Kapitel 13

 

Mark MacNeil spähte über die Kante des Einschlagskraters. Weit und breit rührte sich nichts. Er kletterte nach oben und schon rannte ihm Kenai schwanzwedelnd entgegen. Der Leitrüde schmiegte sich an die Beine seines Herrchens. Glücklich über das Wiedersehen streichelte MacNeil seinen besten Freund.

Ein gutes Stück den Abhang hinab kontrastierten zwei graue Schemen stark mit dem allumfassenden Weiß der Landschaft – die beiden Schneemobile der Sowjets. Während sich der Rest des Hunderudels zu MacNeil gesellte, marschierte er auf die Fahrzeuge zu, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Ringsum konnte er außer sich selbst keinen anderen Menschen ausmachen. Am ersten Charkowtschanka prüfte er die äußere Schleusentür am Heck auf eine Verriegelung. Er fand sie offen, ebenso wie die innere Schleuse, die den Weg in den Mannschaftsraum des Fahrzeugs freigab. MacNeil verließ das Schneemobil, um von außen in die Fahrerkabine zu gelangen. Als er sich einige Schritte von der Schleuse entfernt hatte, um das Fahrzeug zu umrunden, hörte er einen dumpfen, vom Schnee gedämpften Aufschlag in seinem Rücken. Jemand brüllte mit einem derben, russischen Akzent auf Englisch »Hände hoch«, ehe es MacNeil gelang sich nach hinten umzudrehen. Über seine Schulter sah er den sowjetischen Soldaten mit der Maschinenpistole im Anschlag, der auf dem Dach gelauert und auf die Gelegenheit gewartet hatte, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen.

Scheiße, jetzt bin ich echt im Arsch, durchzuckte es MacNeil.

Der Soldat kam näher, um ihn von hinten auf verborgene Waffen abzutasten und um ihn danach zu fesseln.

Plötzlich segelte eine grau-weiße Silhouette durch die Luft und riss den Russen von den Beinen. Er schrie vor Schmerz und betätigte im Fallen den Abzug. Die abgefeuerte Salve pfiff, ohne Schaden zu verursachen, in den Polarhimmel.

MacNeil wirbelte auf dem Absatz herum. Kenai hatte sich im Unterarm des Rotarmisten verbissen und ließ nicht locker. Der rücklings auf dem Boden liegende Mann versuchte, die Waffe mit der freien Hand auf den Hund zu richten, doch da war MacNeil schon bei ihm, rang ihm die Maschinenpistole mit roher Gewalt aus den Fingern und setzte sich auf seinen Bauch.

Kenai schien zu glauben, sein zweibeiniger Freund hätte die Situation im Griff, da er obenauf war, und gab den Soldaten frei. Dessen Hände schossen in die Höhe, umfassten MacNeils Kehle und drückten gnadenlos zu. Zugleich stemmte er die Hüfte ruckartig hoch, um den Hundeführer abzuwerfen – doch dieser Versuch war vergeblich. Stattdessen kippten die Kontrahenten nach rechts und rollten ineinander verschlungen über den Schnee. Nun hatte der Russe die Oberhand gewonnen, hockte auf MacNeils Bauch und drückte ihm die Gurgel immer fester zu, in der Absicht ihn schnellstmöglich zu erwürgen. Aus MacNeils Mund quoll ein krankhaft klingendes Röcheln und mit letztem Einsatz rollte er auf die Seite, sodass die beiden Männer nebeneinander lagen. MacNeil gab den Versuch, den Griff seines Feindes um seinen Hals zu lockern, auf und drückte stattdessen das Gesicht des Manns in den Schnee. Ohne vernünftig atmen zu können und bedingt durch die Bissverletzung am Unterarm, versiegte die Kraft des Soldaten rasch. Zudem beteiligte sich Kenai wieder am Kampf und schnappte immer wieder in die schutzlosen Beine des Rotarmisten. Dessen Finger erschlafften und MacNeil presste sein Gesicht so lange in den Schnee, bis er sich sicher sein konnte, ihn erledigt zu haben.

