Das sowjetische Einsatzkommando hatte in der unterirdischen Station keine Zeit auf die Erforschung ihrer technischen Wunderwerke verschwendet. Jekaterina Rachmaninowa hetzte durch die Räumlichkeiten, bis sie den Aufzug gefunden hatte, dessen Funktionsweise sie erstaunlich schnell entschlüsselte. Ihr vorrangiges Ziel war die Egalisierung des Vorsprungs der Amerikaner um jeden Preis.
In der Ökosphäre angekommen, stieß die Expedition rasch auf den deutlich sichtbaren Spuren des US-Teams bis in die Ausläufer des Urwalds vor und erreichte am zweiten Tag genau wie dieses den Sumpf.
Dort beorderte die Polit-Offizierin die Zugführer Lukassow und Sorokin zu einer Besprechung. Die Brust herausgedrückt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt, instruierte sie die beiden Unteroffiziere bezüglich des weiteren Vorgehens: »Die Deckung, die uns der Urwald bietet, ist zu wichtig, um sie aufzugeben; direkt durch den Sumpf zu marschieren ist zu riskant. Also umgehen wir den Morast innerhalb des Dschungels. Da wir bisher kaum etwas über die Ebene wissen, schicken wir einen Zwei-Mann-Spähtrupp aus, der den Sumpf von der entgegengesetzten Seite umrundet und dabei Aufklärung leistet. Der Trupp muss sich bei seinem Vorstoß unsichtbar machen. Wählen sie zwei Genossen aus, die besonders erfahren im Ausführen von Spähaufträgen sind.«
***
Das Los war auf Frolow und Kusmin gefallen, die ihre Helme zur Tarnung mit breitblättrigen Farnwedeln ausstaffiert hatten.
Sie kamen nur langsam voran, da sie die Strecke, um nicht aufzufallen, hauptsächlich auf dem Boden robbend bewältigen mussten. Diese kräftezehrende Art der Fortbewegung zwang sie immer wieder, Erholungspausen im Schutz von Sträuchern und Felsbrocken einzulegen. Von den Amerikanern fanden sie keinerlei Anzeichen. Die einzigen feststellbaren Aktivitäten äußerten sich in zweibeinigen, langhalsigen Geschöpfen, die teils allein – teils in Gruppen – das Grasland bevölkerten. Die Tiere blieben den beiden Menschen jedoch fern.
»Das könnten fast Strauße sein«, meinte Frolow. »Das sind Laufvögel. Ich hab die letztes Jahr bei einem Besuch im Moskauer Zoo gesehen. Warst du mal dort?«
»Nee«, antwortete Kusmin. »Ich interessiere mich nicht für Tiere, außer wenn sie lecker zubereitet auf den Teller kommen.«
»Hm«, äußerte Frolow. »So ein gegrillter Vogel wäre eine willkommene Abwechslung zu dem ewig gleichen Armeefraß. Der hängt mir echt zum Hals raus.«
Die Männer lachten trocken.
Als es dämmerte, bezogen die beiden Soldaten ihr Nachtlager mitten in einer dichten Gruppe von Sträuchern, die sie vor neugierigen Blicken verbarg.
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Der sowjetische Haupttrupp arbeitete sich zeitgleich zu den Spähern durch den unwegsamen Urwald vor. Eine Mischung aus dem Duft von Harzen, Blüten und dem feuchten, von Nadeln und Blättern bedeckten Boden, stieg den Soldaten in die Nase. Im nahegelegenen Sumpf quakten Heerscharen von Fröschen. Mancherorts verliefen Spinnweben zwischen den Zweigen der Farne und Bäume.
Nach einigen Stunden betrat Lukassow, der Führer des vorderen Zugs, eine Lichtung, deren Boden aus blankem Erdreich bestand. Verschiedene nicht definierbare tierische Fußabdrücke und Schleifspuren bewogen ihn dazu, auf Rachmaninowa zu warten, damit sie entscheiden konnte, ob die Lichtung auf geradem Weg überquert oder umgangen werden sollte.
Ihr Entschluss lautete, auf der freien Fläche Rast zu machen. Einige der Männer setzten sich direkt am Rand der Lichtung hin, aßen, tranken oder rauchten. Die anderen gingen einige Schritte weiter.
