Am nächsten Morgen kam Sorokin zu Amanda und Olsen.
»Wir werden jetzt mit der Befragung des Colonels beginnen. Die Genossin Politoffizier lässt ausrichten, dass Ihre Anwesenheit dabei unumgänglich ist. Sie meint, es sei eine gute Lehrstunde für Sie, um Ihnen die Art und Weise, wie die Sowjetunion mit ihren Feinden umspringt, näherzubringen. Außerdem hofft sie, die Zunge des Colonels vor Publikum schneller lösen zu können.«
Der Unteroffizier führte die beiden Wissenschaftler in die Höhle, in der bereits Rachmaninowa und ein kleiner, verschlagen blickender Soldat mit eiskalten Augen und harten Gesichtszügen wartete. »Das ist Kusnezow, unser Spezialist für das Aushorchen von Gefangenen. Es heißt, er habe bisher – früher oder später – jeden zum Reden gebracht.«
Kusnezow ging vor Myers in die Hocke, öffnete den Reißverschluss seiner Ledermappe und klappte sie auf. Darin befanden sich verschiedene Messer und Metallnadeln unterschiedlicher Länge und Dicke, Spritzen sowie mehrere Fläschchen mit Drogen und Säuren. Die Polit-Offizierin richtete den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf die Gerätschaften, deren Metallteile im ansonsten dunkeln Raum bedrohlich schimmerten. Kusnezow zeigte die Instrumente dem Colonel und sagte dann etwas zu Sorokin, der daraufhin für den Gefangenen übersetzte: »Zuerst werde ich Ihnen ein Stück Haut bei lebendigem Leib abziehen, falls Sie nicht umfassend kooperieren und uns alles beichten, was wir wissen möchten.«
Auf Myers Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen, seine Augen waren geweitet. Seine Wahrnehmung verschwamm und die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerfloss. Statt Kusnezow sah er sich wieder Doktor Chambers ausgeliefert, der seine gesundheitlichen Probleme kuriert hatte. Auch damals hatten sie ihn gefesselt und er musste sämtliche Torturen ohnmächtig über sich ergehen lassen. Bäder in eiskaltem Wasser gehörten damals noch zu den harmloseren Behandlungsmethoden, die dazu dienten, ihn wieder auf Linie zu bringen.
Amanda schnürte es die Kehle zu. Sie wollte etwas einwenden, aber ihr drang kein Wort über die Lippen.
Olsen hatte das Gefühl, brechen zu müssen.
Kusnezow sagte wieder etwas auf Russisch, das von Sorokin auf Englisch wiedergegeben wurde: »Wir werden Sie jetzt eine Viertelstunde allein lassen, in der Sie darüber nachdenken können, ob sie diese Qual erleiden möchten oder ob sie gleich reden.«
Rachmaninowa leuchtete Myers rund eine Minute direkt ins Gesicht, dann beorderte sie alle Mann, außer dem Gefangenen, mit einer herrischen Handbewegung aus der Höhle.
Draußen sonderten sich Amanda und Olsen konsterniert von den Russen ab. Nach einer Unterhaltung war ihnen nicht zumute. Die Gedanken der Biologin rasten.
Was habe ich bloß getan? Ich muss ganz schön naiv gewesen, sein, als ich mich auf die Kommunisten eingelassen habe, nur weil ich mir eingebildet habe, damit würde die Folter, wie sie von der CIA damals in Guatemala angewendet wurde, aus der Welt verbannt. In Wahrheit sind die Rote Armee und der KGB keinen Deut besser als unsere Army und der CIA. Wie konnte ich so dumm sein? Und Rodrigo bekomme ich dadurch auch nicht wieder zurück …
Sie hockte sich auf den Boden und barg das Gesicht in den Händen.
Egal, wie übel Myers auch sein mag, überlegte sie. Das hat er nicht verdient. Falls es in unserer Macht steht, müssen wir die Folter verhindern. Vielleicht können wir ihn befreien. Wenn es ihm gelingt, die Russen auszuschalten, werden wir schon irgendwie mit ihm fertig. Er ist nur ein einzelner Mann und mit ihm können wir eher reden und vielleicht einen Kompromiss schließen als mit den Sowjets.
»Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte Olsen verschwörerisch.
Amanda nickte. »Ich schleiche mich in die Höhle und versuche, Myers zu befreien. Du bleibst so lange hier draußen. Allein erzeuge ich weniger Aufruhr.«
Unauffällig tippelte sie in Richtung des Höhleneingangs und als Rachmaninowa und Kusnezow, die in ein angeregtes Gespräch vertieft waren, in eine andere Richtung schauten, sprintete sie den Rest der Strecke und schlüpfte ungesehen in die Felsenkammer.
Myers war ein einziges Wrack. Ob der Mann ihnen in diesem Zustand gegen die Sowjets helfen konnte? Es würde sich zeigen müssen, einen anderen Trumpf konnte Amanda nicht aus dem Ärmel zaubern, also musste sie alles auf diese eine Karte setzen. Sie holte aus einer der Einmannpackungen die Schere zum Zurechtschneiden der Mullbinden und durchtrennte damit die Fesseln um die Handgelenke des Colonels. Dann wuchtete sie ihn auf die Beine und zog seine heruntergelassene Hose bis hoch zu den Hüften. Den Gürtel schloss er aus eigener Kraft. Zuletzt löste sie das Klebeband mit einer schnellen Handbewegung von seinem Mund.
Er wusste, dass er nicht sprechen durfte, da er sonst die Sowjets alarmieren könnte. Stumm formte er mit den Lippen das Wort danke .
Von seiner Hilflosigkeit entbunden, durchströmte neue Energie Myers Körper. Er war nicht mehr das Opfer, sondern er hatte die Kontrolle wiedererlangt. Er musste nicht mehr einstecken, nun konnte er austeilen. Er bemächtigte sich der Signalpistole, lud sie mit einer Leuchtkugel und verstaute eine zweite in die Oberschenkeltasche seiner Hose. So gewappnet trat er ins Freie.
»Hey, ihr Kommunistenschweine«, brüllte er. Erschreckt drehten sich Rachmaninowa und Kusnezow wie von der Tarantel gestochen um. Myers hob die Signalpistole und gab aus kurzer Distanz einen Schuss direkt in das Gesicht der Polit-Offizierin ab. Flammen umhüllten ihr Gesicht und ihr Haupthaar fing Feuer. Es stank nach verschmortem Fleisch. Gellend schreiend versuchte sie, den Brand mit den Händen zu ersticken. Gleichzeitig rannte sie zum Fluss, in der Hoffnung in den Fluten Linderung für ihre Pein zu finden.
Myers lud die Signalpistole nach und verpasste der Fliehenden einen zweiten Treffer in den Rücken. Nun loderten auch dort die Flammen.
Als die Russin in den Fluss tauchte, rauschte eine Kielwelle auf sie zu und eine der Kreaturen, die unter dem Wasser hausten, zerrte sie nach unten in ein kaltes und nasses Grab.
Kusnezow schaute einen Moment wie gelähmt zu, ehe er die Beine in die Hand nahm, da er keine Waffe bei sich trug.
Wutschnaubend steckte der Colonel die Signalpistole hinter seinem Rücken in den Hosenbund, hetzte hinter Kusnezow her und brachte ihn durch einen Sprung ins Kreuz brutal zu Fall. Mit wenigen Griffen schleuderte er den Russen auf den Rücken und rammte ihm die Schere durch das linke Auge bis ins Gehirn.
Inzwischen waren die übrigen Sowjets auf den Tumult aufmerksam geworden und eröffneten das Feuer auf Myers, der geduckt und Haken schlagend in die Deckung der Höhle zurückeilte. Dabei traf ihn eine Kugel in die Schulter. Als er – zumindest kurzfristig in Sicherheit – die Wunde betastete, stellte er fest, dass er sich einen glatten Durchschuss eingefangen hatte. Knochen und Bänder waren glücklicherweise verschont geblieben.
Unterdessen brach draußen in der Ökosphäre die Hölle los.