MacNeil saß schwer atmend im Schnee. Sein Puls war so hoch, dass er fürchtete, es werde ihm den Brustkorb zerfetzen. Mit einem sanften Tätscheln bedankte er sich bei Kenai, denn ohne die Unterstützung des treuen Vierbeiners hätte er keine Chance gehabt, der Falle zu entkommen.

Wieder bei Kräften, und nun mit einer Maschinenpistole bewaffnet, inspizierte MacNeil das zweite Schneemobil. Dankenswerterweise hatten die Sowjets nur einen Mann zur Bewachung der Fahrzeuge postiert.

Wie zuvor bei dem Kampf auf Leben und Tod funktionierte der Hundeführer noch immer wie eine Maschine. Er aß und trank eine Kleinigkeit und fütterte sein Rudel. Die Schlitten und die Ausrüstung des US-Teams waren unberührt – sei es, weil die Sowjets in Eile gewesen waren oder weil sie geglaubt hatten, dadurch der von ihnen gestellten Falle größere Authentizität zu verleihen.

Nun galt es, die Ankunft seines restlichen Teams abzuwarten. Da die Sowjets nur mit zwei Kettenfahrzeugen aufgetaucht waren, konnte ihr Trupp nicht allzu groß sein, sodass der Colonel und seine Leute eine realistische Chance haben sollten, ihnen zu entkommen. Wahrscheinlich würden sie schon bald hier sein.

Die Zeit verstrich zäh wie Kaugummi und in MacNeils Verstand fing es an zu arbeiten. Seine Gedanken rotierten. Was hatte er bloß getan? Nie wieder wollte er für den Tod eines Menschen verantwortlich sein, doch gerade eben hatte er erneut einen Menschen getötet. Diesmal jedoch nicht durch Unterlassung und der Tote war auch nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er hatte den Russen mit bloßen Händen ins Jenseits befördert. MacNeil musste heftig schlucken. Wie sollte er mit dieser Schuld leben?

Andererseits hatte der Mann ihm ebenfalls nach dem Leben getrachtet und war es nicht das Recht eines jeden Menschen, sich zu wehren? Wenn es sein musste, sogar mit allen Mitteln und allen Konsequenzen? Hätte er nicht getan, was er getan hatte, läge er jetzt vielleicht selbst als Leiche im Schnee. Oder er wäre gefangen genommen worden, und die Russen hatten den Ruf, mit Feinden, die in ihre Fänge gerieten, alles andere als zimperlich umzugehen.

So schwer ihm die Last seiner Tat auch auf der Seele lasten mochte, er hatte richtig gehandelt und – egal, wie er es drehte und wendete – er musste sich nicht dafür schämen.

MacNeil lächelte schief und kraulte Kenais Nacken. Die Ankunft seiner Gefährten ließ derweil weiter auf sich warten.

Nach all dem Stress und der Anspannung auf dem Weg hierher und dem anschließenden Kampf, hatte MacNeil durch das Warten nach langer Zeit endlich wieder die Muse, über das große Ganze der Expedition zu reflektieren. Was würde passieren, wenn das Militär die Technologie der Außerirdischen in die Gewalt bekam? Würde es diese Macht mit Bedacht nutzen oder würde es sich dazu verleiten lassen, im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit, den dritten Weltkrieg vom Zaun brechen? Falls sie in ihrem Größenwahn und ihrer Skrupellosigkeit diesen fürchterlichen Fehler begingen, würde das dabei entfachte Feuer wahrscheinlich nicht nur die USA und Russland verschlingen, sondern den gesamten Globus. Ein solcher Weltenbrand vermochte das Ende der Menschheit einzuläuten.

Und was sollte aus den urzeitlichen Tieren der Ökosphäre werden? Wenn er das Hauptquartier benachrichtigte, wäre es um ihr bisheriges Dasein fraglos geschehen, und statt frei zu existieren, würden Wissenschaftler sie zu Studienobjekten in Laboren degradieren. Allein das wollte und konnte MacNeil nicht zulassen, falls er die Chance dazu hätte.

