Kapitel 14

 

»Und jetzt Olsen, gehst du zu Colonel Myers rüber und nimmst ihm das Messer und die Pistole ab. Danach öffnest du seinen Gürtel und ziehst seine Hose bis zu den Knöcheln runter. Bitte ohne die Unterhose. Diesen Anblick möchte ich uns ersparen. Sobald ich Bescheid gebe, verschränkt er langsam die Hände hinter dem Rücken und du wirst ihn an den Handgelenken fesseln.«

»Ma’am«, flüstere Myers mit flehender Stimme.

»Kein Ma’am. Mund halten und tun, was ich sage. Das kennen Sie doch von der Army.«

In Myers tobte ein Gedankenorkan. Olsen, diesem verkappten Kommunistenfreund hätte er eine derartige Hinterhältigkeit jederzeit zugetraut. Aber Doktor Blair? Dieser jungen Frau, die einen so rechtschaffenen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte – von ihr hätte er so etwas nie und nimmer erwartet.

Als Olsen ihn gefesselt hatte, überprüfte die Verräterin den Sitz der Fessel, ehe sie ihn ohne viel Federlesens zu Boden stieß, wo er nun mit dem Rücken an die Wand gelehnt dasaß. Myers fühlte sich wieder genauso hilflos wie im Sanatorium. Alles wurde plötzlich so konfus. Was war Vergangenheit und was Gegenwart?

Plötzlich wurde Amanda freundlicher und bot ihm etwas zu trinken aus der Feldflasche an. Sein Mund war staubtrocken und er trank gierig. Dann verschwand sie aus der Höhle. Nach etwa zwanzig Minuten ergriff eine tiefe Müdigkeit Besitz von Myers. Kurz bevor er einschlief, kam die Biologin zurück und stellte ihm Fragen über das Gefecht mit den Russen und den Verbleib von Jones.

Im Gegenzug beantwortete sie seine Frage nach dem Dinosaurier, dessen trauriges Schicksal noch immer an ihm nagte.

»Spinosaurus. Das war ein Spinosaurus. Es wäre wirklich traurig, wenn es sich bei ihm tatsächlich um den Letzten seiner Art gehandelt hätte.«

Dann dämmerte der Colonel weg.

Die Biologin kramte aus einem der Rucksäcke die Leuchtpistole hervor und schoss eine Kugel, die in einem grünen Feuerball explodierte, in den Himmel. Ganz so, wie es ihr der Verbindungsmann des KGB vor ihrer Abreise in die Antarktis aufgetragen hatte.

Amanda seufzte. Sie hatte eine Feldflasche voll mit Flusswasser, das sie chemisch gereinigt und von Bakterien befreit hatte, mit einer Dosis Librium versetzt. Das Benzodiazepin würde dafür sorgen, dass der Colonel einige Stunden schlummerte. Optimalerweise hielt die Wirkung bis zum Eintreffen der Sowjets an.

Wie sie mit dem Colonel verfahren war, schmeckte ihr gar nicht, da es ihrem Weltbild und ihrer Vorstellung von sich selbst fundamental widersprach.

Ich darf mich nicht von Zweifeln überwältigen lassen, ermahnte sie sich selbst.

Sie setzte sich vor den Eingang der Höhle und ihre Gedanken schweiften zu den Ereignissen, die sie zu ihrem Tun inspiriert hatten. Als Olsen ihr ein Gespräch aufdrängen wollte, bat sie ihn, zu schweigen, und schickte ihn weg. Ihre Gedanken drifteten in die Vergangenheit ab.

 

***

 

Sie hatte Rodrigo in einem Seminar zur Röntgendiagnostik kennengelernt. Zuerst hatte sie den jungen Mann, der ein stark akzentuiertes Englisch sprach, alles andere als sympathisch gefunden. Während er Anschluss an die Gruppe suchte, wurde er instinktiv von den anderen gemieden.

