Kapitel 9

 

Den Umweg vertrieben sich MacNeil, Amanda und Olsen mit einer Diskussion über Funktion und Sinn der Ökosphäre.

»Neben ihrem Zweck beschäftigt mich vor allem ihr Alter und die Frage, ob die Erbauer ihr bis heute gelegentlich einen Besuch abstatten?«, sagte Olsen.

»Ich glaube, sie waren schon sehr lange nicht mehr hier – vielleicht seit Jahrtausenden oder sogar seit Millionen von Jahren«, meinte Amanda. »Sonst wären wir auf aktuelle Spuren von ihnen gestoßen.«

»Das würde bedeuteten, die Angst von Admiral Byrd vor einem Ufo-Angriff wäre grundlos«, schlussfolgerte Myers.

»Davon ist auszugehen«, pflichtete ihm Amanda bei. »Die Ökosphäre könnte alle möglichen Funktionen erfüllt haben. Vielleicht diente sie als Zoo mit exotischen Tieren oder als Naturschutzgebiet, um vom Aussterben bedrohte Arten zu retten.«

MacNeils Überlegungen zu dem Thema waren eher pragmatischer Natur. »Oder die Erbauer haben das Habitat als Ferienressort genutzt. Mit der Möglichkeit zur Jagd auf gewaltige Trophäen. Eventuell fanden von hier aus über versteckte Kameras Liveübertragungen dieses Spektakels zur Heimatwelt der Besucher statt.«

»Das alles könnte zutreffen«, sagte Olsen. »Herausfinden werden wir es vermutlich nie. In jedem Fall müssen uns die Außerirdischen wissenschaftlich um Lichtjahre voraus gewesen sein.«

»Dann haben wir ja Glück gehabt, dass sie heutzutage die Erde meiden, sonst würden wir vielleicht wie Affen in einem Zoo enden.« Amanda grinste schal.

Auch die zweite Nacht in der vergessenen Welt verstrich ohne besondere Ereignisse. Müde und erschöpft beschloss das Team vor dem Zubettgehen, am nächsten Morgen direkt nach dem Frühstück das weitere Vorgehen zu besprechen.

 

***

 

Als alle satt waren, trank MacNeil einen Schluck Kaffee und eröffnete das Gespräch: »Wir müssen unbedingt zurück. Länger als vier Tage kann ich die Hunde unmöglich allein lassen.«

Myers nickte. »Da ist was dran. Was aber noch wichtiger ist: Wir müssen umgehend das Hauptquartier verständigen. Das haben wir schon viel zu lange auf die lange Bank geschoben.«

»Damit sollten wir weiter warten«, wandte Olsen ein. »Sobald hier eine schießwütige Army-Horde einfällt, werden etliche der Wunder rings um uns mit Sicherheit unwiederbringlich zerstört.«

»Jetzt hören Sie gefälligst auf, solche unamerikanischen Reden zu schwingen«, schnauzte ihn Myers an. »Hätten unsere Gründungsväter so gedacht, wäre Amerika bis heute ein primitives Land.«

Olsen zuckte eingeschüchtert mit der Schulter.

»Als Erstes brauchen wir eine vernünftige Aufklärung«, fuhr der Colonel fort. »Jones, Sie kraxeln auf einen Baum und melden uns danach, was sie auf der Ebene vor uns beobachtet haben.«

»Ja, Sir«, antwortete der Angesprochene, salutierte kurz und befolgte den Befehl.

Zehn Minuten später wieder bei der Gruppe berichtete er: »Das Grasland erstreckt sich mindestens zehn Kilometer weit. Etwa auf der Hälfte des Terrains wird es von einem breiten Fluss durchschnitten. Tiere oder sonstige Gefahrenquellen sind Fehlanzeige. Weiter hinten folgt auf das Gras felsiges Gelände.«

»Die Entnahme einer Wasserprobe würde uns einen wichtigen Erkenntnisgewinn bringen«, sagte Amanda. »Der wäre auch für die Army von Vorteil, wenn sie hier eintrifft.«

»Hm.« Myers runzelte die Stirn. »Nun gut. Dann teilen wir uns auf. MacNeil geht zum Schlitten, verständigt das Hauptquartier und versorgt die Hunde. Er kennt es, allein in der Wildnis zu sein, deshalb traue ich ihm diese Mission zu. Zuerst begleitet er uns ein Stück, bis wir erkundet haben, ob der Rückweg über das offene Gelände eine Option für einen schnelleren Rückweg darstellt. Je nach Lage marschiert er dann über die Ebene oder er nimmt wieder den Weg durch den Dschungel. Der Rest von uns stößt zum Fluss vor. Nach der Untersuchung des Wassers kehren wir ebenfalls um. So verschwenden wir nur eine akzeptable Zeitspanne für die Meldung beim Hauptquartier und Doktor Blair hat ebenfalls ihren Willen.«

Alle stimmten zu. Das Team verließ die Deckung der Bäume und brach in Richtung Fluss auf.

