Egal, wohin MacNeil spähte, überall lag steiniges Geröll verstreut, fast so weit er sehen konnte. Wenn er einen Bogen nach links schlug, würde er den Gefechtslärm, den die Eindringlinge verursacht hatten, umgehen. In der Ferne stieg dort der steinige Boden langsam an und ging in einen grasbewachsenen Hang über, den zahlreiche große Felsbrocken sprenkelten. Hinter diesem Gelände schien die Landschaft in einen dichten Wald zu münden. Genaues konnte er nicht erkennen, die Entfernung war zu groß. Ein Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk zeigte MacNeil, dass ihm noch etliche Stunden bis zu Einbruch der Dämmerung zur Verfügung standen.
Da er nicht wusste, ob in dieser rätselhaften Ökosphäre nachtaktive Beutegreifer in der Dunkelheit auf die Jagd gingen, wollte er das nur wenig Deckung und Versteckmöglichkeiten bietende Geröllfeld und die Grasböschung bei Tageslicht hinter sich bringen. Würde er es rechtzeitig bis zum Waldrand schaffen? Er musste es zumindest versuchen, denn dort konnte in einer Baumgabelung schlafen und so zumindest Schutz vor allem, was auf dem Boden herumschlich und nicht klettern konnte, finden.
Zunächst in gemäßigtem Tempo marschierte er los. Dann zog er die Geschwindigkeit immer stärker an. Nun profitierte er von dem Lauftraining, das er vor seinem Umzug nach Alaska regelmäßig absolviert hatte. Damals hatte er in seiner Freizeit regelmäßig an Halbmarathon-Wettbewerben teilgenommen. Obwohl seine Kondition nicht mehr so gut wie zu jener Zeit war, verfügte er immer noch über eine große Ausdauer und Zähigkeit. Weiter und immer weiter drang er in einem gleichmäßigen Trott vor.
Die durch die körperliche Anstrengung beim Laufen biochemisch freigesetzten Endorphine hoben seine Stimmung. Automatisch trat ein Fuß vor den anderen. Die Gedanken des Hundeführers schweiften in die Vergangenheit ab, hin zu den Ereignissen, in deren Verlauf er seinem Malamuten-Rudel zum ersten Mal begegnet war …
***
An einem Sommertag im Juli fuhr MacNeil in seinem alten Pick-up-Truck einen holprigen, schlecht in Schuss gehaltenen Waldweg entlang. Die Zweige der umstehenden Büsche und Bäume schrammten geräuschvoll an den Seitenwänden des Fahrzeugs, hohe Grasbüschel auf der Fahrbahn schleiften an der Unterseite des Wagens. Am Ziel seines Ausflugs würde er Malcolm O’Donnell treffen, einen früheren Schlittenhundeführer, den der Verband, der die Hunderennen organisierte, aufgrund eines Beißvorfalls, an dem einer von seinen Hunden beteiligt gewesen war, ausgeschlossen hatte.
Ursprünglich hatte MacNeil vor wenigen Tagen in einer Bar in Anchorage von dem Mann gehört. Schon von Kindheit an verfügte MacNeil über einen besonderen Draht zu Hunden. Er zählte zu jenen Leuten, die man im Allgemeinen als Hundemenschen bezeichnet. Der Umgang – auch mit schwierigen Vierbeinern – fiel ihm leicht, da er deren Gestik, Mimik und Verhalten zu deuten verstand. Und so war es nicht verwunderlich, dass O’Donnells Geschichte seine Aufmerksamkeit erregte. Er hatte weitere Recherchen zu dem Vorkommen bei besagtem Rennen angestellt und sich schließlich dazu entschlossen, in Verbindung mit O’Donnell zu treten. Telefonisch war dies aufgrund der fehlenden Netzanbindung der einsamen Gegend, in der sein gewünschter Gesprächspartner lebte, unmöglich. Erschwerend für eine Kontaktaufnahme kam hinzu, dass die Briefpost vor Ort nur einmal die Woche zugestellt wurde. Und um sich auf ein langes schriftliches Hin und Her einzulassen, mangelte es MacNeil an der nötigen Geduld – dazu war er viel zu sehr ein Mann der Tat. Also stieg er einfach in seinen Truck und brach auf, um O’Donnell einen Besuch abzustatten.
