Die Leuchtkugel am Abendhimmel der Ökosphäre verlieh Mark MacNeil neue Motivation. Natürlich konnte sie auch von den Sowjets abgefeuert worden sein, aber daran wollte er nicht glauben. Und die Entfernung zu dem lodernden Feuerball war nicht mehr allzu groß. Wenn er die Nacht durchmarschierte, würde er morgen früh an der Stelle eintreffen, über der sie gerade erstrahlte. Diese befand sich ganz in der Nähe, von dem Ort, an dem er vor einigen Tagen den Rest des US-Teams verlassen hatte. Er war ganz begierig darauf, zu erfahren, was aus dem russischen Einsatzkommando geworden war. Seine Gefährten dürften kaum davon ausgehen, dass es noch eine Gefahr darstellte, denn sonst hätten sie niemals solch ein leuchtendes Fanal am Horizont entfacht.
Im Morgengrauen erblickte Myers den Flusslauf. Der einzige Platz, an dem sich das Team verborgen halten konnte, war ein Hügel in der Nähe.
Ehe er diesen erreicht hatte, erschienen Amanda und Olsen in einem Höhlenausgang, winkten ihm zu und kamen ihm entgegen.
Zur Begrüßung fielen sich die Wiedervereinten herzlich um den Hals.
»Wo sind die anderen?«, fragte MacNeil. »Myers und seine Leute?«
»Myers ist hinten in der Höhle«, informierte ihn die Biologin. »Er ist verwundet, aber zum Glück nicht allzu schwer. Schuhmann und Jones sind tot. Ebenso alle Sowjets.«
Nachdem Amanda die Ereignisse in der Ökosphäre umrissen hatte, berichtete der Musher von seinen Erlebnissen an der Oberfläche und von seinem Kampf gegen den sowjetischen Wachposten. »Das eigentlich Entscheidende ist jedoch das Funkgerät. Ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, das Hauptquartier zu verständigen. Der Gedanke an eine Army-Horde, die hier unten achtlos herumstolziert, hat mich so sauer gemacht, dass ich das Ding zerstört habe. Jetzt müssen wir Myers die Sache beibringen. Nur wie? Ich glaube, Amanda hat die besten Chancen dazu. Und was meint ihr: Sollte die Außenwelt überhaupt von der Existenz der Ökosphäre erfahren?«
»Das ist eine knifflige Frage«, sagte Olsen, »die wir genau bedenken und ausdiskutieren müssen. Außerdem muss ich euch vorher einiges über Myers erzählen.«
»Dazu fehlt uns jetzt die Zeit«, entgegnete Amanda.
Olsen quittierte ihre Aussage mit einem Schulterzucken.
»Wir müssen schnell zu Myers zurück«, fuhr sie fort, »sonst kommt er auf die Idee, dass wir etwas aushecken, das ihm nicht gefallen könnte.«
»Gut«, stimmte MacNeil zu. »Verkaufst du ihm das defekte Funkgerät?«
Amanda lächelte gezwungen. »Ja, das kriege ich hin.«
***
»Colonel, Winston … denken Sie bitte noch einmal an den Spinosaurus«, sagte Amanda. »Den Saurier mit dem krokodilartigen Schädel. Sie fanden es schade, dass er sterben musste. Insbesondere, da er vielleicht der Letzte seiner Art gewesen ist.«
»Das ist korrekt. Nur was hat das mit unserer aktuellen Situation zu tun, Ma’am? Sie haben gesagt, wir werden jetzt unser weiteres Vorgehen besprechen. Meiner Meinung nach gibt es da nichts zu diskutieren. MacNeil hat das Hauptquartier verständigt und wir gehen der Rettungsmannschaft entgegen und empfangen sie bei der unterirdischen Station.«
»Aber es würde Ihnen gefallen, wenn er überlebt hätte.« Amanda bemühte sich, ihr verbindlichstes Lächeln aufzusetzen. »Und wir, also Olsen, Mark und ich sehen das ganz ähnlich. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Colonel, da ich weiß, dass Sie ein Freund der klaren Worte sind. Wir möchten die Entdeckung der Ökosphäre geheim halten. Sie ist zu wertvoll, um ihre Ausbeutung zuzulassen. Zu viel würde dabei unwiederbringlich zerstört werden.«
Myers Unterkiefermuskeln verkrampften. Er knirschte hörbar mit den Zähnen. Es wirkte, als verwende er alle Kraft darauf, halbwegs ruhig und gefasst zu bleiben. So saß er fast eine Minute schweigend da. Dann sprang er explosionsartig auf. »Und sie den Kommunisten überlassen? Niemals!« Blitzartig war er bei Amanda, packte sie an den Schultern und schüttelte sie grob durch. »Das kann nicht Ihr Ernst sein!«
MacNeil stürmte auf den Colonel ein und ergriff den zu seiner verletzten Schulter gehörigen Arm, um ihn auf seinen Rücken zu drehen. Der Angegriffene erahnte das Vorhaben, winkelte den Arm ab, senkte ihn und riss ihn mit aller Gewalt in die Höhe, sodass sein Ellbogen gegen das Kinn des Mushers knallte. Der geriet ins Wanken. Sein Blick verschwamm und er fürchtete, k. o. zu gehen.