 

***

 

»Was ist das? Merkt ihr es auch?«, fragte MacNeil unvermittelt, als er an seinen Fußsohlen eine sanfte, kaum wahrnehmbare Bodenvibration spürte.

Die anderen mit Ausnahme Amandas schüttelten die Köpfe.

Die Biologin ging in die Hocke und presste die flache Hand aufs Gras. »Ja, mit der Hand ist es deutlicher fühlbar. Irgendwas verursacht eine Erschütterung. Was das wohl sein mag?«

»Wenn wir es mit einem Erdbeben zu tun kriegen, sind wir im Arsch«, unkte Jones. »Zumindest bei einem starken. Dann werden wir hier unten zerquetscht, wie Ameisen unter einem Stiefel.«

»Glaube ich nicht«, widersprach Olsen. »Die künstliche Biosphäre ist so alt, dass sie zahlreiche Beben und tektonische Verschiebungen der Erdkruste verkraftet haben muss. Vielleicht findet draußen gerade ein Beben statt und die Vibrationen sind alles, was bis hierher vordringt.«

Plötzlich ertönten leise Stampfgeräusche. Ebenso wie die Erschütterungen wuchs ihre Intensität erst langsam und dann exponentiell.

»Da«, rief MacNeil und deutete auf den Waldausläufer rechts vor der Gruppe.

Hinter dem letzten Mammutbaum kam in knapp zehn Metern Höhe ein keilförmiger Saurierkopf zum Vorschein, der in einen langen Hals überging, dessen Umfang ungefähr dem des relativ kleinen Schädels entsprach. Der Hals mündete in den massigen, plumpen Rumpf einer Echse, die auf vier Säulenbeinen bedächtig auf die Grasebene schritt. An ihrem Hinterteil schwang ein Schwanz, dessen Dicke ungefähr dem des Halses entsprach. Zur Spitze hin verjüngte er sich.

Mit offenen Mündern bestaunte das Team den urzeitlichen Giganten.

Amanda Blair fand zuerst die Sprache wieder. »Das ist ein Sauropode. Zu dieser Kategorie von Vierbeinern gehören die größten Lebewesen, die es je auf der Erde gab. Die Knochenplatten auf dem gewölbten Rücken verraten uns, dass wir es mit einem Saltasaurus zu tun haben.«

»Mit einem ist gut«, entgegnete MacNeil. »Dort vorn kommen schon die nächsten beiden hinter den Bäumen hervor.«

»Sind die gefährlich?«, fragte Jones.

»Ihre Ernährung besteht ausschließlich aus Pflanzen«, erläuterte Amanda. »Sie trampeln uns bestenfalls tot, falls wir unvorsichtigerweise ihren Weg kreuzen. Zum Glück ziehen sie in eine andere Richtung.«

Inzwischen hatte sich die gesamte Herde, die zehn Tiere zählte, auf die Ebene geschoben.

»Vermutlich wandern sie zum Fluss, um ihren täglichen Flüssigkeitsbedarf zu stillen«, dozierte Amanda und fügte begeistert hinzu: »Die Knochenplatten sehen ganz anderes aus, als die meisten Paläontologen bisher glauben. Manche davon gleichen eher Stacheln als Platten. Das dürfte die Schutzwirkung vor Beutegreifern zusätzlich verbessern.«

»Runter!«, brüllte Meyers und hechtete bäuchlings aufs Gras.

Als es ihm die anderen gleichgetan hatten, flüsterte er: »Wir kriegen Besuch.«

Am Horizont bildete eine Gruppe aus verhalten näher kommenden Schemen einen scharfen Kontrast zum Blau des Himmels. Geduckt pirschten sechs zweibeinige Raubsaurier an die Pflanzenfresserherde heran. Als einer der vorbeiziehenden Saltasaurier in größere Entfernung zu seinen Artgenossen geriet, preschten die Jäger blitzartig vor und drangen in die Lücke zwischen dem vereinzelten Tier und dem Rest der Herde ein.

Zwei der Beutegreifer, die Amanda Blair als Angehörige der Gattung Carnotaurus identifizierte, hetzten das Einzeltier, die anderen schirmten es gegen den restlichen Pulk der Saltasaurier ab. Obwohl die beiden Räuber ihre anvisierte Beute mit Leichtigkeit hätten einholen können, legten sie es darauf an, diese zunächst zu ermüden, um so deren Kräfte für die Verteidigung zu schwächen. Ihre Körperlänge betrug etwa sieben Meter. Die Schädel waren für Saurierverhältnisse kurz und gedrungen, über den Augen ragten zwei spitze Hornwülste auf, die Erinnerungen an die Hörner eines Stiers heraufbeschworen.

