Heute ist der erste Tag eines neuen Lebens. Ein Leben voller Glück und Freude. Ich bin so aufgeregt, dass ich es einfach nicht länger in meinem Zimmer aushalte. Keine fünf Minuten später liegt das Wohnheim unter den Weiden hinter mir, während vor mir uralte Bäume in den Himmel ragen und sich sanft im Wind wiegen. Die Natur ist der einzige Ort, an dem ich mich wirklich lebendig fühle. All das Leben um mich herum gibt mir Kraft, strahlt so viel Licht aus und vertreibt die Dunkelheit aus meinem Inneren. Diesmal hoffentlich für immer.
Unter dem dichten Dach aus herbstlich bunten Blättern ist es düster, fast so als wäre schon wieder Abend, obwohl es doch noch so früh am Morgen ist. Ich drehe mich zu dem Haus um, in dem ich die nächsten drei Jahre leben werde. Es sieht so ganz anders aus, als ich mir Studentenwohnheime immer vorgestellt hatte. Hochherrschaftlich und irgendwie ein bisschen trist mit all den Trauerweiden, die kaum Sonnenlicht durch die hohen Fenster lassen. Mit dem Türmchen und der groben Natursteinfassade wirkt das Wohnheim eher wie eine kleine Festung. Zu gerne würde ich in diesem Türmchen wohnen, aber das wäre dann zu viel des Guten. Zu unnormal. Aber eigentlich ist so gut wie nichts an der Akademie normal. Es gibt sie schon seit gefühlten Ewigkeiten. Die Vorlesungen und Seminare finden in den ältesten Gebäuden der kleinen Stadt statt. Manche sogar auf der Burg von Dunkelfelsen, deren einstiger Besitzer die Akademie vor so vielen Jahren ins Leben gerufen hat.
Und nun bin ich hier. Lenora Hagen. In Dunkelfelsen, meinem Geburtsort, den ich seit Jahren nicht mehr betreten habe. Wie ein schützender Mantel legt sich der Wald um die Stadt, als müsste er sie vor den Schrecken der Welt abschirmen. Die dunklen Schatten, die die Baumriesen auf die Felsen werfen, haben der Stadt einst zu ihrem Namen verholfen.
Bei meiner Ankunft war ich die Erste im Wohnheim, aber es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis meine Mitbewohnerinnen und die restlichen Studenten eintreffen. Laut Klingelschild werde ich mir unser Apartment mit einer A. Steinberg und einer M. Bachmann teilen. Hoffentlich sind die beiden einigermaßen nett. Wir müssen ja nicht die besten Freundinnen werden, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn wir nicht wenigstens miteinander auskämen. Zu Hause war es schon so unerträglich. Ein weiterer Grund, warum ich hierhergekommen bin.
Aber nein, die Zeit des Unglücklichseins ist vorbei. Wieder und wieder flüstere ich mein neustes Mantra vor mich hin. Denk nicht mehr daran. Denk nicht mehr daran. Denk nicht mehr daran.
Meine Schritte werden durch die vielen Tannennadeln und das Moos auf dem feuchten Waldboden gedämpft. Ich erinnere mich noch, dass ich früher mit meiner Großmutter oft in diesem Wald gewesen bin. Wir haben Pilze gesammelt, uns vor Trollen versteckt und in den vielen Höhlen nach Schätzen gesucht. Zumindest glaube ich das. Vielleicht habe ich mir das nur ausgedacht, um die anderen, die schlimmen Dinge aus meiner Vergangenheit zu vergessen. Ich weiß es nicht, aber auch aus diesem Grund bin ich hier: Ich will meine Großmutter finden. Auch wenn ich ihren Namen weder im Internet noch in diversen alten Telefonbüchern gefunden habe, glaube ich fest daran, dass sie hier noch irgendwo lebt. Und dass sie mir Antworten geben kann.
Mein Herz macht bei diesem Gedanken einen Satz. Mit einem Blick über die Schulter stelle ich fest, dass ich bereits ein ganzes Stück gelaufen bin. Die Mauern des Wohnheims sind längst hinter den Baumriesen verschwunden.
Statt weiter über meine Kindheit in Dunkelfelsen nachzudenken, konzentriere ich mich ganz aufs Laufen, auf die kühle Herbstluft und die Geräusche des Waldes. Auf all das Leben um mich herum. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich es in mir auf, schmecke es regelrecht auf meiner Zunge und rieche es im Duft der Tannennadeln und der feuchten Erde. Endlich bin ich zu Hause, und es fühlt sich verdammt gut an. Fast zu gut, um wahr zu sein …
Nach einer Weile führt der Weg an einer kleinen Lichtung vorbei. Eine riesige Baumwurzel ragt in die Höhe, schon halb überwuchert mit Brombeerranken und Farn. Ich stelle mich daneben, nur um zu sehen, wie groß dieser Baum einst gewesen ist. Die Wurzeln überragen mich um ein ganzes Stück, aber das hat nicht meine Aufmerksamkeit erregt. Nein, vielmehr sind es die vielen Äste und Triebe, die noch immer aus dem Stamm des Baums hervorsprießen. Der Riese scheint seinen Kampf gegen den Tod noch nicht aufgegeben zu haben. Fasziniert steige ich über die Brombeerranken und streiche über die Rinde des Baums. Sie ist rau, an manchen Stellen abgeplatzt, aber noch immer kann man das Leben darunter spüren. Irgendwie fühle ich mich zu dem gefallenen Riesen hingezogen. Er klammert sich mit aller Kraft ans Leben. Genau wie ich.
Ich lasse mich auf seinem Stamm nieder, fahre mit den Fingern über die Zweige, die mich wie eine Thronlehne umgeben, und schließe die Augen. In den Ästen über mir höre ich ein paar Vögel zwitschern.
Wie es hier wohl im Sommer ist, wenn die Baumkronen von unzähligen Vögeln bevölkert sind? Noch mehr Leben, noch mehr Kraft um mich herum.
In der Ferne kann ich ein Eichhörnchen schimpfen hören. Der Wind rauscht durch die Äste, lässt bunte Blätter auf den Waldboden regnen. Es ist vollkommen friedlich, keine Flugzeuge, kein Großstadtlärm. Nur Leben.
Eine tiefe innere Ruhe erfüllt mich, breitet sich ganz in mir aus und lässt mich zum ersten Mal seit Jahren richtig durchatmen. Es ist vorbei. Vor mir liegt ein Neuanfang. Eine Chance, die ich nutzen werde.
Ganz in der Nähe knackt ein Zweig, als wäre jemand darauf getreten. Ich schlage die Augen auf und erstarre. Ich bin nicht mehr allein.