Staub, Erde und Laub wirbelten auf, als der erste Soldat in der Mitte der Lichtung eintraf. Ein Skorpion von über einem halben Meter Länge hatte sich in einer selbst gegrabenen Höhle versteckt auf Beute gelauert. Sein Schwanz schoss blitzartig auf den Mann zu, bohrte sich durch den Stoff der Uniformhose in dessen Oberschenkel und verspritzte sein Gift.
Lukassow zog die Dienstpistole und schickte sich an, auf die Bestie zu schießen. Sorokin packte ihn am Unterarm und hielt ihn davon ab. Dann kümmerte er sich selbst um den in einer Notlage befindlichen Kameraden, aus dessen Mund Schaum quoll, während er umkippte. Der Skorpion war vollständig auf seine Beute fixiert und fing an, den Soldaten mit seinen Greifzangen in sein unterirdisches Reich zu verschleppen. Sorokin schlich sich von hinten an den Gliederfüßer, ergriff seinen Schwanz mit der linken Hand und säbelte den Giftstachel mit dem Messer ab. Dann hechtete er auf den Rücken der Kreatur und rammte ihr die Stichwaffe tief in den chitingepanzerten Schädel. Während die Kreatur verendete, rief Sorokin: »Sanitäter!«
Zwei Mann eilten herbei und verabreichten dem Gestochenen Spritzen mit Medikamenten zur Stabilisierung des Herz-Kreislauf-Systems und blutdrucksenkende Mittel. Alle Anstrengungen waren umsonst – ihr Patient starb nach wenigen Minuten an Herzversagen und konnte weder durch eine Herzdruckmassage noch durch eine Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbelebt werden.
Rachmaninowa schnaubte vor Wut und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Die Pause ist gestrichen. Wir marschieren sofort weiter. Lasst den nichtsnutzigen Kerl da liegen, wo er ist. Für eine Bestattung fehlt uns die Zeit.«
Niemand wagte zu widersprechen.
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Frolow und Kusmin hatten den ganzen Vormittag damit zugebracht, sich bäuchlings kriechend meterweise vorzukämpfen. Vor ihnen ragte nun ein von mehreren Sträuchern umsäumter, gut zweieinhalb Meter hoher Felsbrocken auf.
»Zeit für ein Päuschen«, regte Frolow an.
»Ganz meine Meinung, Genosse«, pflichtete ihm sein Kamerad bei.
Am Fuß des Felsens spürten sie eine zwei Handbreit tiefe Kuhle auf, angefüllt mit Laub und einem halben Dutzend Eiern.
»Sind das dicke Dinger«, staunte Frolow.
Kusmin rieb sich den Bauch. »Die schmecken bestimmt besser als der Einheitsbrei, mit dem wir uns normalerweise begnügen müssen.«
»So ist es, so ist es. Aber wie sollen wir sie zubereiten? Wir haben keine Pfanne und wenn wir ein Feuer anzünden, verarbeitet uns die Genossin Politoffizier zu Hackfleisch.«
»Bei uns daheim in der Mongolei schlürfen wir rohe Eier aus. Das klappt bestimmt auch mit denen hier.«
Frolow kicherte. »Na, dann nichts wie ran an den Speck.«
Kusmin hob ein Ei auf, bohrte mit der Spitze seines Messers ein kleines Loch in die Schale, gab es Frolow und sagte: »Warte, bis ich auch so weit bin.« Dann verfuhr er mit einem zweiten Ei auf die gleiche Weise. »So und jetzt stoßen wir an. Na sdorówje, Brüderchen.«
Die zwei prosteten sich mit den Eiern zu, hoben sie vor ihre Gesichter und kippten sie so, dass ihnen nach einem kurzen Ansaugen das flüssige Eiweiß und der Dotter in die Kehlen rann.
Ein lautes Fauchen störte den Genuss. Als sie die Eier absetzten, sahen sie den Verursacher – es war eine der Kreaturen, die aus der Distanz wie Laufvögel gewirkt hatten.