Schon von Weitem übertönte das verzweifelte Heulen der Hunde das sonore Blubbern des Big-Block-V8-Motors des Trucks. Als MacNeil auf die Lichtung fuhr, die mit dem Anwesen O’Donnells identisch war, wurde er mit einem desolaten Bild konfrontiert. Beim Aussteigen drang ihm ein unerträglicher Gestank nach Urin und Ammoniak in die Nase. Gut ein Dutzend verwahrloster Hunde zerrte an rostigen Eisenketten, die an Pflöcken befestigt waren, deren Abstand den für die Tiere so wichtigen Körperkontakt untereinander verhinderte.
Besonders wild gebärdete sich ein – selbst für Malamutenverhältnisse – riesiger Rüde. Obwohl abgemagert, wirkte es, als würde er den Pflock, der ihn seiner Freiheit beraubte, jeden Augenblick aus dem Boden reißen. Er warf sich mit solcher Wucht nach vorn, dass er regelrecht Saltos in der Luft schlug, sobald die Kette nicht mehr nachgab. Sein Fell glich einem mottenzerfressenen Flokatiteppich; die verfilzte Unterwolle quoll überall zwischen dem stumpfen Deckhaar hervor. Manche Stellen an seinem Körper waren komplett kahl. Doch selbst sein miserabler Zustand und die Einschränkung seiner Freiheit hatten ihn nicht gebrochen. In seinen bernsteinfarbenen Augen funkelte ein Feuer, das schrie: Ich werde niemals aufgeben! Während die anderen Hunde sich mit der Ankunft des Fremden abfanden und resigniert in Apathie versanken, wütete er unermüdlich weiter.
Eine Mischung aus Trauer und Zorn trübte MacNeils Stimmung. Wie betäubt stapfte er auf das Haus am jenseitigen Ende des Grundstücks zu, das einen ähnlich heruntergekommenen Eindruck hinterließ wie die Hunde.
Vom Zahn der Zeit und dem Einfluss der Witterung gezeichnet, bogen und wölbten sich die Schindelverkleidungen der Außenwände. Überall blätterte der Lack ab. Einige Elemente der Fassadenverblendung hatten sich komplett gelöst und lagen nun am Boden, wo sie allmählich vermoderten.
MacNeil erklomm die abgewetzten Verandastufen, verharrte vor der mit einem Fliegengitter versehenen Tür, und sah sich um. Das milchige Glas der Fensterscheiben rechts und links hatte offensichtlich seit Ewigkeiten keine Reinigung erfahren. Die gehäkelten Vorhänge dahinter verwehrten einen Blick nach drinnen. MacNeil seufzte leise und klopfte sacht an den Türrahmen.
Die Tür öffnete sich sofort, als habe jemand dahinter gelauert und bis jetzt mit dem Öffnen gezögert – sei es aus Höflichkeit, oder vielleicht, um den Beginn eines unangenehmen Gesprächs vor sich herzuschieben.
»Was wollen Sie hier?«, krächzte O’Donnell unfreundlich. »Bin ich nicht schon gestraft genug? Habe ich vielleicht noch nicht genug Schaden erlitten und wollen Sie mich jetzt auch noch verspotten?« Der Hausherr streifte sich eine fettige Haarsträhne von der Stirn. Dann fuhr er mit der linken Hand durch sein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht. An den Wangen, dem Hals und am Kinn wucherten lange, graue Bartstoppeln. Sein Atem roch nach hochprozentigem Alkohol.
