkowtschanki an Bord, wenn wir nicht in die Antarktis fahren? Ein anderer Einsatzort ergibt für die beiden Schneemobile keinen Sinn.

 

***

 

Arkadi Sorokin, der Führer des zweiten Zugs, der sich – genau wie Lukassows Einheit – neben seinem Befehlshaber aus neun weiteren Soldaten zusammensetzte, leistete seinen Männern in der Messe Gesellschaft. Im Gegensatz zu Lukassow neigte er nicht dazu, sich vor einem Einsatz den Kopf unnötig über die Durchführung zu zermartern. Er war damit zufrieden, irgendwo abgesetzt zu werden und dann sein Bestes für den Erfolg des Kommandos zu geben.

Jahrein, jahraus rasierte er sich jeden Morgen den Kopf kahl, bis auf seinen imposanten Schnurrbart, den er sorgfältig zurechtstutzte. Dann strich er sich mit einem feuchten Waschlappen über die frische Glatze und erledigte seine Pflicht. Alles andere war ihm gleichgültig, solange er in der dienstfreien Zeit mit seinen Männern, zu denen er ein ziemlich undistanziertes Verhältnis pflegte, ordentlich feiern konnte.

Man kann von der Rachmaninowa ja halten, was man will, dachte er. Sie mag ja tausendprozentig linientreu sein, aber sie weiß, was Soldaten brauchen, um zu funktionieren. Und damit meinte er die Erlaubnis, in der dienstfreien Zeit so viel Wodka zu trinken, wie es ihnen gefällt.

Sorokin prostete mit einem halbgefüllten Wasserglas seinen Kameraden zu und trank den klaren Schnaps in einem Schluck. Er brannte ihm in der Kehle, ehe er in seinem Magen das wohlig-warme Gefühl erzeugte, das er so sehr liebte.

Sorokin knallte das Glas scheppernd auf den Tisch und stimmte ein Lied an, bei dem alle Mann aus voller Brust mit grölten:

 

Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,
still vom Fluss zog Nebel noch ins Land.
Durch die Wiesen ging flink Katjuscha,
zu des Flusses steiler Uferwand.

Und es schwang ein Lied aus frohem Herzen
jubelnd, jauchzend sich empor zum Licht;
weil der Liebste ein Brieflein geschrieben,
das von Heimkehr und von Liebe spricht.

O du kleines Lied von Glück und Freude,
mit der Sonne Strahlen eile fort.
Bring dem Geliebten geschwind die Antwort
von Katjuscha einen Gruß.

 

Er soll an sein einfaches Mädchen denken
und hören, wie sie singt,
er soll die heimatliche Erde beschützen
und Katjuscha wird ihre Liebe bewahren.

 

Den Rest des Abends bis zum Zapfenstreich verbrachten die Soldaten in seliger Erinnerung an ihre Frauen zu Hause, mit dem Trinken von mehr und mehr Wodka und dem Schmettern zahlreicher Lieder.

 

***

 

Mit andauernder Fahrt der Lenin kühlte das Wetter ab, während sie vom Atlantischen Ozean in das Südliche Polarmeer manövrierte.

Der einhundertvierunddreißig Meter lange Atomeisbrecher Lenin verfügte über eine Besatzung von zweihundertdreiundvierzig Mann. Seine Reaktoren lieferten eine Leistung von vierundvierzigtausend PS, die ihn zu einer Höchstgeschwindigkeit von achtzehn Knoten befähigten. Ihr Heimathafen war Murmansk und eigentlich handelte es sich bei ihm um ein ziviles Schiff, weshalb es für verdeckte militärische Operationen geradezu prädestiniert war.

An einem kalten Morgen bestellte Politoffizier Rachmaninowa die beiden Zugführer zu einer gemeinsamen Besprechung mit Pawel Ponomarew, dem Kapitän der Lenin , ein.

»Genossen, wie Sie sich wahrscheinlich schon denken konnten«, verkündete sie, »führt uns dieser Einsatz in die Antarktis. Durch einen Informanten des KGB haben wir erfahren, dass dort ein mysteriöses Objekt aus dem Weltraum einschlug. Die Amerikaner haben bereits eine Expedition zu dessen Erforschung entsandt.«

»Um was für ein Objekt …« setzte Ponomarew zu einer Frage an.

Rachmaninowa gebot ihm durch das Heben der Hand, zu schweigen, bevor er den Satz ausformuliert hatte. »Ihren Vorsprung werden wir kaum einholen können. Aber wir werden es zumindest probieren. Sie sind mit Schlittenhunden zur Einschlagstelle unterwegs. Wir dagegen werden auf moderne Technik setzen, also haben wir trotz ihrer Vorlaufzeit eine Chance, das Wettrennen dank unserer hervorragenden Raupenfahrzeuge für uns zu entscheiden. Wenn wir zu spät kommen, um uns des Objekts als Erste zu bemächtigen, müssen wir es notfalls mit Waffengewalt in unseren Besitz bringen. So oder so werden wir und damit die Sowjetunion erfolgreich sein. Daran kann kein Zweifel bestehen, denn es ist unsere historische Mission, dem Kommunismus zu seinem weltweiten Sieg zu verhelfen und dem einheitlichen Willen des Sowjetvolks Geltung zu verschaffen.«

 

***

 

Knirschend stampfte die Lenin durch das vereiste Meer. Das gefrorene Salzwasser zerbarst vor ihrem Bug zu riesigen, gezackten Schollen, die der Schiffsrumpf seitlich verdrängte.

