Nachdem ich mir auf dem Klo dreimal die Hände gewaschen und mindestens fünfmal die Haare neu zusammengebunden habe, kehre ich zu unserem Platz zurück. Dabei lasse ich mir sehr viel Zeit, lese all die Tafeln, die der Café-Besitzer angebracht hat, bestelle mir selbst eine Tasse Kaffee und tue so, als würde ich mir auch noch ein Stück Kuchen aussuchen, nur um es dann doch zu lassen. Mir ist ohnehin viel zu schlecht, um etwas essen zu können.
Als ich es schließlich nicht mehr länger hinauszögern kann, kehre ich mit meiner Kaffeetasse in der Hand zu Kilian zurück. Er ist erstaunlicherweise noch immer an seinem Tisch, und doch hat sich etwas verändert. Neben seiner halb leeren Kaffeetasse liegt nun aufgeschlagen ein Notizbuch, dessen Seiten dicht mit schwarzer Tinte beschrieben sind.
»Du hattest deine Chance. Jetzt bin ich dran«, sagt er, ohne aufzublicken. Seine Körperhaltung ist abweisend, seine Füße von mir abgewandt, er schaut mich nicht einmal mehr an. Seine Arme sind verschränkt, der Kiefer angespannt. Kurz: Er hat genauso wenig Lust, hier zu sein. Weniger noch als ich, wie es scheint.
Langsam lasse ich mich wieder auf meinen Stuhl nieder, achte darauf, keinen Kaffee zu verschütten, und bereite mich innerlich auf seine Fragen vor. Unbehagen macht sich in mir breit, frisst sich in mein Herz. Was soll ich ihm bloß antworten, wenn er mich nach meiner Familie fragt? Oder nach meiner Vergangenheit? Bisher habe ich immer vermieden, darüber zu sprechen, selbst kurz nachdem ich bei meinem Vater angekommen war. Ich will nicht wieder alte Geister wecken. Ich will nicht darüber reden. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Kilian es genau darauf abgesehen hat, als wüsste er über die Dunkelheit Bescheid, die mein Leben überschattet. Ich traue ihm zu, dass er unsere Aufgabe ausnutzt, um mehr zu erfahren, mich damit zu quälen. Ob er sich deswegen immer so merkwürdig in meiner Gegenwart verhält?
»Hat es irgendwelche gewaltsamen Todesfälle in deinem Leben gegeben?«
Ich erstarre. Ist das sein Ernst? Gewaltsame Todesfälle?
»Geht’s noch?«, platzt es aus mir heraus. Wie kann man nur so taktlos sein? Und was soll das überhaupt bedeuten?
»Nein, es geht nicht, aber es muss sein. Also, gewaltsame Todesfälle?«, entgegnet er mit einer Stimme, die mir deutlich macht, dass er nicht aufhören wird, danach zu fragen, bis ich ihm eine Antwort geliefert habe.
Ich stoße langsam den Atem aus und kämpfe gegen die lähmende Traurigkeit an, die mich in diesem Augenblick befällt.
»Der Tod meiner Mutter«, sage ich schlicht und verschränke die Arme vor der Brust, damit er nicht sieht, wie sehr meine Hände zittern. Vor meinen Augen sehe ich wieder, wie meine Mutter stürzt, wie all das Blut sich um sie ausbreitet und das Leben aus ihrem Blick weicht. Tränen sammeln sich in meinen Augen, doch halte ich sie zurück.
Nicht heulen, nicht jetzt. Nicht vor ihm.
Mir wird schlecht, plötzlich bereue ich es, so viel Kaffee getrunken zu haben. Mein Magen fühlt sich an, als hätte jemand hundert Dolche hineingestoßen. Ich bin drauf und dran, erneut auf die Toilette zu rennen oder besser gleich zurück ins Wohnheim, doch stellt Kilian bereits seine nächste Frage: »Gibt es Fälle von psychischen Störungen in deiner Familie? Oder häusliche Gewalt?«
Ich schlucke. Was sind das bitte für Fragen? Mein Herz beginnt zu rasen. Immer schneller und schneller.