MacNeil hob beschwichtigend die Hände und nannte seinen Namen. »Nein, deshalb bin ich nicht hier. Das Gegenteil ist der Fall. Mir liegt das Wohl von Hunden sehr am Herzen und weil ich Ihre Geschichte gehört habe, bin ich gekommen, um Ihnen zu helfen.«
Die starren, verzerrten Züge O’Donnells wurden ein klein wenig entspannter und sanfter. Doch dann kehrte sein Misstrauen plötzlich zurück. »Sie lügen! In Wahrheit sind Sie ein Geldeintreiber, der mir an die Tasche möchte. Richten Sie Ihrem Auftraggeber aus, hier gibt’s nichts zu holen.«
Kopfschüttelnd schwieg MacNeil und nahm die Hände nach unten. Erst nach gut zehn Sekunden sprach er wieder: »Wenn sie das glauben, kann ich ihnen leider nicht helfen. Wenn sie schon für sich selbst keine Unterstützung möchten, möchte ich Sie bitten, wenigstens an die Hunde zu denken.«
Es arbeitete in O’Donnells Gesicht, als würde er heftig nachdenken. »Hm, ja also … die Hunde. Eigentlich sind sie ganz okay, bis auf Kenai. Der ist ein echtes Biest, ein leibhaftiger Teufel.« Er schwieg betreten.
»Was macht ihn denn zu so einem Ungeheuer.«
O’Donnells Hände zitterten. »Ach was soll’s, wenn Sie mir auf die heilige Bibel versprechen, dass Sie kein Geldeintreiber sind, erzähle ich Ihnen etwas darüber. Allerdings kostet Sie das einhundert Dollar und keinen Cent weniger.«
Kurz entschlossen leiste MacNeil den geforderten Schwur, holte das Geld aus seinem Portemonnaie und drückte es dem anderen in die Hände. Der zerknüllte die Scheine, steckte sie in die Hosentasche, öffnete die Tür und das Fliegengitter vollständig und winkte seinen Gast herein.
Der Alte führte ihn in das Wohnzimmer, lümmelte sich auf die Couch und bot MacNeil einen Platz auf dem Sessel am anderen Tischende an.
Im ganzen Haus stank es erbärmlich. Auf den Möbeln glänzten speckige Flecken von Essensresten. Auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche mit selbstgebranntem Fusel. O’Donnell schenkte davon großzügig in ein leeres Marmeladenglas ein und nahm einen tiefen Schluck. Das Zittern seiner Hände schwand.
Langsam und gedehnt sagte MacNeil: »Und … die Hunde?«
O’Donnell hustete. »Ja, die Hunde … die schnellen Schwestern sind echte Gewinner, aber ich musste mein Glück ja auf Kenai setzen, diesen Teufel. Nur er ist schuld daran, dass ich aus dem Verband ausgeschlossen wurde und nicht mehr an Rennen teilnehmen darf.«
»Was ist passiert?«
»Es war beim Wettkampf in Meadow Lakes vor einem Jahr. Das Biest ist viel langsamer gerannt, als es eigentlich kann. Ich gab ihm die Peitsche zu schmecken, um ihm Beine zu machen. Daraufhin ist er einfach stehen geblieben. Als ein Streckenposten zu uns kam, hat er versucht, Kenai am Geschirr zu ziehen, um mein Gespann aus der Spur zu entfernen, da es die Rennstrecke blockiert hat. Kenai hat ihm beide Unterarme zerfetzt und wir wurden disqualifiziert.« Eine Träne rann über O’Donnells linke Wange.
Um zu verhindern, dass der Alte anfing, sich in Selbstmitleid zu suhlen, schlug MacNeil vor: »Dann zeigen sie mir am besten den Übeltäter jetzt gleich.«
Nickend stand O’Donnell träge auf und die beiden gingen nach draußen.
Auf dem Weg zu dem unbeugsamen Rüden, der MacNeil schon bei seiner Ankunft aufgefallen war, hob sein Gastgeber einen Knüppel auf.
Diesmal erwartete Kenai seinen menschlichen Besuch ganz still. Den Körper versteift und die Lefzen hochgezogen, zeigte er den ungleichen Männern sein imposantes Gebiss. Seine Warnung war eindeutig: Kommt mir bloß nicht zu nahe!
Als O’Donnell einen Schritt vortrat und den Knüppel schwang, um auf den Hund einzuprügeln, packte ihn MacNeil instinktiv am Arm. Es kostete ihn kaum Kraft, dem alten Mann den Knüppel zu entringen.