Unwillkürlich hatte sie angefangen, ihn zu beobachten. Obwohl er im Rahmen eines Stipendiums an der Hochschule studierte, erbrachte er nur durchschnittliche Leistungen. Als er gegen Ende des Semesters für fünf Wochen in den Vorlesungen fehlte, stellte sie fest, dass sie ihn auf gewisse Weise vermisste, und dieses Gefühl irritierte sie.

Plötzlich tauchte er im nächsten Semester wieder auf, als sei er nie verschwunden gewesen.

Amanda entdeckte ihn tags darauf allein an einem Tisch sitzend in einem Café außerhalb des Campus. Sie setzte sich zu ihm und im Laufe des darauffolgenden Gesprächs lernte sie ihren Kommilitonen von einer neuen, bis dahin unbekannten Seite kennen: Als einen Menschen, der mitreißend erzählen konnte und sich für revolutionäre Ideen begeisterte. Sie unterhielten sich so lange, bis das Café schloss und verabredeten sich für den nächsten Tag zum gemeinsamen Mittagessen in der Mensa.

Schon bald folgten weitere Treffen, bei denen Rodrigo sich als überaus belesen und kunstbegeistert entpuppte. Zudem war er ein begnadeter Tänzer, der Amanda in die Welt der lateinamerikanischen Tänze entführte.

Vor dem Semesterende tauchte er jedoch wieder spurlos ab, ohne eine erklärende Nachricht für seine Geliebte zu hinterlassen.

Erst in der zweiten Ferienwoche erhielt Amanda einen Expressbrief von ihm, in dem er sie bat, ihn in seiner Heimat Guatemala zu besuchen und seine Familie kennenzulernen, über die er sich bisher weitgehend ausgeschwiegen hatte. Dem Schreiben lag ein Flugticket bei.

 

***

 

Rodrigo holte sie in einem nagelneuen Mercedes-Benz am Flughafen ab. Seine Familie besaß ein prächtiges, blendend weißes Haus, zu dem eine riesige Bananenplantage gehörte. Als Sohn eines Großgrundbesitzers hatte er hier bereits in jungen Jahren soziale Ungerechtigkeit kennengelernt. Seine Eltern betrachteten die Einheimischen als billige Arbeitskräfte, über die sie nach Belieben verfügen konnten, und deren Bedürfnisse und Gesundheit ihnen wenig galten.

Bei Rodrigo waren die Lehren von Marx und Engels auf fruchtbaren Boden gefallen, und während seines Studiums in den USA hatte er Kontakte zu Gleichgesinnten in seiner Heimat geknüpft.

Seltsamerweise schien er kein Problem damit zu haben, sein privilegiertes Leben mit seinen Träumereien von einer gerechteren Gesellschaft in Einklang zu bringen. Im Grunde genommen bekämpfte er all das, wofür seine eigene Familie stand.

Während Amanda sich auf den verschwenderischen Festen meist deplatziert fühlte, zu denen er sie mitnahm, bewegte er sich in der Gesellschaft der Reichen und Schönen mit schlafwandlerischer Sicherheit. Während der beiden Wochen, in denen die beiden sich als vielversprechendes junges Paar präsentierten, hatte sie jedoch immer wieder das Gefühl, dass Rodrigo ihr etwas Wichtiges vorenthielt. Von Zeit zu Zeit entschuldigte er sich, um geflüsterte Telefonate zu führen.

»Ich schlage sie mit ihren eigenen Mitteln«, sagte er entschuldigend, als sie ihm bezüglich des Konflikts zwischen seinem Privatleben und seinen politischen Träumen auf den Zahn fühlte.

Dass er etwas plante, bestätigte sich, als sie eines Abends ihren Besuch auf einem Empfang des Landwirtschaftsministeriums abbrachen. Rodrigo ergriff einfach ihre Hand und zerrte Amanda ins Freie. Während der Veranstaltung hatte er immer wieder nervös auf die Uhr geschielt, als habe er noch einen wichtigen Termin.

Ihre Fragen nach seinem seltsamen Verhalten beantwortete er mit einem lapidaren: »Nicht hier, wo uns jeder hören kann.« Sogar als sie im Wagen saßen, wurde er nicht konkreter. Wo wollte er mitten in der Nacht mit ihr hin, und warum tat er so geheimnisvoll?