Gejagt von zwei Exemplaren der Gattung Carnotaurus donnerte ein dreihörniger Triceratops mit einem Gewicht von gut fünf Tonnen mitten in die Überbleibsel des russischen Einsatzkommandos hinein. Der Schädel des Pflanzenfressers mündete in einem gewaltigen Schnabel; aus dem Knochenschild, das seinen Kopf vor Fressfeinden beschützte, ragten ein dickes, kurzes Nasenhorn und zwei achtzig Zentimeter lange Brauenhörner.
Die Beutegreifer stürzten sich auf die leichtere Beute – die sowjetischen Soldaten und richteten unter ihnen ein Massaker an. Der erste Carnotaurus biss einen der Männer in zwei Hälften, der zweite riss einem anderen das komplette linke Bein ab, ehe er es hektisch verschlang. Dann begab er sich auf die Suche nach weiterem Futter.
»Wir müssen das Vieh mit den drei Hörnern stoppen. Wenn wir es erlegen können, konzentrieren sich die Raubsaurier hoffentlich darauf, den Kadaver zu fressen«, rief Sorokin.
»Gute Idee«, meinte Lukassow und blockierte zusammen mit seinem Kameraden den Laufweg des Triceratops. Der galoppierte davon ebenso unbeeindruckt wie von den Schüssen der Zugführer auf die beiden zu. Das Knochenschild an seinem Schädel verhindert, dass die Projektile tief genug eindrangen, um Schaden anzurichten. Einige davon wurden sogar gänzlich daran abgelenkt und schwirrten als Querschläger ins Leere.
Mit gesenktem Haupt spießte der Saurier Sorokin mitten im Bauch auf und trug ihn davon. Doch damit nicht genug – er bremste ab, wendete, scharrte mit dem rechten Vorderbein und visierte Lukassow an. Dann ging er wutschnaubend zum Angriff über. Lukassow sprang im letzten Augenblick zur Seite, aber ein Tritt erwischte ihn. Er flog fünf Meter durch die Luft, ehe er auf den Boden polterte. Ihm wurde kurz schwarz vor den Augen und er fühlte unmittelbar keinen Schmerz. Dann spürte er mit einer halben Minute Verzögerung, dass ihm der Tritt und der Aufprall sämtliche Knochen im Leib gebrochen hatten, und unglaubliche Qualen durchfluteten seinen geschundenen Leib. In den Kampf konnte er unter diesen Voraussetzungen unmöglich eingreifen.
Der Unteroffizier beobachtete, wie ein Carnotaurus einen seiner Leute verspeiste. Es war still geworden, niemand schoss mehr, niemand sprach mehr. Der Triceratops nutzte die Chance zur Flucht und verschwand am Horizont. Der zweite Beutegreifer fraß gerade ebenfalls einen der Soldaten.
Wie grauenhaft, dachte Lukassow. Einem solchen Schicksal werde ich mich nicht fügen.
Da seine rechte Hand durch mehrere Trümmerbrüche selbst für die kleinste Aktion untauglich war, nestelte er mit der Linken das Holster seiner Dienstwaffe auf und zog sie heraus.
Und ich Trottel hatte immer Angst, mich könnte einmal eine Kugel der Yankees über den Jordan schicken. Um meinen Abgang von dieser Welt kümmere ich mich besser eigenhändig.
Ohne Zögern und ohne Reue, was sein gesamtes Leben betraf, setzte er die Mündung der Waffe an seiner Schläfe an und drückte ab.
***
Als im Freien längere Zeit Ruhe herrschte, wagten sich Amanda und Olsen vor die Höhle. Sie sammelten alle brauchbaren Waffen auf. Manche waren schwer beschädigt und blieben nutzlos am Boden liegen. Eine Kalaschnikow war beispielsweise komplett verbogen, da offensichtlich einer der Saurier auf sie getrampelt war. Zudem lasen sie alles, was sie an passender Munition finden konnten, auf.
Als sie mit ihrer Ausbeute in die Höhle kamen, hockte Myers still vor sich hin brütend in einer Ecke. Schatten überzogen seine reglose Miene; seine Augen waren blutunterlaufen.