»Was soll das? Das Tier hat ihnen gerade gar nichts getan!«
O’Donnell starrte auf seine eigenen Füße und heulte Rotz und Wasser. Er schien sein Schluchzen gar nicht mehr einkriegen zu können.
»Wissen Sie was«, sagte MacNeil, »Sie sind mit der Haltung der Hunde himmelhoch überfordert. Deshalb habe ich einen Vorschlag für Sie: Ich kaufe ihnen das ganze Rudel ab. Hier und heute.«
Mit leerem Blick in den Augen sah O’Donnell auf. »Nein, nein, so läuft das nicht. Sie können das Biest haben. Für dreitausend Dollar.«
»Entweder alle oder keinen. Sie haben seit Ewigkeiten keinen Job mehr und dürfen an keinem Rennen mehr teilnehmen. Ich wette, sie sind längst pleite.«
Der Alte nuschelte etwas Unverständliches.
»Unterbrechen sie mich gefälligst nicht. Ich biete Ihnen fünfundzwanzigtausend Dollar für das Rudel, das Haus und das Gelände. Jetzt sofort und in Cash. Aber keinen Cent mehr. Der Preis ist nicht verhandelbar. Wenn Sie nicht einschlagen, verpassen Sie Ihre letzte Chance. Irgendwann nimmt ihnen die Bank sowieso alles ab, und dann können Sie froh sein, wenn Sie mit fünfhundert Dollar abgespeist werden. Wer sonst soll denn diese Bruchbude und die verwahrlosten Hunde kaufen. Was sagen Sie nun?«
Bei der Nennung der exorbitant übertriebenen Summe hatten O’Donnells Augen gierig gefunkelt. Nach kurzem Gestammel nahm er das Angebot an …
… und MacNeils Leben schlug eine Richtung ein, von der er vor wenigen Minuten nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Denn eigentlich hatte er O’Donnell nur etwas Geld schenken wollen, um ihm bei der Futterversorgung der Hunde unter die Arme zu greifen.
***
MacNeil musste bei dieser Vorstellung schmunzeln, während seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehrten – zu seinem Weg über das Geröllfeld hinweg. Sperrige Gesteinsbrocken umrundete er mit einem angemessenen Sicherheitsabstand, denn allem, was dahinter verborgen sein konnte, durfte er nicht unüberlegt in die Arme rennen … oder besser gesagt in die Klauen und Fänge.
Größere Raubechsen zeigten sich entgegen MacNeils Befürchtungen keine. Hier und da huschten ihre winzigen Verwandten durch die Gegend, deren Speiseplan vermutlich Insekten und Würmer füllten; und bei denen es sich offenbar um Vorfahren der heutigen Eidechsen handelte. Durch die Farbe ihrer ledrigen Haut schienen sie mit dem grau bis anthrazitfarbenen Untergrund zu verschmelzen und er registrierte sie erst, wenn er fast auf sie trat. In der gleichen Sekunde flitzten sie mit atemberaubender Schnelligkeit seitlich weg.
Langsam überzog die Abenddämmerung das Land. Es wurde zusehends schwieriger, Details der Umgebung zu erkennen. Den allergrößten Teil der Strecke hin zu der weitläufigen Böschung, die aus der Ebene zu einem Waldgebiet anstieg, hatte MacNeil bereits absolviert. Er mobilisierte alle Kräfte und zog das Tempo an. Mit Erfolg! Gerade als es stockfinstere Nacht wurde, stand er schwer atmend am Fuß des Hanges.
Eine kurze Pause kann ich mir gönnen. Wann, wenn nicht jetzt?, sinnierte er.
Gemächlich ging MacNeil neben einem großen Felsblock, der fast senkrecht in die Höhe ragte, in die Hocke. Nach kurzem Innehalten lehnte er sich rücklings an das Gestein, setzte sich hin und streckte die Beine der Länge nach aus. Er schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und wartete, bis seine Atmung ruhiger wurde.
Nach einer Weile rappelte MacNeil sich auf und stapfte weiter. Langsamer als zuvor, viel langsamer. Das alte Sprichwort von der Hand, die man in der Dunkelheit nicht vor den Augen sehen kann, kam ihm in den Sinn, denn sie beschrieb die Lichtverhältnisse, mit denen er zurechtkommen musste, perfekt. Sorgfältig setzte er einen Tritt vor den anderen, die Hände nach vorn ausgestreckt.