Der kleine, zweibeinige Dinosaurier wog ungefähr fünfzehn bis zwanzig Kilogramm und erreichte eine Schulterhöhe, die gut zehn Zentimeter über den Knien der Rotarmisten lag. Sein Schädel war rosa und hinter dessen Ansatz umlief ein Ring aus einem imposanten braunen Gefieder den Hals. Was die zwei Rotarmisten nicht wussten, war, dass es sich um einen Velociraptor handelte. Aus hervorquellenden, grünen Augen funkelte der Theropode die Nesträuber zornig an. An seinem Rumpf und an den Beinen wuchs ein Flaum aus kleineren, weichen Federn. Die dreigliedrigen Greifhände endeten in schwarzen, gekrümmten Krallen, die in der Länge mindestens zehn Zentimeter maßen.
»Ich hab schon fetteren Mastgänsen den Garaus gemacht«, prahlte Kusmin und schmiss sein zur Hälfte geleertes Ei achtlos auf die Erde. Beim Aufprall zerplatzte die Schale und der restliche Inhalt verspritzte. »Ich dreh dir die Gurgel um, blödes Mistvieh. Was fällt dir ein, uns so frech anzufauchen?«, beschwerte er sich und rückte auf den Saurier vor.
Die Echse schnellte seinem ausgestreckten Arm entgegen und biss ihm mit Ausnahme des Daumens sämtliche Finger der rechten Hand ab. Kusmin starrte die blutigen Gliedmaßen entgeistert an. »Was … was …?«, stammelte er mit schriller Stimme.
Frolow schleuderte das Ei zur Seite, ergriff die Kalaschnikow, die am Trageriemen über seiner Schulter hing, brachte sie in Anschlag und feuerte eine Garbe auf das urweltliche Wesen ab. Die auftreffenden Projektile erzeugten rote Sprühnebel. Aufgrund der geringen Distanz, aus der sie abgeschossen wurden, durchschlugen die meisten den Körper des Sauriers, der stehenden Fußes zusammensackte. »Schnell, wir müssen deine Hand verbinden.«
Dazu war es zu spät. Überall in den Sträuchern raschelte und fauchte es, als das gesamte Rudel der kleinen Raubsaurier wie eine Sturzflut auf die Soldaten losbrandete. Sie rissen Kusmin um und fraßen ihn bei lebendigem Leib. Frolow versuchte zu fliehen und den Felsen zu erklettern, doch seine Verfolger kannten keine Gnade. Sie verbissen sich in seinen Schenkeln und zerrten ihn nach unten. Als ihm einer der Angreifer in den Rücken sprang und sich dort mit seinen spitzen Krallen festklammerte, stürzte Frolow auf den Boden, wo ihm das gleiche, gnadenlose Schicksal wie seinem Kameraden blühte.
***
Am zweiten Tag nach der Entsendung des Spähtrupps zuckte Jekaterina Rachmaninowa zusammen, als sie Schüsse hörte – Schüsse, die eindeutig aus einer AK-47 abgegeben worden waren.
Frolow und Kusmin, diese Idioten. Jetzt wissen die Yankees, dass wir hier sind, dachte sie. Das Überraschungsmoment können wir vergessen.
Die Mundwinkel grimmig nach unten verzogen, bedeutete sie mit einem stummen Wink zwei Soldaten, die stehen geblieben waren und lauschten, weiterzugehen.
Später erhaschte Sorokin, der Führer des zweiten Zugs, aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Himmel. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er zwei Flugechsen. Mit den Vögeln der neuzeitlichen Erde hatten diese nur wenig gemein. Auf kräftigen, von Knochen umsäumten, steifen Flügeln, die wie Leder, das man auf einen Rahmen aufgespannt hatte, anmuteten, glitten sie durch die Luft. Fast konnte man meinen, es mit Segelflugzeugen zu tun zu haben. Der Zugführer schätzte ihre Spannweite auf zwei Meter. Statt Schnäbeln hatten sie langgestreckte Schnauzen; in ihren Mäulern blitzten bedrohlich scharfe Zähne.
Eine Kalaschnikow bellte und einer der Flugsaurier kreiselte getroffen zu Boden. Eine zweite Salve durchlöcherte die Schwingen der anderen Echse, woraufhin diese mit dem Geäst eines Baums kollidierte, sich darin verhedderte und schließlich ihr Leben aushauchte.