Lange sprach keiner der drei ein Wort. Endlich raffte sich Amanda auf. »Wie soll es jetzt weitergehen?«
Myers und Olsen verharrten stumm.
»Also gut, dann treffe ich eine Entscheidung«, verkündete die Biologin. »Wir nutzen den Rest des Tages und die Nacht, um uns von den Strapazen zu erholen. Morgen brechen wir auf und gehen zu MacNeil an die Oberfläche. Einverstanden?«
Die beiden Männer nickten.
»Das Blut«, sagte Olsen plötzlich.
»Welches Blut?«, fragte Amanda.
»Von den Russen. Wahrscheinlich gibt es hier außer Sichtjägern auch Fleischfresser, die ihren Geruchssinn auf der Jagd einsetzen. Sie werden das Blut wittern und uns so finden.«
Sie grübelten darüber nach, was sie vor dieser Gefahr bewahren könnte.
Schließlich hatte Amanda den passenden Einfall. »Wir fackeln die blutdurchtränkte Erde einfach ab.«
»Das sollte funktionieren«, pflichtete ihr der Professor bei.
Sie erledigten die Aufgabe arbeitsteilig. Olsen klaubte trockene Zweige vom Boden auf oder brach sie an Büschen ab. Amanda kratzte mit dem Klappspaten die blutige Erde zusammen, über der sie kleine Scheiterhaufen errichteten, die sie mit Karbid entfachten. Bald loderten überall Feuer.
Olsen schrie unvermittelt auf.
»Was ist los?«, fragte Amanda.
Der Professor deutete auf den Boden und Amanda ging zu ihm. Vor seinen Füßen lag eine abgetrennte Hand im Gras. Olsen verzog das Gesicht angewidert zu einer Grimasse. Seine Hände, in denen er das Holz hielt, zitterten leicht.
Amanda hob ein Loch aus und kickte das verstümmelte Körperteil mit der Fußspitze hinein. Sie nahm Olsen die dürren Äste ab und schichtete sie über der Hand auf. »Warum sollten wir bei dem Ding anders verfahren als mit dem Blut? Wenn das Feuer erloschen ist, schaufeln wir das Loch zu, dann hatte der Unbekannte sogar ein ordentliches Begräbnis.«
Nach ungefähr einer weiteren Stunde war die Arbeit vollendet.
Die folgende Zeit bis zum Anbruch der Nacht verbrachten Amanda, Olsen und Myers schweigend und gedankenversunken in der Höhle.
Amanda wechselte zweimal Myers Verband, der zumindest bei dieser Gelegenheit den Mund kurz aufsperrte, um sich für ihre Fürsorglichkeit zu bedanken.
Olsen wurde von einem schlechten Gewissen gequält, da er es versäumt hatte, Amanda über Myers Hintergrund aufzuklären. Der Mann war brandgefährlich. Beim Auflesen der Waffen oder der Beseitigung der Blutspuren hätte die Chance bestanden, Amanda ins Vertrauen zu ziehen. In Anwesenheit des Colonels war das natürlich undenkbar. Der Professor beruhigte sich mit der Überlegung, dass Myers bisher nicht durchgedreht war. Mit ihm hatten sie zwar eine Menge Schwierigkeiten an der Backe, aber deren Lösung sollte ihnen definitiv leichter fallen, als aus der Gefangenschaft von knapp zehn Sowjets zu entfliehen. Dieses Problem hatte sich zum Glück von selbst erledigt.
Es wird schon alles gutgehen, sagte er sich und schlief ein.
Myers war ebenfalls eingedöst, nur Amanda fand keinen Schlaf. Sie schnappte sich die Signalpistole und die letzte Leuchtkugel und trat durch den Höhlenausgang auf die grasbewachsene Ebene. Sie richtete die Pistole nach oben und drückte ab. Schon bald kontrastierte hoch am Himmel ein grüner Ball mit dem matten Grau der Abenddämmerung.
Vielleicht ist Mark unterwegs, um uns aus der Patsche zu hauen. Eine bessere Verwendung für die letzte Leuchtkugel, als ihm den Weg zu weisen, dürfte es kaum geben.