So wird es fast die ganze Nacht dauern, bis ich oben bin.
Gespannt lauschte MacNeil in die Finsternis, um eventuell anpirschende Raubtiere rechtzeitig zu bemerken, denn so ganz traute er Blairs Hypothese vom Aussterben nachtaktiver Fleischfresser in der Ökosphäre nicht.
Mit der Einschränkung der optischen Wahrnehmung ging ein Verlust des Zeitgefühls Hand in Hand. Ob zwei, drei oder fünf Stunden verstrichen waren, entzog sich seiner Kenntnis. Auf einen Blick auf seine Armbanduhr, die über eine Beleuchtung für die Nacht verfügte, verzichtete er bewusst, denn dieser hätte – je nach Ergebnis – unnötigen Frust erzeugen können. Kreatürliche Ängste vor der Dunkelheit nahmen in seinem Denken Gestalt an. Gelegentlich schreckte er zusammen, als er mit den Fingerspitzen einen Felsen ertastete, der seinen Weg nach oben blockierte. Zu allem Überfluss fing es an zu regnen. Der zunehmende Niederschlag ließ den steinigen Boden glitschig werden. Mehr als einmal strauchelte und stürzte MacNeil. Dank seiner geschulten Reaktionen stützte oder rollte er sich jedes Mal behände ab. Auch, wenn er gelegentlich einige Meter hangabwärts purzelte, und sich dabei zahlreiche blaue Flecken am ganzen Körper zuzog, kapitulierte er nicht vor der Herausforderung. Das zähe Vorankommen glich einem niemals enden wollenden Albtraum.
Als seine Zehen nach einer gefühlten Unendlichkeit wieder Erdreich anstelle von Fels berührten, schlug sein Herz schneller – diesmal vor Freude statt vor Anstrengung. Kurz darauf ertastete er mit den Händen zunächst struppige Büsche und dann kleine verkrüppelte Bäume. Vor Erschöpfung konnte MacNeil nicht mehr aufrecht gehen und so krabbelte er auf allen vieren voran.
Nur nicht aufgeben. Wenn ich jetzt anhalte, bleibe ich hier ungeschützt liegen.
Derbes Gras überzog nun das Erdreich. Der Hundeführer, dem das Fassen klarer Gedanken wachsende Probleme bereitete, versuchte, sich daran zu erinnern, wie lange eine Nacht hier unten dauerte. Als es ihm nicht gelang, befürchtete er ebenfalls an dem Aufstieg den Hang hinauf, der ebenso endlos wirkte wie die alles verschlingende Düsternis um ihn herum, zu scheitern. Derartige Grübeleien traten in den Hintergrund, als er merkte, dass der Boden ebener wurde. Zudem nahm die Dichte der Vegetation zu. MacNeils Finger erfühlten einen Baumstamm – dicker und weniger schräg als all jene, denen er zuvor begegnet war. Vorsichtig zog er sich an dem Holz empor. Die ersten Äste sprossen ungefähr in Kinnhöhe aus dem stabilen Holzgewächs.
Die Versuchung, nach oben zu klettern, überwältigte MacNeil fast.
Ich finde einen besseren, ich muss nur ein kleines Stückchen weiter laufen.
Wieder in aufrechter Haltung setzte er den beschwerlichen Marsch fort. Kurz darauf entdeckte er einen vielversprechenden Stamm, dessen unterste Äste deutlich höher lagen – so hoch, dass er sie mit ausgestreckten Armen nicht berühren konnte. MacNeil nickte behäbig, dann umschloss er mit Armen und Beinen den Stamm und schob sich ächzend nach oben. Sobald seine Hand einen stabilen Ast ergriff, ging es leichter. Mit einem Klimmzug wuchtete er den eigenen Körper in die Höhe. Glücklicherweise trug der Ast sein Gewicht. Zunächst blieb er kurz im Geäst hocken, bevor er aufstand. Etwas weiter oben teilte eine Gabelung den Baum. Er hatte gefunden, worauf er gehofft hatte. Kurz darauf saß er im Scheitelpunkt des Stammes, der von hier ab in zwei verschiedene Richtungen in den Himmel wuchs.