Amanda bemerkte bald, dass sie nicht in die Richtung zurückfuhren, aus der sie gekommen waren. Ihr Ziel schien außerhalb der Stadt zu liegen, im Dschungel, der bald beiderseits der Straße in den Nachthimmel aufragte.

»Unter deinem Sitz findest du passende Kleidung. Zieh dich schon mal um«, raunte Rodrigo ihr zu. Als sie seiner Aufforderung nachkam, ertastete sie Tarnkleidung und Stiefel.

»Was hat das zu bedeuten, Rodrigo?«, fragte sie verärgert.

»Ich möchte dich mit ein paar Freunden bekanntmachen. Wir feiern eine Party mit großem Feuerwerk.« Die Art und Weise, wie er das sagte, beunruhigte sie. Er klang grimmig. So kannte sie ihn nicht.

Die Straße gabelte sich mehrere Male, und Amanda fragte sich, wie Rodrigo sich in der Dunkelheit zurechtfinden konnte?

Plötzlich wich der Dschungel einer Lichtung, und der Wagen erreichte einen kleinen Platz, auf dem bereits weitere Autos und ein großer Tankwagen parkten.

»Komm«, sagte Rodrigo knapp und stieg aus.

Sie folgte ihm und versuchte, im Licht des von Wolken verdeckten Monds, herauszufinden, wo sie gelandet waren. Es roch nach Lagerfeuer, obwohl Amanda keins erkennen konnte.

Als sie die Mitte des Platzes erreicht hatten, rief Rodrigo etwas auf Spanisch, das Amanda nicht verstand. Aus dem Zwielicht kamen die größer werdenden Umrisse von fünf Personen auf sie zu. Amanda zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die Entschlossenheit in den Gesichtern der Männer sah, die Rodrigo ihr als autonome Untergruppe der Nationalen Befreiungsarmee vorstellte, die sich nach der Absetzung von Präsident Árbenz gegründet hatte.

Amanda erinnerte sich, dass sie davon gehört hatte. Der Umsturz war vor ein paar Jahren durch von der CIA angeheuerte Söldner herbeigeführt worden und hatte die politische Stabilität des hoffnungsvollen Landes erschüttert. Gegner der Junta, die Guatemala seitdem regierte, wurden systematisch verfolgt und getötet. Die USA hatten dabei leider keine rühmliche Rolle gespielt.

Die von Rodrigo angeführte Rebelleneinheit hatte den Auftrag, ein nahegelegenes Munitionsdepot der Regierungstruppen zu sprengen. Diese Aktion sollte der Auftakt einer groß angelegten Kampagne sein, mit der die NBA das Blatt wenden und ihren eigenen Präsidentschaftskandidaten in Position bringen wollte.

Amanda fand, dass die Rebellen wenig vertrauenerweckend aussahen. Es waren finstere Gestalten, ganz anders als Rodrigo, der seine vornehme Herkunft nicht leugnen konnte. Da waren der stämmige Marquez, dunkelhäutiger als die übrigen, mit feurigem Blick und riesigen Koteletten; außerdem Pedro, Raffaele, José und Chacón.

Amanda wunderte sich, warum es Rodrigo so wichtig war, sie mit dabei zu haben. Wollte er ihr imponieren? Der stille, unscheinbare, von allen unterschätzte Rodrigo?

Nein, das glaubte sie nicht.

»Es gibt nur eine einzige Zugangsstraße zum Depot. Sie wird von mehreren Posten überwacht, die täglich ihre Standorte wechseln«, erklärte Marquez.

