»Komm schon, Alicia, oder willst du zu spät kommen?«, ruft Mara unserer Mitbewohnerin zu, die noch immer vor ihrem Spiegel steht und ein Outfit nach dem anderen ausprobiert.

»Was zieht man denn da an? Gibt es irgendwelche Kleidungsvorschriften für einen Besuch im Altenheim?«, kommt es von ihr, als sie frustriert irgendein Kleidungsstück in die nächste Ecke schleudert.

»Zieh einfach irgendwas an!«, entgegnet Mara, was Alicia mit einem genervten Aufschrei quittiert.

Ich presse meine Lippen fest aufeinander, versuche, nicht laut loszulachen

»Irgendwas! Das ist doch unerhört!«

Ich kann es nicht länger zurückhalten. Ich muss einfach lachen, weil die Situation wirklich zu komisch ist. Bei jeder Party weiß Alicia genau, was sie anziehen soll, aber ausgerechnet ein Besuch im Altenheim bereitet ihr Schwierigkeiten.

Meine Großmutter hat uns drei eingeladen, damit sie sich bei Mara bedanken und meine Mitbewohnerinnen kennenlernen kann. Nachdem ich meiner Großmutter vom Tod meiner Mutter erzählt habe, hat sie irgendwann angefangen, mich auszufragen. Das war uns beiden ein willkommener Themenwechsel.

»Wieso bist du wirklich nach Dunkelfelsen gekommen? Doch nicht nur wegen mir, oder?«, hat Sophie gefragt und damit eine ganze Lawine an Erzählungen losgetreten. Wenn ich über das Schreiben reden kann, fällt alles von mir ab. Dann bin ich wirklich frei und ich selbst. Und das muss Sophie gespürt haben. Sie hat gelächelt, als ich ihr von dem Wohnheim und meinem Stipendium berichtet habe.

Als ich ihr erzählt habe, dass ich mir mein Apartment mit zwei anderen Frauen teile, wollte Sophie die beiden unbedingt kennenlernen. Also stehen Mara und ich nun schon seit etwa einer Stunde im Wohnzimmer herum, während Alicia noch immer nicht angezogen ist. Viel Zeit haben wir nicht mehr, wenn wir nicht zu spät kommen wollen. Und bei einem bin ich mir sicher: Sophie mag es nicht, wenn man sie warten lässt. Sie ist ja schon unruhig geworden, als man uns den Kaffee knapp zehn Minuten zu spät gebracht hat. Und dann war der Kuchen auch noch trocken. Es ist komisch gewesen, Sophie mit den Angestellten des Altenheims zanken zu sehen, weil meine Mutter nie das Wort gegen jemanden erhoben hat. Vor allem nicht gegen meinen Stiefvater.

 

»Jetzt komm endlich, Alicia!« Langsam werde auch ich ungeduldig. Mara läuft die ganze Zeit neben mir auf und ab, weil sie gespannt auf das kritische Auge

»Okay, aber wenn die mich blöd angucken, seid ihr schuld«, gibt sich Alicia geschlagen und kommt endlich aus ihrem Zimmer. Sie trägt ein viel zu weit ausgeschnittenes Kleid, das für dieses Wetter ganz bestimmt nicht geeignet ist und offenkundig für den Sommer gedacht ist.

Ihre Entscheidung, nicht mein Problem.

Wir nehmen den Bus. Mit Alicias hochhackigen Stiefeletten wären wir sonst Stunden unterwegs gewesen und hätten uns ganz sicher ihr Gejammere anhören müssen. Wieso hat sie überhaupt solche Schuhe, wenn sie kaum darin laufen kann?

»Wow, das sieht ja fast so aus wie unser Wohnheim. Nur wesentlich größer«, sagt Alicia, als wir das Altenheim schließlich erreichen. Mara nickt zustimmend und ist schon wieder im Begriff, auf einer ihrer Notizbuchseiten Skizzen anzufertigen. Noch nie habe ich jemanden gesehen, der so schnell so viele Details auf

Wir verbringen den Nachmittag bei Tee und Kuchen in Sophies Zimmer, das gefüllt ist mit allerlei Gemälden von ehemaligen Schülern. Auf dem Nachttisch, stelle ich fest, steht ein Bild von mir und meiner Mutter, wie wir zusammen in Sophies früherem Garten spielen. Gestern ist es mir nicht aufgefallen. Ich bin einfach zu nervös und abgelenkt gewesen, im Gegensatz zu heute. Nicht nur, weil die Mädels bei mir sind, fühle ich mich ruhiger, sondern auch, weil Sophie und ich da weitermachen, wo wir vor so vielen Jahren aufgehört haben. Außerdem ist Sophie so mit Mara und Alicia beschäftigt, dass ich mich ungestört umsehen kann. Auf der Kommode steht ein weiteres Bild. Es zeigt meine Mutter als junge Frau. Umrahmt wird es von kleinen Engeln, die ihre Flügel ausgebreitet haben. Ich kann es nicht lange ansehen, ohne dass mir Tränen in die Augen steigen. Selbst nach über einem Jahr schmerzt mich dieser Verlust noch immer. Ich drehe mich weg, damit die anderen es nicht merken, doch meiner Großmutter kann ich nichts vormachen. Während sie sich mit Mara über ihr Bild unterhält, greift sie über den Tisch nach meiner Hand und drückt sie, so wie sie es gestern getan hat, als ich ihr vom Tod ihrer Tochter erzählt habe. Sophies aufmunterndes Lächeln ist alles, was ich brauche, um die Trauer

»Und wie sieht es mit den jungen Herren aus in diesen Jahren? Ist die Auswahl noch immer so gut wie damals?«

Nicht auch noch Sophie! Ich kann es wirklich nicht glauben, dass neben Alicia und Helena nun auch meine Großmutter dieses Thema anschneidet. Gibt es nichts Wichtigeres als das?

»Oh, glauben Sie mir, die Jungs hier sind schon ziemliche Schnittchen«, sagt Alicia und grinst breit. Ich denke an unseren wohnheimeigenen Bad Boy, René, und an Kilian. Ja, Schnittchen sind sie wahrscheinlich schon, aber trotzdem …

Das Schreiben ist mir wichtiger. Das ist es, was mich die ganze Zeit über hat durchhalten lassen. Worte, nicht Typen.

Auch wenn Sophie noch immer fröhlich ist und sich ausgelassen mit Alicia über die jungen Herren unterhält, werde ich das Gefühl nicht los, dass es ihr sehr viel schlechter geht, als es den Anschein macht. Warum ist sie mit ihren fünfundsechzig Jahren schon ins Altenheim gezogen? Ob es einfach daran gelegen hat, dass sie sich in ihrem großen Haus einsam gefühlt hat – ohne mich und meine Mutter, die sie besucht haben, oder ob ihr gesundheitlicher Zustand das Alleinsein unmöglich macht? Durch den plötzlichen Tod meiner Mutter habe ich gelernt, dass es jeden Augenblick vorbei sein kann. Ich hoffe, dass ich noch

In diesem Moment beschließe ich, die Zeit mit Sophie einfach zu genießen und nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt, aber ich nehme mir vor, sie so oft wie möglich zu besuchen. Neben Alicia und Mara ist meine Großmutter die einzige Vertraute vor Ort, die mir im Leben noch bleibt. Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell wir wieder miteinander vertraut geworden sind, als lägen nur ein paar Tage zwischen unserer letzten Begegnung und dem heutigen Tag, statt ein ganzes Jahrzehnt.