Endlich konnte MacNeil seinem überwältigenden Schlafbedürfnis nachgeben. Vorher bedurfte es lediglich einiger Sicherheitsvorkehrungen.
Zunächst musste er an den Gürtel seiner Uniform herankommen, die er unter dem Overall trug. Sorgfältig öffnete er das einteilige Kleidungsstück, stets darauf bedacht, das Gleichgewicht in dieser luftigen Höhe zu halten. Ein Sturz wäre wahrscheinlich fatal. Zentimeterweise schälte er die äußere Kleidungsschicht ab, bis diese nur seinen Körper unterhalb der Hüfte bedeckte. Erst jetzt bemerkte er, wie durchgeschwitzt und vom Regen durchtränkt seine Kleidung war. Ebenso wurde ihm klar, dass ihn das Blätterdach vor dem Regen schützte, den er in den vergangenen Stunden kaum wahrgenommen hatte. Der Niederschlag platschte hoch über ihm auf die Baumkrone. Das Geräusch hatte etwas Beruhigendes, die Lider wollten MacNeil zufallen und fast wäre er eingeschlafen. Er schob die drückende Müdigkeit, die ihm in den Gliedern steckte, beiseite, löste das Koppelschloss, fummelte den Gürtel aus den Ösen und verknüpfte ihn mit dem identischen Gürtel des Overalls. Das fertige Produkt schlang er um den dünneren der beiden Stämme und dann um seine Hüfte. Nun ließ er den Schließmechanismus mit einem beruhigenden Klicken einrasten. Kaum fertig, übermannte ihn der Schlaf …
***
Wo ist mein Kopfkissen? , durchfuhr es MacNeil. Während er mit geschlossenen Lidern die Arme nach selbigem ausstreckte, drang ein zischelndes Geräusch an seine Ohren, begleitet von Schaben und Kratzen. Sein ganzer Körper schmerzte, er fühlte sich wie gerädert. Träge öffnete er die Augen. Er glaubte erst, sein Sehsinn würde ihm einen Streich spielen. Im Zwielicht um ihn herum sprossen Bäume mit riesigen Blättern. Durch die Zwischenräume im Halbdunkel, das die mächtigen Gewächse umfing, drangen zwischen den Wipfeln grelle Lichtbahnen vom Himmel herab, die ihn blendeten. Was war geschehen? Bevor er genauer darüber nachdenken konnte, erklang ein lautes Klatschen und das Bett wurde erschüttert. Da dämmerte ihm, dass es kein Bett war, in dem er ruhte. Schlagartig kehrte seine Erinnerung zurück … die mysteriöse Biosphäre … die Schüsse … der Gewaltmarsch durch die schwarze Regennacht. Erneut fing der Baum an zu schwanken.
Als MacNeil nach unten blickte, sah er eine der räuberischen Echsen, die ihn bislang mit ihrer Anwesenheit verschont hatten. Auf die Hinterbeine gestellt, schmetterte das Reptil seinen Leib, der wie bei einer Schlange glänzte und den winzige, grau und grün gefärbte Schuppen überzogen, gegen den Baumstamm. Der Rumpf der Kreatur maß mindestens zwei Meter, ihr kräftiger Schwanz kam ungefähr auf die gleiche Länge. Aus ihrem massiven Hals ragte ein schmaler, spitz zulaufender Kopf. Aus dem Rachen des waranartigen Geschöpfs züngelte zischend eine raue, am Ende zweigeteilte, Zunge von blauer Farbe. Das Maul säumten zwei Leisten aus spitzen Zähnen, die wirkten, als seien sie bestens zum Herausreißen von Fleisch und zum Brechen und Zermahlen von Knochen geeignet. Die Füße zierten relativ kurze und gerade Krallen. Mit derartigen Gliedmaßen hatte die Evolution das Erklettern von Bäumen für dieses Tier nicht vorhergesehen, also gehörte es zu den Jägern der Ebene und nicht des Waldes. Dies schien ihm jedoch egal zu sein, denn anscheinend zählte es auch die Ausläufer von Wäldern zu seinem Jagdrevier.