»Uns bleibt daher nur der beschwerliche Weg durch den Dschungel. Das Unterholz ist ziemlich dicht«, fuhr Rodrigo fort. »Ich selbst habe in den vergangenen Wochen zahlreiche Erkundungen in dem Gebiet vorgenommen und einen Weg markiert, der uns innerhalb eines festgelegten Zeitfensters ans Ziel bringen wird. Pedro und Raffaele werden ein Loch in den Zaun schneiden und auf das Gelände eindringen, während Marquez einen Scheinangriff auf die Posten verübt. Er wird dabei einen möglichst großen Tumult veranstalten, sodass die Wachen von einem Großangriff der nationalen Befreiungsarmee ausgehen und Verstärkung anfordern werden, ehe sie zuschlagen.«

»Ist das für Marquez nicht sehr riskant?«, wandte Amanda ein.

»Ja, die Posten werden mit ihren Schnellfeuergewehren auf alles schießen, was sich ihnen nähert. Wir haben deshalb diesen Tankwagen …« Rodrigo deutete auf einen Lkw, von dem die Farbe großflächig abblätterte und auf dessen Ladefläche ein Tank angebracht war, »so präpariert, dass er ohne Fahrer im zweiten Gang langsam auf den Haupteingang des Depots zurollen wird. Da es sich um eine schnurgerade Straße handelt, braucht es niemanden, der den Wagen lenkt. José wird ihn eine halbe Stunde, während der wir durch den Dschungel vordringen, in Bewegung setzen. Selbst, wenn sie den Lkw durch ihre Schüsse aufhalten, wird er genügend Aufmerksamkeit binden, wenn er explodiert …«

Wenn man Rodrigo zuhörte, dann klang es nach einem Kinderspiel, aber Amanda ahnte, dass es alles andere als das werden würde.

»Werden viele Menschen dabei sterben?«, fragte sie.

»Menschen, Amanda?«, sagte Rodrigo in einem eiskalten Tonfall. »Es sind unsere Feinde. Die Feinde der Demokratie. Sie haben bereits Tausende von uns in ihren mithilfe der CIA errichteten Gefängnissen gefoltert und ermordet. Das sind keine Menschen, Amanda, es sind Schweine.« Er hielt inne und bedachte jeden einzelnen in der Runde mit einem prüfenden Blick. »Also los jetzt, wir wollen keine Zeit mehr verlieren. Jeder weiß, was er zu tun hat!«

 

***

Amanda war fasziniert von der Vielzahl der unterschiedlichen Geräusche, die den Dschungel in der Nacht erfüllten. Sie konnte sie nicht zuordnen, und da der Wald sich ihr in verwirrenden Mustern in Abstufungen von Schwarz und Grau darstellte, bekam sie von dem, was sie sich in den buntesten Farben ausmalte, nichts zu Gesicht.

Sie waren vielleicht eine halbe Stunde unterwegs, als Rodrigo ihnen durch ein Zischen zu verstehen gab, dass sie still stehen sollten. Amanda wollte eine Frage stellen, doch Rodrigo legte den Zeigefinger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Binnen zwei Minuten bellten in einiger Entfernung Schüsse, und gleich darauf ertönte eine mächtige Detonation.
Rodrigo verharrte nach wie vor unbewegt. Erst als ein schriller Alarmton die nächtliche Geräuschkulisse zerriss, verfiel er in nervöse Aktivität.

»Am heikelsten ist es, den fünf Meter breiten Streifen vor dem Zaun zu überqueren, auf dem sich rund um die Uhr Patrouillen bewegen. Dort sind wir für die Wachen leichte Ziele. Wir müssen darauf hoffen, dass sie durch Marquez’ Scheinangriff abgelenkt sind. Du, Amanda, bleibst hier zurück! Pedro, Raffaele, Chacón und ich werden die kombinierte Spreng- und Brandladung zwischen den Munitionsbunkern deponieren. Sie explodiert zeitverzögert. Wenn alles gutgeht, haben wir dann bereits den halben Weg zurück zu unseren Autos hinter uns gebracht.«

Wenn Rodrigo so sprach, klang das Vorhaben so einfach, als könne es gar niemals scheitern. Amanda aber konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich in Lebensgefahr begaben.