»Daher hat er seinen Namen. Taurus ist Latein und heißt Stier«, erklärte Amanda. »Sie wiegen gut eine Tonne. Und sie sind wahrscheinlich Sichtjäger, die auf Bewegungsreize reagieren. Also haltet die Köpfe unten und bewegt euch nicht.«

Plötzlich beschleunigte der rechte Carnotaurus rasant und setzte zum Überholen an. Der Saltasaurus schwang zur Abwehr den Schwanz, doch der Jäger entging mit einem gewaltigen Satz dem niedrig ausgeführten Hieb. Mit seinem eigenen Schwanz balancierte der Jäger den abrupten Richtungswechsel geschickt aus.

Nun schloss der zweite Carnotaurus auf. Er hatte weniger Glück. Der Schwanz des Sauropoden erwischte den Beutegreifer an der Brust, in Höhe seiner Stummelarme. Die Wucht des Treffers schmetterte ihn zur Seite, wo er mit einem lauten Klatschen auf den Boden krachte und sich mehrmals überschlug. Dabei riss er Büsche und große Grasstücke mitsamt der Erde an ihren Wurzeln aus dem Untergrund, die in hohem Bogen in die Luft geschleudert wurden.

Wow, dachte MacNeil.

Der auf den Beinen verbliebene Artgenosse des Jägers schnappte vor lauter Gier nach dem Rücken des Saltasaurus, bekam diesen wegen der schützenden Knochenplatten jedoch nicht zu fassen. Dann zog er das Tempo stärker an, bis er fast parallel zur Schnauze seiner Beute rannte. Er schnellte in die Höhe und verbiss sich im Hals des Pflanzenfressers. Der wollte sich durch Schütteln des Halses seines Peinigers entledigen. Seine Mühe war vergeblich. Der Carnotaurus presste seine Kiefer wie eine Schraubzwinge zusammen, brachte ihn zu Fall und brach ihm mit einem kräftigen Biss das Genick.

Während er mit seiner blutigen Mahlzeit begann, eilten die anderen Raubsaurier zum Ort des Geschehens und rissen ebenfalls große Fleischbrocken aus der Beute. Mit leichter Verspätung und auf dem linken Bein hinkend, traf der Carnotaurus ein, den der flüchtende Sauropode mit einem Schwanzhieb gefällt hatte.

»Sie sind jetzt voll auf das Fressen konzentriert«, sagte Amanda. »Wir sind so lange außer Gefahr.«

Myers stand auf. »Gut. Dann macht MacNeil jetzt den Abmarsch. Eine Waffe kann ich ihm leider nicht mitgeben. Wir benötigen unsere gesamte Feuerkraft, um Doktor Blair und Olsen zu schützen.«

»Aye, aye«, rief der Hundeführer und trottete los, ehe ihm der Colonel mit den Worten, die ihm auf der Zunge lagen, antworten konnte. Stattdessen schnaubte er hörbar und dachte: Wir sind hier nicht bei der Marine … aber was soll ich von einem undisziplinierten Zivilisten erwarten. Laut sagte er: »Und wir gehen jetzt unverzüglich zum Fluss.«

 

***

 

Als das US-Team unbehelligt am Ziel eingetroffen war, fragte Myers kurz vor dem Ufer des rund fünfzig Meter breiten Stroms: »Was meinen unsere Wissenschaftler: Müssen wir damit rechnen, dass im Wasser Gefahren lauern?«

»In der Kreidezeit gab es bereits Krokodile, die ihren heutigen Verwandten stark glichen«, antwortete Amanda.

»Allerdings werden einige davon doppelt so groß. Wir könnten auch Sauriern begegnen, die ihre Beute unter Wasser jagen. Und selbst in Ufernähe schwimmen vermutlich Raubfische, die einen Menschen ohne Probleme töten können«, ergänzte Olsen.

»Dann wird Jones, die Probe entnehmen und wir warten hier auf ihn«, bestimmte der Colonel. »Also los, Private. Und gehen sie keinesfalls tiefer in den Fluss als bis zu den Knöcheln.«

Während der GI den Befehl ausführte, wunderte sich Amanda Blair, welche Rolle der Fluss im Gesamtkonstrukt der künstlichen Biosphäre bezüglich des Wärmehaushalts und des Klimas spielte?