Mit grimmiger Miene stand er auf, stapfte zu den Schlitten und öffnete Myers Waffenkiste. Neben Unmengen an Sprengstoff fand er darin eine Remington Pumpgun Modell 870. Genau das Richtige! Er lud sie mit Patronen, die Schrotkugeln vom Durchmesser 8,5 Millimeter enthielten. Damit hatten die Geschosse eine enorme Vernichtungskraft.

Dann legte er die Pumpgun wieder in die Kiste, schnallte das Funkgerät vom Schlitten ab und schleppte das unförmige Ding zehn Meter weit in den Schnee. Zurück am Schlitten nahm er die Waffe und ging ein kleines Stück auf das Funkgerät zu. Er feuerte die Remington dreimal ab. Als die Schrotkugeln einschlugen, stoben Funken aus dem Kurzwellengerät auf und kleinere Trümmer und Einzelteile flogen durch die Gegend. Befriedigt lief er zum Ziel der Schüsse und trat wutschnaubend gegen den zerstörten, technischen Apparat. Mit dem zurückbleibenden Schrotthaufen würde niemand mehr das Hauptquartier informieren – weder Myers noch sonst jemand.

Nur, wie sollte er Myers seine Entscheidung beibringen? Vielleicht konnte er Amanda überreden, den Colonel zu umgarnen und sein Vorhaben zu decken. Wenn jemand die Chance dazu hatte, dann die attraktive Biologin. Aber um ehrlich zu sein, wusste der Hundeführer nicht einmal, ob Amanda und Olsen seinen Plan, die Entdeckung der Ökosphäre um jeden Preis zu verheimlichen, billigten. So unklar die Zukunft sein mochte, eines war gewiss: Er hatte sich eine Menge Ärger eingehandelt. Der Colonel hasste ihn jetzt schon, was zugegebenermaßen auf Gegenseitigkeit beruhte, und die Missachtung seiner Anweisung und die Vernichtung des Funkgeräts würden die angespannte Situation verschärfen. Zumindest hatte MacNeil noch Zeit bis zu ihrem erneuten Zusammentreffen, um eine wirksame Strategie für den drohenden Konflikt zu entwickeln.

Also setzte er sich auf einen der Schlitten und grübelte nach. Der Anblick der Leiche des sowjetischen Soldaten beraubte ihn der Konzentration auf das Eigentliche. Immer wieder suchten seine Augen den Toten, bis er dessen Anblick nicht mehr ertragen konnte. MacNeil seufzte, wickelte die Leiche in eine Decke ein und bedeckte sie mit Schnee. Nun konnte er besser nachdenken. Auf eine andere Idee, als Amanda für seinen Plan einzuspannen, kam er dennoch nicht.

Allmählich verblich das letzte Licht der untergehenden Sonne. MacNeil begab sich für die Nacht in eines der Schneemobile. Kenai und Tinkerbell leisteten ihm dabei Gesellschaft. Vorsorglich verriegelte er die Tür von innen, für den Fall, dass die Russen in der Dunkelheit an die Oberfläche zurückkehrten.

Am nächsten Morgen war weiterhin kein Zeichen von Myers, Jones, Amanda und Olsen zu sehen. Langsam kam ihm die Sache suspekt vor. Unruhig wie ein Tiger im Zoo streunte er in einer Dauerschleife im Kreis durch den Schnee. Wenn es keine Schwierigkeiten mit dem sowjetischen Kommando gegeben hätte, hätten die anderen längst bei ihm sein müssen. Kurzentschlossen frischte MacNeil seine Vorräte an Wasser und Nahrungsmitteln auf und stopfte seine Taschen mit Patronen für die Pumpgun voll. Es schien, als sollte es seine Aufgabe sein, dem überfälligen Rest des US-Teams aus der Patsche zu helfen. Hoffentlich waren sie nicht in Gefangenschaft geraten. Das wäre neben ihrem Tod die schlimmste, vorstellbare Option.

Nachdem er die Hunde gefüttert hatte, trat er zu allem entschlossen den Rückweg nach unten an. Ohne den Umweg durch den Dschungel und über die Geröllebene, konnte er es auf der Grasebene mit nur einer Übernachtung schaffen, an den Ort zurückzukehren, an dem er sich von seinen Mitstreitern getrennt hatte. Hoffentlich kam er nicht zu spät.