»Also los nun.« Rodrigo umarmte Amanda ein letztes Mal, und sie hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl. Am liebsten hätte sie ihn festgehalten, doch sie wusste sehr wohl, wie aussichtslos das wäre.

In geduckter Haltung verließen die Männer die natürliche Deckung des Dschungels. Im grellen Licht der Scheinwerfer hasteten ihre tiefschwarzen Schatten über den Sperrstreifen vor dem Zaun. Amanda vergaß zu atmen. Kein Schuss, kein Ruf! Die vier hatten den Zaun erreicht und hechteten flach auf den Boden. Pedro und Raffaele begannen sofort damit, den Draht durchzuschneiden.

Amanda nahm plötzlich Schüsse wahr, die auf den Beginn von Marquez Ablenkungsmanöver hinwiesen.

Amanda jubelte stumm, als die drei Männer eine Öffnung von ausreichender Größe geschaffen hatten und auf die andere Seite des Zauns gelangten. Sie richteten sich auf, und dann plötzlich … waren sie von Soldaten umgeben, die ihnen den Fluchtweg abschnitten. Amanda wusste nicht, woher sie so schnell gekommen waren, aber ihr dämmerte, dass das Unternehmen gescheitert war. Es sah so aus, als seien die Revolutionäre erwartet worden. Genau jetzt, genau hier! Es musste also einen Verräter gegeben haben.

Einer der Männer, Amanda konnte nicht sagen, ob es sich um Chacón oder José handelte, schnappte sich einen der schweren Rucksäcke vom Boden und lief in Richtung der Munitionsbunker davon, die im Zwielicht wie gedrungene Urzeitriesen anmuteten. Offenbar plante er, sich in einer selbstmörderischen Aktion selbst in die Luft zu sprengen, um eine Kettenreaktion auszulösen.

Er kam jedoch nicht weit. Einer der Soldaten tötete ihn kaltblütig durch gezielte Schüsse in den Rücken.

Amanda zog sich rasch tiefer in den Dschungel zurück. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis Soldaten ausschwärmten, um die Umgebung des Stützpunktes nach Guerillakämpfern zu durchkämmen.


***

Erst als es Tag wurde, wagte sich Amanda aus ihrem Versteck unter den Luftwurzeln eines Baumriesen, die einen natürlichen Hohlraum bildeten. In der Nacht war einmal ein Suchtrupp ganz nah an ihr vorbeigelaufen, doch man hatte sie nicht aufgespürt.

Auf das Risiko hin, dass sie sich im Dschungel verirrte, beschloss sie, auf eigene Faust einen Weg zurück zur Stadt zu suchen. Sie war durch die Ungewissheit über Rodrigos Schicksal wie betäubt und innerlich ausgehöhlt und lief, ohne nachzudenken. Einmal musste sie einen reißenden Fluss durchqueren, der in der Nacht nicht auf ihrem Weg gelegen hatte. Das eiskalte Wasser brachte sie zur Besinnung. Gerade rechtzeitig, um den Hubschrauber zu bemerken, der sich von oben näherte. Sie hechtete zu Boden und hoffte, dass die Vegetation sie verdecken würde. Das monotone Geräusch der Rotoren strich über sie hinweg und entfernte sich, ohne dass der Helikopter langsamer geworden wäre.

Wie durch ein Wunder kam sie nach einem langen Marsch an eine Landstraße. Sie war nur wenig befahren, aber bereits das erste Auto, das Waldarbeiter zu ihrem Arbeitsort transportiert hatte, nahm die lehmverschmierte und mit blutigen Schrammen überzogene Frau mit. Der Fahrer stellte nicht viele Fragen. Er brachte Amanda in die Stadt und setzte sie unweit des Anwesens ab, das Rodrigos Familie gehört.

Amanda sah Rodrigo erst am Tag ihres Abflugs wieder. In Gesellschaft seines Vaters, dessen versteinerte Miene mehr sagte als tausend Worte. Da Rodrigos Familie Einfluss bis in höchste Kreise besaß, war es ihm gelungen, den Sohn freizukaufen. Rodrigo wirkte mindestens zehn Jahre gealtert. Sein Blick war stumpf, das Feuer darin erloschen, das einst glänzende Haar matt; und seine Bewegungen wirkten marionettenhaft, als seien seine Knochen gebrochen worden und falsch zusammengewachsen.

