Aus den Schatten der Bäume tritt er auf die Lichtung, den Kopf gesenkt, ohne mich zu bemerken. Uns trennen noch mindestens zehn Meter, als er den Kopf hebt und sich sein Blick verfinstert, sich regelrecht in meinen bohrt. Hinter ihm kann ich keinen Pfad erkennen, es sieht aus, als wäre er einfach so querfeldein durch den Wald gelaufen. Ob er sich in den Tiefen dieses Waldes verlaufen hat? Als Kind kam es mir immer so vor, als wäre er endlos. Als bestünde die Welt aus nichts anderem. Für mich gab es nur Dunkelfelsen und den Wald außen herum. Nichts als Bäume und Felsen, Höhlen und Leben. Und dann haben wir den Schutz des Waldes verlassen …
Der Typ bleibt stehen. Seine Augen sind dunkel, voller Argwohn, die Haare rabenschwarz. Ich schlucke und zwinge mich, ruhig zu bleiben. Ich kenne diesen Blick, habe ihn schon so oft gesehen. Nur waren es sonst blaue Augen, stechend, kalt wie Eis und voller Hass.
Denk nicht mehr daran.
Meine Finger krallen sich um die Äste, die aus dem sterbenden Baum sprießen. Ich bleibe, wo ich bin, doch das scheint den Fremden nur noch wütender zu machen. Selbst aus der Entfernung sehe ich, wie seine Kiefer mahlen. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen, als hätte er zu wenig Schlaf bekommen. Alles an ihm wirkt düster und bedrohlich. In meiner Phantasie sehe ich ihn auf mich zustürzen, ein Messer in der Hand, das sich brutal in meine Brust bohrt. Wieder schlägt mein Herz schneller. Diesmal vor Angst.
Mit einem Mal ist das Gefühl der Freiheit verschwunden. Mein Atem stockt.
Der Typ macht ein paar Schritte auf mich zu, wütende Schritte. »Verschwinde von hier.«
Ich zucke zusammen. Seine Stimme gleicht einem Knurren, noch bedrohlicher als sein Blick. Absolut gefährlich.
Denk nicht mehr daran. Für einen Moment trägt mein Gegenüber ein anderes Gesicht. Kalte blaue Augen, graues Haar. Denk nicht mehr daran.
Die Erinnerung verfliegt. Vor mir steht wieder der Fremde, während in mir all die Dinge hochkommen, die ich so lange unterdrückt habe.
»Nein«, entgegne ich und erschrecke selbst beim Klang dieses einen Wortes. Wo kommt meine Entschlossenheit her?
Auch er scheint erstaunt über meinen Widerstand und überwindet eine Brombeerranke, die sich hartnäckig an den Stoff seiner dunklen Jeans klammert.
»Ver-schwin-de!« Er baut sich vor mir auf, steht wie einer der Baumriesen vor mir. Ich bin tatsächlich drauf und dran zu tun, was er sagt. So wie immer. Wenn es gefährlich wird, mache ich dicht, ziehe mich zurück und renne davon.
»Nicht heute«, murmele ich zu mir selbst und denke an meinen Entschluss, den ich vor knapp einem Jahr gefasst habe: Ich werde mich von niemandem mehr herumkommandieren lassen. Erst recht nicht von einem dahergelaufenen Fremden mit Schlafstörungen.
»Nein.«
Seine Augen verengen sich zu Schlitzen. Auch das kenne ich. Sicher fehlt nicht mehr viel, bis er endgültig die Fassung verliert. Aber warum? Weil ich früh am Morgen auf einem Baum im Wald sitze?
»Was ist dein Problem?« Es dauert einen Moment, bis ich merke, dass ich das laut ausgesprochen habe.
Er steigt über einen Baumstumpf, verringert den Abstand zwischen uns noch mehr, bis ihn knapp eine Armeslänge von mir trennt. Jetzt werde ich unruhig, kann schon vor mir sehen, wie er das letzte bisschen zwischen uns überwindet und zuschlägt. Vergangenheit mischt sich mit Gegenwart. Ich beiße mir in die Wange, um nicht in Tränen auszubrechen. Denk nicht mehr daran.
»Was mein Problem ist?« Er verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich, die Augen noch immer zusammengekniffen.
»Hast du was auf den Ohren?«, entgegne ich und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. Solange er die Arme verschränkt hält, kann er mir nichts tun, von einer spontanen Kopfnuss mal abgesehen.
Ganz ruhig.
»Wir sind also vorlaut, hm? Was habe ich anderes erwartet?« Er schüttelt den Kopf, tritt einen Schritt zurück und sieht sich um. Er wird doch nicht etwa …?
»Ich sage es ein letztes Mal: Verschwinde, Mädchen. Das hier ist mein Platz.«
Ich schnaube belustigt auf. Ich kann gar nicht anders. Sein Platz? »Ist das dein Ernst?«
Ich lasse mich vom Baumstamm gleiten. Der Typ ist mindestens einen Kopf größer als ich, wenn nicht sogar zwei, aber das ist mir egal. Ich muss mich nicht mehr zurücknehmen, muss niemanden mehr beschützen. Ich ignoriere die Stimme in meinem Kopf, die mich anschreit, mich sofort umzudrehen und wegzulaufen. Das bin nicht mehr ich. Nie mehr wieder. Ab heute ist alles anders. Ich bin anders.
»Dieser Baum gehört höchstens demjenigen, der dieses Waldstück besitzt. Und da es hier überall Wanderwege gibt, glaube ich nicht, dass der Besitzer sich daran stört, wenn man sich hier aufhält.«
»Du hast diesen Ort entweiht. Wo du hingehst, kann nur Tod folgen«, entgegnet er.
»Was?«, hauche ich und spüre, wie sich die Tränen nun endlich ihren Weg nach draußen bahnen, wie sie mir über die Wangen rinnen, wie flüssiges Eis in der kalten Herbstluft.
»Du hast mich schon richtig verstanden. Und jetzt verschwinde endlich.« Sein Atem trifft warm auf meine Haut, so dicht steht er vor mir. Ich kann mich nicht bewegen. In seinen Augen liegt so viel mehr als bloß Hass. Sein Blick wandert von meinem Gesicht zu meinem Herzen. »So eine Schande«, murmelt er ganz leise, so dass ich ihn kaum verstehen kann.
Diese Worte habe ich so oft gehört. Schande, Verschwendung, Bürde.
Denk nicht mehr daran. Denk nicht mehr daran. Denk nicht mehr daran.
Und doch kann ich mit Gewissheit sagen, dass dieser Fremde, dem ich vor einer Minute zum ersten Mal begegnet bin, die Wahrheit sagt. Er hat recht. Tod und Unglück verfolgen mich, seit ich denken kann. Er braucht seinen Befehl nicht noch einmal zu wiederholen. Ich drehe mich um und renne, während Tränen meinen Blick verschleiern und Dornenranken und Äste an meinen Kleidern reißen. Und ich Idiotin dachte, dass ich all das hinter mir gelassen habe.