Minutenlang stehe ich da und schaue Kilian hinterher, zucke zusammen, als er das Friedhofstor schwungvoll hinter sich zuknallt. So viel dazu, dass es auf Friedhöfen besonders ruhig ist. Selbst als er längst fort ist, bleibe ich, wo ich bin, und weiß nicht, was ich tun soll. Wäre ich doch einfach zum Einwohnermeldeamt gegangen!

Ich sauge tief die frische Luft ein, spüre, wie sie sich eisig auf meine Lungen legt und diese zu brennen beginnen. Meine Hände sind in der Kälte dieses Herbstnachmittags zu richtigen Eisklumpen erstarrt.

Ich beschließe, meine Suche auf dem Friedhof fortzusetzen, und bin so auf das Lesen der Namen auf den Grabsteinen fixiert, dass ich ihn beinahe übersehen hätte. Den Mann im dunklen Anzug, der ähnlich wie Kilian zuvor Kerzen auf mehreren Gräbern entzündet. Auch er kommt mir seltsam bekannt vor. Nicht vom Gesicht oder von seinem Aussehen her, sondern von der Art und Weise, wie er sich bewegt. Wenn ich mich genau darauf konzentriere, umgibt ihn eine Art Schimmern, das mir auch schon bei Kilian und dem Mädchen von der Party aufgefallen ist. Entweder ich werde jetzt tatsächlich verrückt, oder aber die drei sind irgendwie miteinander verbunden.

»Suchen Sie nach jemandem? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er macht eine ausladende Bewegung, die wohl den ganzen Friedhof einschließen soll. »Ich bin der Verwalter hier. Mein Name ist Gabriel Winter.«

Winter. Also lag ich tatsächlich richtig mit meiner Vermutung. Kilian trägt denselben Nachnamen. Die beiden sind miteinander verwandt. Auch wenn sie sich nicht besonders ähnlich sehen.

»Vielleicht«, sage ich zögerlich. Wie erklärt man, dass man nach seiner Großmutter sucht, die möglicherweise gar nicht tot ist? Ich meine, es ist schon ziemlich makaber, mit seiner Suche auf einem Friedhof anzufangen. Mittlerweile bin ich mir auch nicht mehr so sicher, warum ich es getan habe. Irgendetwas hat mich einfach hierhergezogen. Vielleicht waren es die schwarzen Schlieren, die vereinzelt wie große Ascheflocken durch die Luft wehen. Oder Kilian.

»Sie erinnern mich an jemanden. Sind Sie zufällig mit Sophie Hagen verwandt?« Herr Winter mustert

Ich nicke langsam. Woher weiß er das? Sehe ich ihr wirklich so ähnlich? Ich kann mich nicht mehr wirklich an sie erinnern, aber ich habe nicht einmal meiner Mutter besonders ähnlich gesehen. Ich komme eher nach meinem Vater, wie ich vor einem Jahr festgestellt habe.

»Liegt sie hier irgendwo?«, frage ich und schlucke.

Die Sekunden, bis er mir antwortet, scheinen qualvoll lang zu sein. Ich beiße mir in die Wange, wappne mich für das, was kommen mag, und bin überrascht, als Herr Winter lächelnd den Kopf schüttelt. Er lacht sogar, als wäre das ein Scherz gewesen.

»Nein, noch lange nicht. An Sophie Hagen beißt der Tod sich die Zähne aus«, sagt er und kann noch immer nicht aufhören zu lachen.

Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Sie ist noch am Leben. Das ist gut. Aber was meint er damit, dass sich der Tod an ihr die Zähne ausbeißt? Liegt sie im Koma? Ist sie dement und kann sich an nichts mehr erinnern?

Mein Herz beginnt zu rasen, treibt mir die Röte ins Gesicht und trägt die Angst bis in die letzte Faser meines Körpers. Ich kann sie nicht verlieren, nicht sie auch noch.

Herr Winter muss meine Sorge bemerkt haben, denn er kommt ein Stück auf mich zu, hebt die Hand,

»Keine Sorge. Es geht ihr gut. Sie lebt dort oben, im Altenheim direkt mit Blick auf den Friedhof. Es heißt, sie hätte explizit um eben dieses Zimmer gebeten, damit sie dem Tod ins Auge sehen kann«, sagt er und hört endlich auf zu lachen. Er deutet auf ein altes Gebäude, das sich direkt hinter dem Friedhof in die Höhe erhebt. Es ist größer, wesentlich größer als das Wohnheim und mindestens genauso alt. Auch dieses Haus ist umstellt von riesigen Bäumen, die bereits ihr Laub verloren haben und nun trostlos wirken. Genauso trostlos wie dieser Friedhof.

»Sie ist wirklich am Leben?« Ich kann es kaum glauben. Die ganze Zeit habe ich mich auf das Schlimmste vorbereitet, und jetzt ist praktisch der beste Fall eingetreten. Oma Sophie lebt noch. Ich habe noch eine Verwandte, ganz in meiner Nähe. Jemanden, der meine Mutter besser kennt als mein Vater. Mein Herz beruhigt sich allerdings kein bisschen. Ich spüre, wie meine kalten Hände zu schwitzen beginnen. So nah bin ich meiner Großmutter gewesen. Wer weiß, vielleicht sieht sie mich ja gerade mit Herrn Winter auf dem Friedhof reden. Ich stelle mir ihr Gesicht vor und frage mich, ob es noch runzeliger geworden ist.

»Wenn Sie möchten, begleite ich Sie zu ihr«, bietet Herr Winter an und legt mir nun doch eine Hand auf die Schulter. Bei seiner Berührung zucke ich zusammen, weil sie sich fast wie ein Stromschlag anfühlt.

»Nein danke. Ich glaube, ich muss das erst einmal verarbeiten«, sage ich und weiche sofort zurück.

Auch Herrn Winter ist diese Situation sichtlich unangenehm. Schnell macht er sich an einem verdorrten Strauch zu schaffen.

»Natürlich. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?« Seine Stimme klingt nicht mehr ganz so freundlich, eher gepresst, als müsste er sich beherrschen.

Ich schüttle schnell den Kopf und mache auf dem Absatz kehrt. So schnell ich kann, verlasse ich den Friedhof und erwische gerade noch so den Bus zurück nach Dunkelfelsen. Er ist fast leer, doch die wenigen Leute, die darin sitzen, sehen mir an, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Eine ältere Frau bietet mir sogar ein Stück Traubenzucker an.

Ich lehne dankend ab. Noch immer rast mein Herz in meiner Brust, und ich finde kaum Halt an den Stangen, als der Bus losfährt. Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert, kann mich gerade noch so festhalten und hangele mich die Sitzreihen entlang, bis ich endlich einen Platz gefunden habe.

Was für ein Tag! Was für eine seltsame Begegnung. Mein Aufenthalt in Dunkelfelsen wird immer mysteriöser.