Bloß keine Hektik, ermahnte sich MacNeil. Die Echse ist unten und ich bin hier oben. Ich habe genug Zeit, zu überlegen, was ich unternehmen soll. Vielleicht gibt sie ja von selbst auf, wenn sie spitzkriegt, dass ich für sie unerreichbar bin.
Aber das wäre einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein. In der Wirklichkeit verfügte das Tier über reichlich Geduld und dachte gar nicht daran, seine Lauerstellung zu verlassen. Unterdessen absolvierte der Hundeführer Dehnübungen für seine von der unbequemen Nachtruhe verspannte Muskulatur. Danach verspeiste er ein karges Frühstück, bestehend aus zwei Keksen, die er aus der Notfallpackung herausfingerte. Halbwegs gekräftigt ging er daran, den Plan, den er während der Mahlzeit entwickelt hatte, in die Tat umzusetzen. Er schnallte sich los, verstaute die Gürtel in einer Oberschenkeltasche seines Overalls, zog sein Messer, nahm dessen Heft in den Mund und kletterte den borkigen Stamm nach oben, bis er einen geeigneten Ast entdeckte. Mit wenigen kräftigen Schlägen hieb er von zwei verschiedenen Seiten Kerben in das Holz, steckte den Griff der Klinge zurück zwischen seine Zähne, brach den Ast ab und kraxelte damit wieder in die Ausgangsposition. Das hungrige Reptil intensivierte unterdessen die Bemühungen, ihn aus seinem Versteck zu schütteln. Egal, wie sehr der Baum wackelte und vibrierte, MacNeil balancierte die Erschütterungen geschickt aus. Er setzte sich in die Gabel, stutzte den Ast mit dem Messer auf die gewünschte Länge zurecht und befreite ihn von Laub und Zweigen. Um das Messer an einem seiner Enden zu befestigen, benutzte er einen der beiden Gürtel – und schon nannte er einen improvisierten Speer sein Eigen.
Hoffentlich hält die Klinge am Ast, wenn ich damit zustoße.
Der Kopf der Kreatur war in Reichweite. Ein Stich, zwei Stiche, drei Stiche – jedes Mal wich das Tier behände aus. Egal, wie oft MacNeil es probierte, das Ansinnen, das Reptil zu verletzen oder zu verscheuchen, ohne seine sichere Position aufzugeben, scheiterte. Der Hunger band das Tier mit unsichtbaren Ketten an seinen Platz. Ein Umstand, den er möglicherweise ausnutzen konnte. Er holte einen Keks heraus und warf diesen nach unten. Das überraschte Tier schnappte vergeblich danach. Das zweite zugeworfene Backwerk prallte von ihrem Schädel ab.
Aller guten Dinge sind drei.
Und tatsächlich schnappte die Echse den Keks diesmal in der Luft auf. Inzwischen geübt im Fangen, erhaschte das Tier die folgenden drei Kekse und verschlang sie gierig. Nun schleuderte MacNeil einen der Kekse gut zehn Meter weit vom Baum weg. Blitzschnell jagte das Reptil hinterher. Er hopste nach unten, federte geschickt ab und nahm eine geduckte Abwehrhaltung ein, den improvisierten Speer mutig vorgestreckt.
Durch das Aufprallgeräusch alarmiert, wirbelte das Biest herum. Schritt um Schritt kam sie der neuen Beute zischelnd näher, die einiges mehr an Kalorien versprach, als das trockene Gebäck. Die Gegner fixierten einander mit eisenhartem Blick. Wer würde den ersten Angriff wagen?