Als sie ihn umarmen wollte, hob er abwehrend den Arm. »Begleitest du mich in den Garten?«, fragte er mit emotionsloser Stimme und schleppte sich schwerfällig zu dem weißen Pavillon hinüber, in dem sie sich in den ersten beiden Wochen ihres Aufenthaltes oft geküsst hatten.

Als sie neben ihm Platz genommen hatte, begann er stockend zu berichten. Ihr Anschlag war schon vor Beginn aufgeflogen. Wochen vor der Aktion hatte die Geheimpolizei den Bruder von Marquez verhaftet. Unter der Folter verriet er die Revolutionäre Bewegung und den geplanten Angriff auf das Munitionsdepot. Anstatt auch Marquez festzunehmen, hatte die Geheimpolizei ihn für sich gewonnen, indem man das Fortleben seines Bruders von seiner Mitarbeit abhängig machte. Obwohl Marquez hätte wissen müssen, dass sein Bruder und er wahrscheinlich keine Überlebenschance hatten, war er auf das Angebot eingegangen. Doch die Geheimpolizei liebte zwar den Verrat, nicht aber den Verräter. Sie duldete keine derart vertrauensunwürdigen Personen in ihren Reihen – das Risiko, sich einen Doppelagenten ins eigene Nest zu setzen, erschien ihnen viel zu unkalkulierbar.

»Ich weiß zwar nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich habe bei den Verhören deine Existenz geheim gehalten.« Rodrigo seufzte. »Trotzdem bist du in Gefahr, verhaftet zu werden. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer von den Genossen, die an dem Überfall auf das Depot beteiligt waren, verhaftet und befragt wurde. Sie alle haben dein Gesicht gesehen.« Mit fester Stimme fuhr er fort: »Du musst das Land mit dem nächsten Flug verlassen.«

»Nein«, sagte Amanda mit erstickter Stimme. Tränen rannen ihre Wangen hinab. »Ich bleibe bei dir.«

Als sie ihn umarmte und küssen wollte, löste er ihren Griff und schubste sie weg. Er rief zwei Arbeiter seines Vaters, die Amanda in ein Auto schleppten und zum Flughafen fuhren.

 

***

 

Zu Hause in Berkeley trauerte Amanda Rodrigo monatelang nach. Er hatte keinen ihrer zahlreichen Briefe beantwortet und die Telefonnummer des Anwesens seines Vaters war geändert worden. Die Ungewissheit über sein Schicksal zermürbte sie zusehends, bis sie kaum noch in der Lage war, ihrer universitären Arbeit nachzugehen, da es ihr an der notwendigen Konzentration mangelte.

Eines Abends sprach sie auf dem Nachhauseweg vom Campus ein wildfremder Mann an und unterbreitete ihr einen verlockenden Vorschlag. »Es gibt vielleicht eine Möglichkeit für Sie, Rodrigo wiederzusehen.«

Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller.

»Sie müssen uns nur mit Informationen versorgen. Sie werden genaue Instruktionen erhalten, was für uns von Interesse ist. Sobald sie etwas Wichtiges erfahren, kontaktieren Sie mich. Wenn Sie sich bei dieser Arbeit verdient machen, werden wir Ihnen im Gegenzug erneuten Kontakt zu Rodrigo ermöglichen.«

Die Zeit verging, und egal wie viel vertrauliches Forschungsmaterial sie an den Fremden, der sich als KGB-Mann entpuppte, weitergeleitet hatte, zu dem versprochenen Wiedersehen mit Ihrem Geliebten kam es nie.

 

***

 

Tja und dann habe ich alle meine Hoffnung auf diese Operation hier gesetzt. Werden die Sowjets ihr Versprechen diesmal einhalten?, zweifelte Amanda insgeheim. Leider habe ich keine andere Wahl, als darauf zu bauen.