Myers packte mit der freien Hand in Amandas Haarschopf, krallte sich darin fest und schleuderte sie ruckartig hin und her. »Sagen Sie mir, dass Sie nicht schon wieder zu den Kommunisten übergelaufen sind. Sagen Sie es!«
Amanda kreischte und schlug um sich. Doch vergebens, gegen die überlegene Körperkraft des Offiziers hatte sie keine Chance.
MacNeil hatte inzwischen den Kinnhaken verdaut. Er bückte sich, hob die Pumpgun auf und hämmerte ihren Kolben gegen Myers Schläfe, der daraufhin Amanda losließ. Der Hundeführer rammte ihm die Waffe frontal gegen die Backe. Das Jochbein des Colonels brach mit einem lauten Knacken und er ging in die Knie. MacNeil trat ihm an die Brust, sodass er auf den Boden krachte und auf dem Rücken lag. Instinktiv drehte der Musher die Waffe um einhundertachtzig Grad, lud durch und feuerte zwei Schüsse ab – einen in die Brust seines Gegners, den nächsten ins Gesicht.
»Oh, mein Gott …«, flüsterte Amanda.
Olsen fing an zu würgen und stolperte überhastet ins Freie.
***
»Was war denn nun mit Myers?«, fragte Amanda.
»Das würde mich auch brennend interessieren«, meinte MacNeil. »Auch wenn es jetzt vermutlich keine Rolle mehr spielt. Sein Blick schweifte zum Grab, in dem sie den Colonel beigesetzt hatten. Ein Gespräch über dessen Tod hatten sie bisher vermieden.
»Ja also …« Olsen sammelte seine Gedanken, dann sprach er weiter: »Leider wurde ich ja immer wieder unterbrochen, als ich Amanda die Geschichte erzählen wollte. Für Marks Verständnis muss ich ihm noch sagen, dass ich als Wissenschaftler an der Operation High Jump teilgenommen habe. Dabei wurde ich in der gleichen Einheit eingesetzt, wie Major Walker, der aktuell das Kommando über Little America hat.«
»Sieh an«, sagte MacNeil. »Wirklich interessant.«
»Ja, genau. Der springende Punkt ist folgender: Ich habe Walker einige Jahre nach der Operation zufällig auf der Straße wiedergetroffen, als ich an einer Konferenz in Richmond teilgenommen habe. Wir gingen in eine Bar, um über unsere Erlebnisse in der Antarktis zu plaudern. Im Laufe des Abends hat er sich mit Whisky volllaufen lassen. Als er genug intus hatte, hat er mir sein Herz ausgeschüttet. Wahrscheinlich weil er glaubte, wir würden uns nie wieder begegnen. Und weil er mir vertraute, dass ich die Geschichte für mich behalten würde. Was ich bis heute auch getan habe.«
Olsen rang die Hände.
»Kurz vorher war Walker bei einem Gerichtsverfahren des Judge Advocate General’s Corps der United States Army als Geschworener tätig gewesen. Die Verhandlung drehte sich um eine Reihe von Kriegsverbrechen während des Koreakriegs, die alle auf das Konto einer einzigen Einheit gingen, die unter Myers Befehl stand. Natürlich kam davon nicht das kleinste Fitzelchen an die Öffentlichkeit.
Myers und seine Männer operierten im Krieg relativ unabhängig und viele ihrer Einsätze fanden hinter feindlichen Linien statt. Dadurch gab es kein Korrektiv, das verhindern konnte, dass sie immer tiefer in einen Strudel der Gewalt abglitten und den Bezug zur Realität verloren. Statt nur militärische Ziele zu bekämpfen, richteten sie ein Blutbad unter der Bevölkerung an. Sie haben auf der Kühlerhaube von Myers Jeep einen Totenschädel befestigt. Nur zu Dekorationszwecken haben sie dazu einen Koreaner enthauptet und seinen Kopf danach in einen Metalleimer voller Säure gesteckt, ehe sie ihn dieser grauenhaften Verwendung zuführten.