Als er den Eisbrecher so dicht wie möglich an das Schelfeis der Antarktis gesteuert hatte, stoppte Kapitän Pawel Ponomarew die Schiffsschrauben. Nun war es so weit, Fracht und Passagiere abzuladen, um danach weiter draußen auf dem offenen Ozean ihre Wiederkehr abzuwarten.

Vorher beförderte der Kran auf dem Vorschiff der Lenin die beiden je zwanzig Tonnen schweren Kettenfahrzeuge vom Typ Charkowtschanka auf das Eis.

Eigentlich waren diese Spezialfahrzeuge für wissenschaftliche Expeditionen in der Antarktis entwickelt worden, in deren Rahmen sie je sechs Forscher nebst Ausrüstung transportieren sollten. Die vier Meter hohen Kolosse hatten eine Länge von achteinhalb und eine Breite von dreieinhalb Metern, sowie eine Reichweite von eintausendfünfhundert Kilometern. Da bei diesem Einsatz keine Laborgeräte mitgeführt wurden, stand im Innenraum mehr Platz als gewöhnlich zur Verfügung. Dennoch mussten die Soldaten eng zusammenrücken, da auf jeden Charkowtschanka ein kompletter Zug mit zehn Mann entfiel. Im Schneemobil, das an der Spitze fuhr, kam mit Jekaterina Rachmaninowa zudem eine elfte Person hinzu. Die achtundzwanzig Quadratmeter der Kabinen-Innenfläche gliederten sich in verschiedene Abteilungen: einen Gemeinschaftsraum, die Funkerkabine, eine Bordküche, eine Toilette, den Trockenraum und die Ausstiegsschleuse am Heck. Die Soldaten hockten zusammengekauert am Boden des Gemeinschaftsraums. In die aufgrund der räumlichen Enge schon stickige Luft mischten sich die Dünste des schlecht isolierten Dieselantriebs, der über eine Bodenluke im Gemeinschaftsraum für Reparaturen und Wartung erreichbar war. Spätestens alle zwei Stunden musste bei laufender Fahrt durchgelüftet werden, da die Atmosphäre dann zum Schneiden dick geworden war und die Männer anfingen, nach Luft zu ringen.

An der Front des Fahrzeugs befand sich außer dem Fahrerhaus der Platz des Navigators mit einer Beobachtungskuppel für die Astronavigation. Rachmaninowa besetzte diesen exponierten Posten im an der Spitze fahrenden Schneemobil. Am Steuer saß Lukassow, der seine Grundausbildung bei einer Panzerdivision absolviert hatte und der dabei das sichere Manövrieren mit Kettenfahrzeugen in jeder Situation und jedem Gelände erlernt hatte.

Die Charkowtschanki walzten fast permanent mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern dem Ziel entgegen. Pausen wurden nur eingelegt, sobald einer der fünfhundertdreißig PS starken V-12-Dieselmotoren zu überhitzen drohte. Die Position des Fahrers wurde turnusmäßig ausgewechselt, um Unfälle durch Übermüdung zu vermeiden.

Als das Gelände anstieg und zusehends unbefahrbarer wurde, übernahm Lukassow nach einem kurzen Erholungsschlaf von seinem zeitweiligen Vertreter wieder das Steuer des Führungsfahrzeugs. Im Schatten gewaltiger schwarzer Felskuppen, die kontrastreich aus dem ewigen Weiß der Umgebung ragten, kam er trotz aller Geschicklichkeit bald an den Punkt, an dem eine Weiterfahrt unmöglich wurde. Er bremste und stoppte das Schneemobil. »Von hier geht es nur zu Fuß weiter.«

Rachmaninowa nickte. »Wir sind fast an den Zielkoordinaten.« Sie erforschte die Gegend mit einem Feldstecher und entdeckte die beiden Schlitten und die Hunde. »Die Yankees waren schneller als wir. Da vorn sind zwar ihre Schlitten, aber es ist kein Mensch zu sehen.«

Als die Sowjets aus den Kettenfahrzeugen ausstiegen, kam rund ein Dutzend Hunde neugierig näher – jedoch nicht zu nahe.

Die Tiere schlichen mit gebührendem Respekt um die beiden Charkowtschanki herum. Etwas Vergleichbares war ihnen anscheinend zuvor nie begegnet. Besonders ins Auge stach ein riesiger Rüde, der sofort knurrte, sobald ihm jemand näher als zehn Schritte kam. Die anderen Hunde waren jedoch freundlich interessiert an den Neuankömmlingen und schienen darauf zu spekulieren, von ihnen ein paar überzählige Leckereien einheimsen zu können. Nach der Reise durch die schier endlose Einöde aus Eis und Schnee freuten sich die Soldaten, etwas Lebendiges zu sehen. Sie lachten und warfen den Tieren Stücke trockenen Brots zu, die von ihnen gierig gefressen wurden.

»Was soll diese hirnlose Verschwendung wertvoller Ressourcen«, brüllte Rachmaninowa mit einer schneidenden Stimme, die selbst Tote zum Leben erweckt hätte. »Hört sofort mit diesem Unfug auf.« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Lukassow, Sorokin, sorgen Sie auf der Stelle dafür, dass diese blöden Köter erschossen werden! Wird’s bald oder muss ich ihnen Beine machen?«

Die beiden Unteroffiziere tauschten vielsagende Blicke.