Gedanklich wieder in der Gegenwart suchte sie Olsen auf. »Danke für dein Verständnis und dafür, dass du mich eine Weile allein gelassen hast. Jetzt habe ich wieder einen klaren Kopf. Wir müssen einfach nur warten, bis wir abgeholt werden. Wir können uns ja so lange zusammen hinsetzen und uns bis dahin die Zeit mit einem Gespräch vertreiben. Mich würde brennend interessieren, wie du zu dieser Expedition gekommen bist?«

Der Wissenschaftler streckte die Beine aus. »Ich kann mir gut vorstellen, dass du mich anfangs für einen ziemlichen Trottel gehalten hast, und ich nehme es dir nicht übel. Ich habe mich ja wirklich ganz schön dusselig verhalten. Doch dazu nachher mehr. Am besten berichte ich dir der Reihe nach von den Vorkommnissen.« Olsen lachte vor Verlegenheit.

Er blickte Amanda scheu in die Augen. »Willst du echt die ganze Geschichte hören?«

Blair nickte.

»Jasper, du kannst mich gern Jasper nennen.«

»Okay, Jasper.«

»Wie du weißt, stamme ich ursprünglich aus Norwegen. Ich gelangte 1944 durch die Vermittlung von Niels Bohr, der Dänemark bereits ein Jahr zuvor verlassen hatte, in die USA. Dort konnte ich mein Studium der Glaziologie am geologischen Institut von Professor Lawrence an der Universität von Los Angeles vorsetzen, wo ich mit meinen Kenntnissen dankbar aufgenommen wurde. Ich war heilfroh, aus Europa geflüchtet zu sein, da ich befürchtete, die Sowjetunion könnte nach der Niederlage der Nazis ganz Europa überrollen. Unser Nachbarland Finnland zu besetzen, hatten sie ja schon probiert. Von daher lag Myers mit seinen Verdächtigungen, ich sei ein Kommunistenfreund, gänzlich falsch. Ich kann mit dem Kommunismus ebenso wenig anfangen, wie mit dem Nationalsozialismus.

Gerade als ich meine Doktorarbeit schrieb, kam das Ende des Krieges gegen Deutschland und der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Ich war schockiert, denn ich kapierte sofort, welche Büchse der Pandora wir da geöffnet hatten. Der Einsatz solch destruktiver Kräfte erschien mir ebenso verwerflich wie die Verbrechen der Nazis und Kommunisten.

Nach dem Erwerb meines Doktortitels erhielt ich einen Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut. Irgendwann tauchte ein junger Offizier auf dem Campus auf und unterbreitete mir das Angebot, an einer großangelegten Expedition in die Antarktis teilzunehmen. Voller Enthusiasmus habe ich zugesagt, ohne die Hintergründe detailliert zu durchdenken.

Der junge Offizier war übrigens Walker, der damals den Rang eines Sergeants innehatte.

Nach dieser ersten Begegnung sah ich Walker eine Weile nicht mehr. Ich erhielt kurz darauf den Marschbefehl, in dem mir mitgeteilt wurde, wo ich mich wann einzufinden hatte. Als ich an besagtem Tag im Morgengrauen in den Militärbus stieg, der die Expeditionsteilnehmer einsammelte, wurde mir erst richtig bewusst, dass ich Teil einer militärischen Operation war. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in der Sowjetunion einen neuen Gegner. Das zerstörte meine Hoffnungen, dass der Abwurf der neuen Bombe den Menschen die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führen würde.

Zu diesem Zeitpunkt legte Edward Teller, eine der maßgeblich treibenden Persönlichkeiten im Bereich der Fusionstechnik, der auch für ihren militärischen Einsatz plädierte, Pläne für atomare Sprengungen in vereisten Regionen vor, mit denen eisfreie Häfen geschaffen werden sollten. Ich hatte das Gefühl, dass solche Ideen bei den Leitern der Operation High Jump auf fruchtbaren Boden fielen.