Was weiß er?
»Hast du schon mal Drogen genommen, oder kennst du jemanden, der Drogen genommen hat? Welche Verbrechen hast du begangen?«
Was? Was soll das? Das hört sich alles so an, als wüsste er weit mehr, als er sollte.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, drückt mir die Luft ab.
»Was soll die Scheiße? Kannst du mir nicht einfach normale Fragen stellen, so wie ich vorhin?«
»Für mich sind das normale Fragen, solche Ereignisse wirken sich schließlich auf die emotionale Verfassung aus, oder nicht?«
»Aber was hat das denn jetzt mit Drogen oder Verbrechen zu tun? Das hört sich ja so an, als würdest du glauben, dass ich aus einem kriminellen Umfeld komme oder bisher ein Scheißleben hatte. Du kennst mich doch gar nicht!«, stoße ich entsetzt hervor, doch ist Kilian davon wenig beeindruckt.
»Habe ich da so unrecht? Außerdem nehme ich grundsätzlich das Schlimmste von den Menschen an, ganz gleich, was sie durchgemacht haben. Das vermindert die Chance, enttäuscht zu werden«, entgegnet er schlicht und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Es scheint Kilian zu gefallen, mich zu quälen.
Es dauert etwas, bis ich begreife, dass das ein interessantes Detail über Kilian ist. Es rechtfertigt zwar nicht, wie er mich behandelt, aber immerhin habe ich jetzt eine Information, die ich in meinen Text einbauen kann. Etwas mehr Substanz. Neben all dem Hass und der Angst, die im Moment durch meine Adern rauschen, kann das nur gut sein. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, sehe bildlich vor mir, wie ich später an meinem Laptop sitze und den ersten Entwurf schreibe. Es hilft mir, meine Gefühle besser unter Kontrolle zu bekommen, die Vergangenheit wegzusperren. Ganz werde ich sie aber nicht los, und Kilian hört nicht auf mit seinen Fragen.
»Ich wette, du hattest eine schreckliche Kindheit. Lass mich raten: ein Stiefvater, der dich emotional runtergemacht hat? Der vielleicht sogar deine Mutter geschlagen hat? Oder dich?«
Ich zwinge mich dazu, möglichst ausdruckslos auszusehen. Innerlich sieht das aber ganz anders aus. Wut rauscht durch meine Adern und treibt mir die Röte in die Wangen. Ich kann es spüren, spüre wie sie brennen, während mein Herz von tiefster Kälte erfasst ist. Kilian stellt Fragen, als würde er meine gesamte Lebensgeschichte kennen, als wäre er von Anfang an dabei gewesen. Ich kann es einfach nicht glauben. Wieso weiß er so viel über mich? Oder verrate ich durch meine Reaktion einfach so viel?
Die Traurigkeit, die mit den Erinnerungen, aufgeweckt durch Kilians Fragen, zu mir zurückkehrt, frisst sich langsam tiefer in mich hinein, bis sie meine Seele erreicht. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus.
»Ich gehe jetzt. So sollte das nicht ablaufen«, sage ich mit so brüchiger Stimme, dass ich Angst habe, im nächsten Moment tatsächlich vor ihm in Tränen auszubrechen. Diese Genugtuung will ich ihm allerdings nicht geben.
Kilian starrt mich ungerührt an. Er zuckt bloß mit den Schultern und wirkt ziemlich gelassen, auch wenn er noch immer ein wütendes Funkeln in seinem Blick trägt.
»Du wolltest doch unbedingt, dass wir das machen.« Die Gehässigkeit in seiner Stimme lässt mich nun endgültig die Beherrschung verlieren. Ich springe auf und stürme aus dem Café, lasse ihn einfach stehen. Ich kann seinen Blick nicht länger ertragen, seine endlosen fiesen Fragen. Ich kann ihn nicht mehr ertragen, seine Nähe.
Ich muss hier weg.