»Um diese Frage klären zu können, müssten wir in Erfahrung bringen, wie der Fluss mit Wasser gespeist wird«, erläuterte Olsen. »Unter der Antarktis, aber auch in anderen Kältegebieten, existieren subglaziale Seen, die über zweihundert Kilometer lang und über fünfzig Kilometer breit sein können. Vielleicht gibt es sogar mit Wasser gefüllte Hohlräume mit erheblich größeren Dimensionen, die wir bisher nicht kennen. Teilweise herrscht in den Seen vulkanische Aktivität, die das Wasser erhitzt.«

»Die Erbauer der Ökosphäre könnten also einen dieser subglazialen Seen als Wasserreservoir benutzt haben«, meinte Amanda.

»Ja genau und die Vulkane könnten als Energiequelle fungieren, die ausgebeutet wird, um die Ökosphäre zu versorgen. Allein der Energieverbrauch der künstlichen Sonne muss unvorstellbar sein. Mit einer solchen Technik zur Energiegewinnung könnten wir leicht den Bedarf der ganzen Menschheit abdecken.«

»Das wäre ja fantastisch«, jubelte Amanda und strahlte über das ganze Gesicht. »Damit wäre allen armen Ländern auf der Welt geholfen.«

Oder die Technik fällt in die Hände des Militärs, grübelte Olsen. Und die werden kaum eine friedliche Nutzung im Sinn haben oder sie an irgendwelche Hungerleider verschwenden.

Gerade als Jones mit einem frisch mit Flusswasser gefüllten Plastikfläschchen mit Schraubverschluss aus dem Arsenal des Professors auf die Gruppe zustiefelte, beendeten entfernte Schüsse das lebhafte Gespräch.

In Sekundenbruchteilen lagen die beiden Soldaten auf der Wiese und brachten ihre Sturmgewehre in Anschlag.

Olsen und Blair standen wie erstarrt mit geweiteten Augen da.

»Runter, verdammt. Oder muss ich Ihnen eine Extraeinladung schicken?«, wetterte Myers. Als die beiden ebenfalls flach auf dem Boden lagen, schnaubte der Colonel wutentbrannt. »Verfluchte Russen!«

Eine weitere Salve erscholl.

»Woher wollen sie wissen, dass das Sowjets sind?«, fragte Olsen. »Vielleicht ballern ihre Kollegen von der Army mal wieder sinnlos durch die Gegend.«

»Blödsinn. Die Schüsse werden aus einer verdammten Kalaschnikow abgefeuert. Das hört selbst ein Tauber. Na ja, ein Zivilist ist so ziemlich das Gleiche, also sei es Ihnen verziehen.«

Der Wissenschaftler verzog beleidigt das Gesicht.

»Da, drüben der Hügel«, sagte Myers, »der wird uns ausreichend Deckung bieten.« Er deutete auf einen dunkeln Fleck auf der Erhebung. »Sieht nach einer Höhle aus. Sehr gut.«

Geduckt rannte das US-Team los. Vor dem Höhleneingang presste Myers den erhobenen Zeigefinger auf die Lippen und signalisierte dann mit der flachen Hand den anderen, sie sollen zurückbleiben. Er schlich an die Öffnung und postierte sich seitlich davon, wodurch er vermied, eventuell von anwesenden Bewohnern der Höhle entdeckt zu werden. Dann zerbrach er eine chemische Fackel und schleuderte sie in die Dunkelheit der Felsenkammer.

Mit einer geschmeidigen Rollbewegung kam er direkt vor dem Eingang, aus dem nun ein orangefarbenes Leuchten schimmerte, schussbereit zum Liegen. »Sauber! Kommt.«

Die ovale Höhle maß geschätzte zwanzig Quadratmeter und roch muffig.

In ihrem Innern händigte Myers seine Pistole zusammen mit dem Holster der verdutzten Amanda aus. »Sie ist entsichert. Wenn eines von diesen Dinosaurier-Monstern oder ein Russe reinschneit, zielen Sie auf ihn und drücken ab, ohne Fragen zu stellen. Das Magazin ist voll. Passen Sie auf, dass sie nicht auf Jones oder mich schießen, wenn wir zurückkehren. Wir werden die Lage sondieren und die Russen ein bisschen aufmischen. Sie verstecken sich unterdessen hier. Unternehmen Sie keine Ausflüge. Bei unserer Ankunft pfeife ich dreimal. Sie antworten mit vier Pfiffen, woraufhin ich zweimal pfeife. Danach komme ich zu Ihnen in die Höhle rein. Kapiert?«

Amanda nickte.

»Und sorgen Sie dafür, dass unser Kommunistenfreund«, er bedachte Olsen mit einem abschätzigen Blick, »seine Pfoten von der Waffe lässt. Ich traue ihm nicht. Sicher ist sicher.«