Der Trupp hat mehrere Dörfer verwüstet und zog mordend und vergewaltigend durch das Land. Dabei kam es zu unglaublichen Gräueltaten bis hin zu Kannibalismus. Als die Sache schließlich aufflog und die gesamte Einheit inhaftiert wurde, zeigte sich die Militärgerichtsbarkeit vor Ort überfordert und überstellte die Gefangenen in die USA, damit ihnen dort der Prozess gemacht werden konnte.
Letztendlich entschied der Richter, Myers und seine Leute für ihre Taten in das Matteawan State Hospital for the Criminally Insane einzuweisen. In der Anstalt wurde extra ein eigener Gehäuseflügel für die Einheit freigeräumt, damit sie nicht mit den restlichen Insassen in Kontakt kamen. Die meisten ihrer Mitglieder sitzen bis heute dort ein.
Myers wurde mit Elektroschocks und massiven Insulingaben therapiert. Seine Behandlung galt als Erfolg. Er wurde rehabilitiert und kehrte in den aktiven Dienst zurück, da ihm an den schlimmsten Verbrechen keine persönliche Täterschaft nachgewiesen werden konnte. Er ist zwar ein eiskalter Killer, aber das kann in der Armee ja durchaus von Vorteil für eine steile Karriere sein.
Die Männer, die man wasserdicht überführen konnte, kamen nicht bloß mit Elektroschocks und Zwangsjacken davon. Rund ein Drittel der Einheit wurde einer Lobotomie unterzogen.«
»Puh, das ist wirklich heftig«, kommentierte MacNeil.
»Trotz allem müssen wir einen Entschluss fassen, wie wir mit der Öffentlichkeit umgehen.« Amanda rieb sich die Schläfen. »Verschweigen wir die Entdeckung der Ökosphäre oder geben wir sie preis?«
»Wir alle wissen, wie die Menschen sind«, argumentierte der Musher. »Sie werden die Technik für das Militär ausschlachten und aus dem Naturparadies hier unten machen sie eine Touristenattraktion. Das müssen wir unterbinden. Ich hätte nichts dagegen, hier zusammen mit meinen Hunden zu leben. Bis jetzt haben uns die Saurier nicht gefressen und wenn wir vorsichtig sind, wird das auch in Zukunft so sein.«
»Wenn ich ehrlich sein soll«, meinte Amanda, »kann ich mir keine größere Lebensaufgabe wünschen, als diese Welt zu erkunden. Allein der Gedanke daran ist faszinierend.«
»Ja, es wäre ein Traum für jeden Wissenschaftler«, sagte Olsen. »Mir persönlich ist das aber viel zu heikel. Wo sollten wir überhaupt wohnen? Hier in dieser Höhle? Nein danke.«
»Wir könnten uns ein Baumhaus in sicherer Höhe bauen. Das wäre kein Problem«, schlug MacNeil vor.
»Wenn wir alle hier bleiben, wird die Army eine Rettungsexpedition losschicken«, überlegte Amanda. »Einer von uns muss nach Little America zurück und Walker ein glaubhaftes Lügenmärchen präsentieren.«
»Außerdem sollten die Spuren an der Oberfläche und der Zugang nach hier unten von der Bildfläche verschwinden«, ergänzte MacNeil.
»Ich würde gern in die Zivilisation zurückkehren«, stellte Olsen klar.
»Nur, wie willst du nach Little America kommen?«, fragte MacNeil. »Du kannst keinen Schlitten lenken. Und auf die Schnelle kann ich es dir kaum beibringen. Wir dürfen aber nicht zu lange warten, sonst kommt das Militär auf die Idee, aktiv zu werden und setzt einen Suchtrupp in Bewegung.«
»Hm …«, äußerte der Professor.
»Vielleicht können wir es ja so handhaben, dass Jasper zunächst bei mir bleibt und Mark wiederkommt, sobald er die Behörden erfolgreich an der Nase herumgeführt hat? Anschließend kann Jasper nach Hause gehen.«
»Das wäre meiner Meinung nach die beste Option«, stimmte ihr der Musher zu – wohl wissend, wie wenig realistisch dieser Plan war. »Was hältst du von dieser Idee, Jasper?«
»Sie gefällt mir nicht besonders. Nur was sollen wir sonst tun? Also gut, so machen wir es.«
»Okay, dann erkläre ich euch, wie ihr ein Baumhaus baut, damit ihr einen sicheren Rückzugsort habt, während ihr die Gegend erforscht.«