Meine Versuche, Sergeant Walker von der Gefährlichkeit der atomaren Bedrohung zu überzeugen, scheiterten kläglich. Dennoch verstanden wir beide uns recht gut.«

In der Höhle wurde Myers wach und fing und fing an zu brüllen. »Ihr Verräter! Kommunistenschweine! Wenn ich euch kriege, mach ich euch fertig!«

»Da versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr«, beklagte sich Amanda, stand auf und ging zum Colonel.

Vor Wut flog Speichel aus Myers Mund, als er seine Schimpftirade fortsetzte. »Ihr kommt vor ein Kriegsgericht. Euren Status als zivile Berater könnt ihr vergessen. Ihr begeht Landesverrat. Da wird keine Gnade gewährt.«

Amanda knebelte ihn kurzerhand und gesellte sich anschließend wieder zum Professor. »So, jetzt können wir ungestört weiterreden.«

»Okay«, sagte Olsen. »Als mir kürzlich die Einladung von General Shwartz zu einer neuen Expedition in die Antarktis auf den Tisch flatterte, habe ich zugesagt, in der naiven Hoffnung, diesmal erfolgreichere Aufklärungsarbeit leisten zu können. Da hatte ich noch keine Ahnung, dass Myers die Expedition leiten würde. Das Schlimme war nun, dass ich Myers Geheimnis kannte und Walker wusste dies, da er es mir selbst verraten hatte. Also bekam ich Angst, Walker könnte diese Information an Myers weitergeben. Beim Militär hackt doch keine Krähe einer anderen ein Auge aus. Und vielleicht hatte sich Walker dazu entschlossen, einer möglichen Enthüllung seiner Indiskretion durch mich zu begegnen, indem er sie Myers beichtete. So hätte er die möglichen Folgen eingrenzen und kontrollieren können. Womit wir den Grund dafür haben, weshalb ich jedes direkte Zusammentreffen mit Walker vermied.«

»Und worin besteht das Geheimnis des Colonels?«

Gerade als Olsen zu einer Antwort anhob, ertönten in der Ferne russische Stimmen und leise Trittgeräusche.

»Na ja, Jasper, du kannst mich auch bei einer passenden Gelegenheit einweihen.«

 

***

 

Amanda stand auf, formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief: »Hier. Hierher. Hier sind wir.« Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und winkte dem Einsatzkommando zu.

Der verlorene Haufen, der in ihre Richtung stolperte, war in einer desolaten Verfassung. Einer der Männer trug den Arm in einer Schlinge, ein anderer hatte einen dicken Verband um die Schläfen. Fast alle hatten Kratzer und Schürfwunden an den Händen und Armen oder in den Gesichtern. Nur drei Mitglieder des neunköpfigen Trupps wirkten nicht wie durch die Mangel gedreht: Zwei Männer, bei denen es sich aufgrund der Rangabzeichen vermutlich um Unteroffiziere handelte und eine stämmige Frau, die schätzungsweise einen Meter achtzig maß. Mit enorm lauter Stimme bellte sie ihren Leuten Befehle zu. Von ihrem Auftreten eingeschüchtert, wich Olsen sicherheitshalber drei Schritte zurück.

Die Russin sagte etwas zu den beiden Unteroffizieren, die darauf zu Amanda gingen und sich auf Englisch als Sorokin und Lukassow vorstellten. Die laute Frau, ließen sie die Amerikaner wissen, sei Politoffizier Rachmaninowa, die Leiterin dieser Operation.

»Wir haben unseren Befehlshaber überwältigt. Er ist gefesselt und geknebelt in der Höhle«, berichtete die Biologin.

»Die Genossin verlangt, dass Sie uns alle Waffen aushändigen«, erklärte Lukassow. »Dann schlagen wir unser Nachtlager auf, da es schon bald dämmern wird. Morgen findet die Befragung statt.«

»Befragung, welche Befragung?« Amanda verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Und wieso sollen wir die Waffen abgeben? Sind wir Gefangene?«

»Nein, das nicht. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Und befragt wird nur der amerikanische Soldat.«