Mit hochrotem Hals und Wangen stapfte Rachmaninowa zu dem Mann, der die Nerven verloren und den Abzug seiner Waffe gedrückte hatte. Sie verpasste ihm rechts und links eine Ohrfeige. Dann brüllt sie: »Jetzt kennen die Amerikaner nicht nur den Standort des Spähtrupps, sondern auch noch unseren eigenen. Falls unser Auftrag wegen Ihrer Unfähigkeit scheitert, können Sie sich schon jetzt darauf vorbereiten, Ihren Lebensabend zusammen mit Frolow und Kusmin bei harter Arbeit in Sibirien zu verbringen.«
Ohne ihm die Chance zu einer Rechtfertigung einzuräumen, fügte sie an alle gewandt hinzu: »Abmarsch! Sofort!«
***
Gegen Abend hatte das sowjetische Einsatzkommando den Sumpf fast umrundet. Es galt lediglich, noch einen Teich zu passieren, dann wäre es wieder auf der alten Route am Dschungelrand.
Die Soldaten marschierten in einer langgezogenen Reihe mit größeren Abständen am Ufer vorbei, da zersplitterte einer der umstehenden Bäume unter einem ohrenbetäubenden Knacken und kippte mitten zwischen die Marschkolonne. Plötzlich war die Sicht auf den gewaltigen Jäger frei, der dahinter auf Beute spekuliert hatte. Der Raubsaurier stand auf zwei kräftigen Hinterbeinen; seine Füße wiesen drei Zehen mit kaum gekrümmten Krallen auf. Auf seinem Rücken erhob sich vom Schädelende bis zur Schwanzwurzel ein gewaltiges, giftgrünes Hautsegel. Seine boshaften Augen waren leicht rötlich, ebenso die Backenpartien. Sein relativ schmaler Kopf maß in der Länge deutlich über drei Meter und ähnelte denen neuzeitlicher Krokodile. In seinem aufgerissenen Maul verkündeten mörderische, gerade zulaufende Zähne, deren Länge und Dicke einem menschlichen Unterarm glichen, Tod und Verderben. Mit ihren Augen, die in ungefähr sieben Metern Höhe thronten, musterte die Echse die Zweibeiner am Ufer. Zwar passten deren Aussehen und Geruch nicht in ihr übliches Beuteschema, dennoch schienen die fremdartigen Geschöpfe trotz ihrer moderaten Größe eine geeignete Zwischenmahlzeit abzugeben.
Bedächtig schritt der Saurier auf den freien Uferstreifen.
Die Soldaten verharrten von seinem Anblick wie gebannt an Ort und Stelle. Keiner gab einen Schuss ab, denn alle fürchteten sich vor den Konsequenzen, die seitens der Polit-Offizierin den Verantwortlichen für eine solch unüberlegte Handlung in Aussicht gestellt worden waren.
Der gigantische Theropode hielt kurz vor einem der Soldaten an. Blitzartig stülpte das Ungeheuer sein Maul über den Mann. Die Kiefer umfassten ihn bis zu den Knien. Dann warf die Kreatur ihr Haupt in den Hals und schlang ihr Opfer unter Kontraktionen der Halsmuskelstränge herunter, ohne dabei zu kauen. Der Soldat bewegte unterdessen seine Beine vor und zurück, als hätte er die Chance, noch irgendwie vor dem Tod davonzurennen.
»Schießt, ihr Schwachköpfe!«, brüllte Rachmaninowa, zog die Pistole und eröffnete das Feuer.
Die Formation der Soldaten zerfiel in ein heilloses Durcheinander. Manche flüchteten in den Urwald, andere nahmen den Kampf mit dem Saurier auf. Der stets geistesgegenwärtige Sorokin verschoss aus seiner Kalaschnikow ein komplettes Magazin auf die Bestie, klinkte es aus und führte ein neues ein, nur um den Beschuss unermüdlich fortzusetzen.
Aufgrund der ungewohnten Situation geriet der Saurier in Panik und trampelte los. Er trat einem der fliehenden Soldaten auf die Beine, die anschließend wirkten, als sei eine Dampfwalze darüber hinweggerollt. Die unteren Extremitäten des Mannes hatten sich ab der Hälfte der Oberschenkel in einen matschigen Brei aus Fleisch, Muskeln, Gewebe und Knochenbruchstücken verwandelt, die weiß aus der amorphen Masse hervorlugten.