Fast lautlos sprintete das Reptil vorwärts. MacNeil wich aus und riss ihm den Rücken mit der Klinge auf. Aus der nur mäßig tiefen Wunde rann rostrotes Blut. Es bedurfte nur einer kurzen Drehung der Echse, dann folgte die zweite Attacke. Der Hundeführer stieß zu, bevor das Tier seine Beine erreicht hatte. Er legte alle Kraft und Wucht, die ihm zur Verfügung stand, in den Stoß. Das Messer an der Spitze des Astes drang hinter dem Hals des Räubers, auf den er eigentlich gezielt hatte, tief in das Fleisch ein. Das geschuppte Biest drehte und rollte sich auf die Seite, dabei wurde MacNeil der improvisierte Speer aus den Händen gerissen.
Der Waran kam wieder auf alle vier Beine und flüchtete auf einen Abstand von gut fünfzehn Metern, bevor er erneut die Konfrontation suchte. Vorsichtig umkreiste er MacNeil in enger werdenden Bahnen. Nur noch einen Meter entfernt, holte er mit dem Schwanz zu einem gewaltigen Schlag aus, der den Menschen von den Beinen fegte. Dieser schlug mit dem Hinterkopf fast auf einen mehr als faustgroßen Stein auf. Dann war die Bestie über ihm. Ihre gespaltene Zunge züngelte über seinem Gesicht, fauliger Atem wehte ihm in die Nase. Das spitze Maul ging weit auf und raste direkt auf ihn zu. Instinktiv ergriff er den neben seinem Kopf befindlichen Stein und rammte ihn der Bestie in den Rachen, so tief es nur ging. Erst mit einer, dann mit beiden Händen drückte er den Klumpen so tief wie möglich in ihren Hals hinein. Während die Echse würgend versuchte, den Fremdkörper auszuspucken, sprang MacNeil auf und zerrte den Speer aus ihrem Rücken. Dann stach er damit seitlich in den Schädel der Kreatur, die unter letzten Zuckungen und Spasmen ihr Leben aushauchte.
Erst einige Momente später fand die Erkenntnis, wie knapp er eben dem Tod von der Schippe gesprungen war, Einzug in MacNeils Bewusstsein. Mit dem Nachlassen der Spannung spürte er die Schmerzen der Prellung am Rücken, die er sich bei dem Sturz durch den Echsenangriff zugezogen hatte. Schlimmer noch – der Schlag, den das Reptil mit dem Schwanz ausgeteilt hatte, hatte sein rechtes Bein ordentlich erwischt. Es würde mit Sicherheit grün und blau werden. Und zur Krönung des ganzen Malheurs hatte er fast die Hälfte der nährstoffreichen Kekse verbraucht, die ihn auf seinem beschwerlichen Weg mit Energie versorgen und ernähren sollten. Vorsichtig schlurfte er den weichen Waldboden ein paar Schritte entlang. Das verwundete Bein ächzte bei jeder Berührung seines Fußes mit dem Boden qualvoll auf. Zumindest konnte er es belasten. Hoffentlich lange und stark genug!
Jammern nutzt mir wenig. Ich muss in Bewegung bleiben. Wenn der Körper zu versagen droht, muss es der Wille richten. Mein Ziel habe ich klar vor Augen: den Ausgang hin zur Oberfläche.
Er zog den Speer aus dem Kadaver und schritt Richtung Süden voran. Das Tempo des Vortages konnte er unter den gegebenen Umständen nicht mehr einhalten. Die richtige Richtung zeigte ihm der Moosbewuchs der Bäume.
Das Vorankommen gestaltete sich im Laufe des Tages immer schwieriger. Dichter werdendes Unterholz versperrte ihm den Weg. Er musste über gefallene Bäume klettern oder sich den Weg mit dem Messer freischlagen, das er zu diesem Zweck von dem improvisierten Speer gelöst hatte. Ungeachtet der Anstrengungen stakste MacNeil – unterbrochen von wenigen Erholungspausen – bis zum Hereinbrechen der Dunkelheit weiter. Zusehends forderte die Erschöpfung ihren Tribut. Schwäche und Müdigkeit nisteten sich in ihm ein, das Fassen klarer Gedanken gelang ihm nur mit Mühe. Er funktioniere einfach nur, fast wie eine seelenlose Maschine, aber er hielt durch, solange es hell blieb.
Die Nacht verbrachte er in bewährter Manier wohlbehütet in einer Baumgabel.
Als er mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte, setzte er den Marsch fort.